Melusine: Ein Liebesroman. Jakob Wassermann
alles sympathisch an ihr. Man fühlte, daß es aufrichtig war, was sie sagte, und war ihr dankbar, daß sie dadurch das Innige der Stimmung vermehrte. Sie war klug.
„Das ist wahr,“ antwortete Falk. „Ihnen sieht man zum Beispiel an, was Sie wünschen.“
„Nun was – was?“ drängte sie ein wenig kokett und als sei sie überzeugt davon, daß niemand in ihr Innerstes einzudringen vermöge.
„Ich halte Sie für sehr ehrgeizig.“
„Das mag sein,“ bestätigte Helene geschmeichelt und blickte Falk dankbar an. „Ja, das bin ich auch,“ fuhr sie nach einer Pause eifrig fort. „Ich möchte etwas anderes als andere.“
„Und das wäre –?“
„Ich möchte vielleicht zu meinem Vater, – möchte ihm bei seinen Arbeiten behilflich sein, – Sie wissen ja, er ist Bildhauer, ich möchte vielleicht selbst – ach Gott, was möchte man denn nicht!“ brach sie ab, die Worte fast singend. Es schien, als bereue sie, so offen gewesen zu sein. Aber immer noch lag diese Dankbarkeit gegen Falk in ihrem Gesicht, als hätte er bewiesen, daß er ihre Natur richtig beurteile, und als hätte er durch diese harmlose Äußerung ungewöhnlichen Scharfsinn verraten. „So viel möchte man, so viel!“ wiederholte sie, halb sehnsüchtig, halb ironisch.
Sie möchte, aber sie thut nichts, dachte Mely. Den ganzen Tag faullenzt und träumt sie und ihre Mutter mag sich quälen und abarbeiten. Nicht einmal etwas nähen, nicht einmal bügeln mag sie. „Aber warum zürne ich ihr?“ fragte sie sich gleich darauf. „Vielleicht weil sie etwas Kluges gesagt hat?“ Ja, warum zürnte sie ihr?
„Können Sie auch über mich etwas sagen?“ fragte sie den jungen Mann, indem sie die Ellbogen auf die Kniee stützte und sich weit vorbeugte.
Wieder konnte Falk in ihre Augen blicken, die gespannt und furchtlos auf ihn gerichtet waren; und er vergaß darüber fast, zu antworten. Er wurde verwirrt und strich die schwarzen Haarsträhne aus der Stirn. Er stotterte: „Ich – ich halte Sie für sehr vertrauensselig und – nun ja – für sehr vertrauensselig,“ schloß er, als könne dies eine Wort alle andern in ihrer Charakteristik ersetzen.
Sie lächelte. „Der Herr Oberst sagt immer, ich sei schrecklich mißtrauisch,“ sagte sie leise.
„Der Herr Oberst, – wer ist das?“
„Das – das ist – mein Vormund.“ Ein dunkler Schatten fiel gleichsam über sie und machte sie unruhig.
„Sind Sie hier geboren?“ fragte Falk.
„Nein, ich bin Fränkin. Unterfranken ist meine Heimat. Dort in den Weinbergen, – in Sommerhausen …“
„Da sind wir ja Landsleute, auch ich bin Franke. Und Sie haben keine Eltern mehr? Auch keine Geschwister?“
Beides verneinte sie. Und es trieb sie, die neue Lüge wahrscheinlicher zu machen. „Ganz allein hab’ ich immer gespielt als Kind,“ erzählte sie. „Meine Eltern ließen mich gar nicht mit andern Kindern spielen. Immer vom Fenster aus hab’ ich zugesehn, wenn die andern so vergnügt waren, – wie eben Kinder vergnügt sind. Und ich durfte nicht mitthun. Es ist merkwürdig, – gerade jetzt träum’ ich so oft von der Kinderzeit, – aber ganz genau, wie es damals war. Ich seh’ meine Mutter noch mit ihrem schwarzen, dicken Haar und dem Scheitel in der Mitte. Meine Mutter hatte nämlich herrliches Haar, ganz blauschwarz. Wie oft hat sie mich für nichts und wieder nichts geprügelt. Sie war jähzornig, gerade wie ich. Und denken Sie, davon träum’ ich oft so deutlich, gerade von den Prügeln.“
„Träumen Sie denn nicht auch von schönen Dingen? Vom Heiraten zum Beispiel –? Nein? Und Sie denken auch nicht daran?“
„Jetzt nimmer, früher. Früher, als ich noch dreizehn Jahre alt war oder vierzehn, da dacht’ ich mir immer: Wie schön wird es sein, wenn ich einmal zwanzig alt bin. Da könnte ich dann heiraten. O, es wäre fein.“
Sie lachten.
„Haben Sie denn auch ein Ideal gehabt?“ fragte Falk. „Das gehört doch dazu. Ein Dichter oder ein Raubritter, wie?“
Mely ging auf den Scherz ein. „Ach nein,“ sagte sie melancholisch. „Ich hätte am liebsten einen Katecheten mögen.“
„O, wie komisch! Das ist wenigstens originell! Haben Sie immer so aparte Wünsche?“ – –
Es war spät geworden, und Mely erhob sich, um zu gehen. Sie drückte Falk und Helene die Hand, und zündete dann ihre Kerze an, die auf der Kommode stand, und die sie allabendlich dorthin stellte.
In ihrem Zimmer angelangt, war das erste, was sie that, dies: Sie nahm den Revolver, der auf dem Tisch lag, und versteckte ihn sorgfältig in ihrem Wäscheschrank. Dann setzte sie sich auf den Rand des Bettes, stützte die Arme rückwärts auf die Kissen und sah mit halbgeschlossenen Augen ins Licht. „Haben Sie große Schmerzen – ich kann sie lindern,“ sagte sie leise vor sich hin und klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. Jedes Wort, das an diesem Abend gefallen war, hätte sie wiederholen können. Warum bin ich denn nur so heiter? dachte sie. Warum ist mir so leicht? – –
Halb vier Uhr schlug es auf den Türmen, da lag sie noch mit offnen Augen und blickte in die Finsternis. Alle ihre Romane hatte sie schon durchlebt, den Millionenpalast und die Sklavenschar, und die abenteuerlichen Ritte, wobei sie vom Pferde fiel und von einem stolzen Grafen und seiner Mutter verpflegt wurde. Sie konnte keinen Schlaf finden. „Ich möchte einmal so recht von Herzen glücklich sein,“ flüsterte sie in ihr Kissen, und sie drückte einen Kuß auf das weiße Linnen. Das war das letzte, woran sie sich am andern Tag noch erinnern konnte.
VII
Aus dem Tagebuch Vidl Falks
Weshalb ich eigentlich ein Tagebuch führe, darüber habe ich mir schon oft den Kopf zerbrochen. Liest man später die Konterfeis von Stimmungen und Hoffnungen, diese scheinbar so zwanglosen, mit müder Eleganz hingeworfenen Aperçus, so liegt darin etwas so Lächerliches, wenigstens für mich. Eitelkeit, Eitelkeit spöttelt jede Zeile, eitle Selbstbespiegelung. Aber ich bin ja ein nutzloser Mensch. Alle sagen es, die mich kennen. So muß es doch wahr sein. Ich möchte doch wissen, welchen Eindruck ich auf andere mache, ob ich ihnen komisch erscheine, oder unbedeutend, oder dämonisch. Wer weiß, vielleicht gerade dämonisch. Das ist ein hübsches Wort. Man empfindet ordentlich Sehnsucht, es zu sein. Aber wie, wie wird man dämonisch, wie macht man das? – Ich muß doch eigentlich ein ganz hübscher Mensch sein. Der Spiegel beweist ja nichts, aber mein Schnurrbart gleicht vielen Schnurrbärten, welche für hübsch gelten. Meine Augen sind sehr geschmackvoll; ich bin zufrieden mit ihnen.
Ein Schwärmer bin ich schon. Ich habe zu nichts Lust, als zum Nichtsthun. Und wie anstrengend ist das bisweilen. Oft kommt mir der Gedanke, warum bin ich so allein? Es ist ja kindlich, darüber zu klagen, aber andere haben ein Vaterhaus, elterliche Sorge umgibt sie, sie wissen, daß jemand da ist, der sich um sie kümmert. Nichts dergleichen ward mir. Ich würde ja ganz gern allein bleiben, aber alles fängt an, mir so nüchtern zu werden. Ich habe häufig das Bedürfnis zu schlafen, tagelang, wochenlang, und ich begreife kaum, warum ich so eifrig mit aller Kraft dem Studium zugedrängt habe. Das Studium ist leer, und es ist die Wissenschaft von der Unwissenheit, besonders was die Medizin anbelangt. Auch beirrt mich das Fachmäßige, Doktrinäre, das Buchstabenrecht in der Wissenschaft. Ich möchte etwas, das mich aufregt, das mich zittern macht, das mich in Bangnis versetzt, kurz etwas, das ich nicht weiß und das ich nicht definiren kann.
Ich lese die letzte Eintragung und sage mir, daß dies für einen dreiundzwanzigjährigen Menschen sehr naiv ist. Zum wenigsten ist es ein Zeichen großer Schwachheit.
Wenn nur dieses Wirtshausleben nicht wäre! Das zerstört alles Gesunde und alle Befriedigung über die Arbeit. Aber den ganzen langen Tag und den langen Abend dazu allein im stillen Zimmer und die Gedanken und der Kopfschmerz und das ewige Regengeplätscher, und die Aussicht, daß es jahre-, jahre-, jahrelang so bleiben soll, das ist auch zerstörend. Freilich, ich bin jung und wir Jungen sollten darauf bedacht sein, weniger zu lamentiren und mehr zu arbeiten. Statt Freude darüber zu empfinden,