Engelhart Ratgeber. Jakob Wassermann
gekränktes und sauertöpfisches Beiseitestehen, das ganz grundlos war, wodurch er aber doch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken wähnte. Den tiefsten Eindruck machte Sophie Hellmut auf ihn. Sie war so schwermütig wie eine Nacht, die von Stürmen in der Ferne zittert und doch ihre Wolken ruhig vorübergleiten läßt, weil sie hofft, daß es Morgen wird.
Nun war ein gewisser Rindsblatt in der Gesellschaft, ein rothaariger, häßlicher Knabe, der sich scharwenzelnd und prahlend um Sophie zu schaffen machte und gegen den Engelhart bösen Groll hegte. Einmal fing es an zu regnen, und alle flüchteten in eines der leeren Schulzimmer. Sie schrien und lärmten, bis die Dämmerung einbrach, da kam Rindsblatt dazu, sprang mit einem Satz auf den Katheder, ließ die Beine baumeln und spuckte mit einem Ausdruck zur Seite, als wolle er sämtliche Lehrer der Welt totspucken. Die Mädchen wurden von unten zum Nachtessen gerufen und schossen tobend hinaus, Engelhart folgte verdrossen, nur Rindsblatt blieb sitzen, um zu zeigen, daß er keinem Ruf gehorchen müsse, und begann laut zu singen; Engelhart kehrte noch einmal zur Tür zurück und hörte, wie die Stiefelhacken des Knaben hohl gegen das Brett schlugen, er sah den Schlüssel im Schloß stecken und drehte ihn um, so daß der Verhaßte gefangen war. Dann rannte er die Treppe hinab und setzte sich auf die Brunnenbank im Hof. Der Abend war schon eingebrochen, hohe Mauern blickten durch den rieselnden Regen. Lang blieb es still, endlich wurde oben ein Fenster aufgerissen, und Rindsblatt schrie. Niemand hörte, er wiederholte sein Geschrei, schon saß ihm die Furcht in der Kehle. Engelhart verspürte eine trotzige Genugtuung, den trockenen Prahler so bang zu wissen, gleichwohl schlich er zaghaft in den Flur, da sah er den Pedell mit der Lampe die Stiege hinaufschreiten, denn oben hämmerte es so fürchterlich an die Türe, daß das Treppenhaus dröhnte. Rindsblatt wußte, wer ihm den Streich gespielt, und gab es an. Doch ließ er sich Engelhart gegenüber nichts merken, er rächte sich nicht, obschon er stärker und älter war. Das erschreckte Engelhart, nie ging er ohne das unheimlichste Gefühl an dem Burschen vorüber, und er ahnte, daß in jener Brust ein gefährlich-giftiger Haß brüte und sich mit Vorsicht der rechten Stunde gewärtig hielt.
Es wurde Frühling. Am zweiten Sonntag im April während eines Spazierganges sagte Frau Ratgeber, es sei ihr heute besonders wohl zumut. Aber als sie nach Hause kamen, war Engelhart eine Zeitlang mit der Mutter allein im Zimmer, Herr Ratgeber war im Hohlwegsgarten zu einem Glas Bier eingekehrt, Gerda und Abel waren bei Tante Curius, Ketti ging mit dem kleinen Benjamin noch auf der Straße, da sah Frau Ratgeber den Knaben eigentümlich an und sagte, es verlange sie, ins Bett zu gehen und zu ruhen. Sie klagte über Schmerzen im Ohr.
Am nächsten Tag begannen die Osterferien. Festlich gestimmt trat Engelhart nach der Schule ins Schlafzimmer, wo Frau Agathe lag. Die grünen Rolläden waren herabgelassen, um die Sonnenstrahlen abzuhalten, auf dem Tischchen stand eine Arzneiflasche mit brauner Flüssigkeit. Die Mutter fragte ihn nach diesem und jenem und gab ihm Ermahnungen allgemeiner Art. Sie meinte, das beste im Leben sei Gehorsam und Sichfügen. Aber Engelhart suchte den Sinn ihrer Worte als etwas Unbehagliches beiseite zu schieben. Was war ihm Gehorsam? Ein Zwang, dem seine Schwäche unterlag. Er wollte frei sein, er hatte die eigensinnige Überzeugung von einer im Innern der Brust wirkenden Kraft, die sich frech über alle Vernunft der Wohlgesinnten hinwegsetzte. Er erwiderte nichts, und da Frau Agathe den Zustand des verstockten Schweigens bei ihm kannte und fürchtete, hieß sie ihn gehen. Als er die Schwelle des Zimmers überschritt, hörte er sie seufzen.
Viertes Kapitel
Eine weite Ebene, Wiesen und Felder, in spinnwebgrauem Nebel. Die Landstraße mit den hohen Pappeln kriecht weiß und leer in den Nebel hinaus, und so absonderlich wie der blühenden Frühlingslandschaft in dem herbstlichen Dunst ist es Engelhart zumut. Eine trügerisch-schwermütige Stille liegt über der Welt, der Bauer steht auf dem Acker und faltet bedenklich die Stirn. Ein liebliches Kindergesichtchen taucht aus dem Nebel, es ist Benjamin auf Kettis Arm. Man schickt ihn zu den Großeltern nach Altenberg, im Haus darf er nicht mehr bleiben, Frau Agathe muß Ruhe haben. Das kleine Bübchen jauchzt, da Engelhart possenhaft vor ihm hertanzt, es weiß nicht, daß es bald sterben wird. Drüben im Dorf wartet der Tod auf Benjamin, der Tod hat die Nebelschwaden aufs grüne Land gebreitet.
Auch Engelhart, Gerda und Abel mußten das elterliche Haus verlassen und wurden bei der Familie Dessauer in einem vornehmen Haus an der Bahnhofstraße untergebracht. Frau Dessauer war eine entfernte Verwandte der Mutter und lebte mit ihrem Sohn und seiner Frau in der Abgeschlossenheit reicher Leute. Dort mußte man leise gehen und leise sprechen, man mußte die Klinke in der Hand halten, bis die Türe geschlossen war, man mußte artig sein. Artig, artig! hallte es aus jedem Winkel.
Die Kinder wagten schließlich vor lauter Artigkeit nicht zu gestehen, wann sie Hunger hatten, Engelhart schlich bedrückt durch die langen Korridore und betrachtete stumm die hohen Türen. Er vernahm die Klänge eines Klaviers und lauschte. Eine Singstimme fiel ein. Das Lied zog ihn unwiderstehlich an, und er betrat das Zimmer. Die alte Frau saß am Instrument, die junge stand daneben und sang. Als sie den Knaben gewahrten, unterbrachen sie Spiel und Gesang, zwei Augenpaare blickten ihn dürr und strafend an. Man tritt nie in ein Zimmer, ohne anzuklopfen, hieß es, er solle wieder hinaus und sich melden. Er schaute starr zu Boden, dann lief er davon und auf die Straße. Die beiden Frauen kamen überein, daß der Knabe von einem bösartigen Geist erfüllt sei und daß man vor ihm auf der Hut sein müsse. Indessen lief Engelhart zum Bahndamm hinüber und spazierte an den schimmernden Geleisen entlang, die gleichsam eigenbeweglich in die Ferne liefen. Sehnsucht packte ihn, er spürte unter den Sohlen ein Zittern, als er sich auf das blanke Eisen stellte, dann warf er sich platt zur Erde und legte das Ohr auf die Schiene. Das Unglück brachte gerade in dieser Minute den jungen Dessauer des Wegs, er befahl Engelhart aufzustehen und führte ihn wortlos in das stille Haus zurück. Dort wurde ein Verhör angestellt, und der Beschluß war, daß Engelhart fortgeschafft wurde, da man für einen Knaben von so verbrecherischen Anlagen nicht die Verantwortung übernehmen wollte.
Er kam zu Frau Iduna Hopf. Wieder eine neue Welt; ein uraltes Haus am Helmplatz, im finstern Flur der Backofen eines Bäckers, morsche Treppen, die bei jedem Schritt jämmerlich ächzten, und oben die winzigen Stübchen. Im Wohnzimmer war ein Bücherschrank mit einer Glastüre, davor stand Engelhart, betrachtete die enggepreßten Reihen der Bücher und las die Titel auf den Rücken der Einbände. Iduna Hopf behauptete, es seien die tiefsinnigsten Werke der Welt, außer ihrem Immanuel würden alle Leute wahnsinnig, die darin läsen. Später einmal, wenn Engelhart zu Jahren und Verstand gekommen, werde sie trachten, ihm das Heiligtum zu erschließen.
Er vertraute diesem »Später« ohne weiteres. Er ahnte, was ihm im dunkeln Spiel der Zufälle und Schicksale für ein Los fallen könne, und daß er, an ödem Strande kauernd, sich begnügen würde, wenn ihm die Woge aus einem Schiffbruch ein armseliges Buch vor die Füße spülte. Nach Wissen und Belehrung stand ihm der Sinn nicht vor dem Bücherkasten, er verlangte nach anderm, nach Seelenspeise, Wärme des Herzens.
Tag um Tag verging, denn sie lassen sich nicht halten, die Sonne steigt und sinkt, die Sterne scheinen und verschwinden, der Tag des Schicksals ist seiner Sache sicher und kann warten. Auf einmal berührte Engelhart aus dem Ungefähr heraus ein Gedanke: es geschieht etwas zu Hause; da hielt es ihn nicht länger. Als er vor der elterlichen Wohnung läutete, gab die Glocke, die sonst schrill und frech gegellt, nur einen dünnen, gedämpften Ton. Der Klöppel war mit Leinwand umwickelt. Er war verwundert, als er im Wohnzimmer den Onkel Michael aus Wien, den einzigen Bruder der Mutter, und dessen Frau traf. Auch ein paar andre Leute waren zugegen. Kein Lächeln begrüßte ihn, alle schienen wie in die Betrachtung eines Loches vertieft. Herr Ratgeber lehnte regungslos im Sessel, der sonst so glänzende und martialische Schnurrbart hing kraftlos über die Lippen. Eine fremde Person kam aus dem Krankenzimmer und lispelte: »Ach, du bist da, Engelhart – deine Mutter hat heute nach dir verlangt.«
Er ging in das dunkle Zimmer, und allmählich lösten seine Blicke die weiße Gestalt mit der weißen Binde um die Stirn aus der Dämmerung. An das Lager tretend, hatte er ein zerflossenes, böses Gefühl, wie wenn der Sturmwind Sand in die Augen treibt. Er fand die Mutter so verändert, daß er furchtsam den Kopf senkte und mit seinen Fingern spielte. Frau Ratgeber streckte den Arm aus dem Bette und suchte seine Hand, und er, rätselhafte Verstocktheit, machte es ihr nicht leichter, sondern stellte sich, als sähe er es nicht.
Frau Agathe war den Tag vorher operiert worden. Der Professor hatte