Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке. Эрих Мария Ремарк

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„Ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich…“ Seine Stimme war plötzlich sonderbar leise und fast unterwürfig, als wäre er ein Schüler, der schlecht gelernt hatte.

      Kern biss sich auf die Lippen. „Ich war in jeder Ihrer Vorlesungen…“, sagte er.

      „Ja, ja…“ Der Professor machte eine flatternde Geste. „Ich danke Ihnen, Herr… Herr…“

      „Kern. Aber es ist nicht wichtig.“

      „Doch, es ist wichtig, Herr Kern. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas vergeßlich in der letzten Zeit. Und haben Sie vielen Dank. Ich glaube, ich werde es versuchen, Herr Kern.“

* * *

      Das Hotel Bristol war ein baufälliger, kleiner Kasten, der von der Flüchtlingshilfe gemietet worden war. Kern bekam ein Bett in einem Zimmer angewiesen, in dem zwei andere Flüchtlinge wohnten. Er war nach dem Essen sehr müde geworden und legte sich gleich schlafen. Die beiden andern waren noch nicht da, und er hörte auch nicht, dass sie kamen.

      Mitten in der Nacht wachte er auf. Er hörte Schreie und sprang sofort empor. Ohne nachzudenken, griff er nach seinem Koffer und seinen Kleidern und rannte aus der Tür, den Korridor entlang.

      Draußen war alles still. Am Treppenabsatz blieb er stehen. Er stellte den Koffer ab und lauschte – dann strich er sich mit den Fäusten über das Gesicht. Wo war er? Was war los? Wo war die Polizei?

      Langsam kam ihm die Erinnerung. Er blickte an sich herunter und lächelte erleichtert und entspannt. Er war in Prag im Hotel Bristol, und er hatte für vierzehn Tage eine Aufenthaltserlaubnis. Es gab keinen Grund, so zu erschrecken. Sicher hatte er irgend etwas geträumt. Er kehrte um. Das darf nicht wieder passieren, dachte er. Es fehlt noch, dass ich nervös werde. Dann ist alles aus.

      Er öffnete die Tür und tastete im Dunkeln nach seinem Bett. Es war das rechte an der Wand. Er stellte seinen Koffer leise ab und hängte seine Kleider unten über den Bettpfosten. Dann tastete er nach der Decke. Plötzlich spürte er, gerade als er sich hinlegen wollte, unter seiner Hand etwas Weiches, warm Atmendes und schoss bolzengerade hoch.

      „Wer ist da?“ fragte eine Mädchenstimme schlaftrunken.

      Kern hielt den Atem an. Er hatte die Zimmer verwechselt.

      „Ist jemand da?“ fragte die Stimme noch einmal.

      Kern blieb stocksteif stehen. Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

      Nach einiger Zeit hörte er einen Seufzer und dann, wie jemand sich umdrehte. Er wartete noch ein paar Minuten. Als alles still blieb und nur noch das tiefe Atmen im Dunkel zu hören war, griff er lautlos nach seinen Sachen und schlich vorsichtig aus dem Zimmer.

      Auf dem Korridor stand jetzt ein Mann im Hemd. Er stand vor dem Zimmer, in dem Kern wohnte, und starrte ihn durch eine Brille an. Er beobachtete, wie er mit seinen Sachen aus dem Zimmer nebenan kam. Kern war zu verwirrt, um etwas zu erklären. Er ging wortlos durch die offene Tür, an dem Mann vorbei, der ihm keinen Platz machte, packte seine Sachen weg und legte sich zu Bett. Vorher strich er zur Vorsicht über die Decke. Es lag niemand darunter.

      Der andere Mann stand noch eine Weile im Türausschnitt. Seine Brille blinkte im schwachen Licht des Korridors. Dann kam er herein und machte die Tür mit einem trockenen Knack zu.

      Im selben Augenblick fing das Schreien wieder an. Kern verstand es jetzt. „Nicht schlagen! Nicht schlagen! Um Christi willen, nicht schlagen! Bitte, bitte! Oh…“

      Das Schreien ging in ein entsetzliches Gurgeln über und erstarb. Kern richtete sich auf. „Was ist denn das?“ fragte er in das Dunkel hinein.

      Ein Schalter klickte, und es wurde hell. Der Mann mit der Brille stand auf und ging zum dritten Bett. Darin lag ein keuchender, schweißüberströmter Mensch mit irren Augen. Der andere nahm ein Glas, füllte es mit Wasser und hielt es dem im Bett an den Mund. „Trinken Sie das mal. Sie haben geträumt. Sie sind in Sicherheit.“

      Der Mann trank gierig. Der Adamsapfel an seinem dünnen Halse stieg auf und ab. Dann ließ er sich erschöpft zurückfallen und schloss tief atmend die Augen.

      „Was ist das?“ fragte Kern noch einmal.

      Der Mann mit der Brille kam an sein Bett. „Was das ist? Jemand, der träumt. Laut träumt. Vor ein paar Wochen aus dem Konzentrationslager entlassen. Nerven, verstehen Sie?“

      „Ja“, sagte Kern.

      „Wohnen Sie hier?“ fragte der Mann mit der Brille.

      Kern nickte. „Ich scheine auch etwas nervös zu sein. Vorhin, als er schrie, bin ich hinausgelaufen. Ich dachte, es wäre Polizei im Hause. Da habe ich hinterher die Zimmer verwechselt.“

      „Ach so…“

      „Entschuldigen Sie, bitte“, sagte der dritte Mann. „Ich werde jetzt wach bleiben. Entschuldigen Sie.“

      „Ach, Unsinn!“ Der mit der Brille ging zu seinem Bett zurück. „Das bisschen Träumen stört uns gar nicht. Nicht wahr, junger Mann?“

      „Gar nicht“, wiederholte Kern.

      Der Lichtschalter knackte, und es wurde wieder dunkel. Kern streckte sich aus. Er konnte lange nicht einschlafen. Sonderbar war das gewesen, vorhin, in dem Zimmer nebenan. Die weiche Brust unter dem dünnen Leinen. Er fühlte es immer noch… als wäre seine Hand anders geworden dadurch.

      Später hörte er, wie der Mann, der geschrien hatte, aufstand und sich ans Fenster setzte. Sein gebeugter Kopf hob sich schwarz vor dem heraufdämmernden Grau des Morgens ab – wie das finstere Monument eines Sklaven. Kern betrachtete ihn eine Zeitlang. Dann überfiel ihn der Schlaf.

      Josef Steiner kam leicht über die Grenze zurück. Er kannte sie gut und war als alter Soldat das Patrouillegehen gewohnt. Er war Kompanieführer gewesen und hatte bereits 1915 für eine schwierige Patrouille, von der er einen Gefangenen mitgebracht hatte, das Eiserne Kreuz erhalten.

      Nach einer Stunde war er außer Gefahr. Er ging zum Bahnhof. Es waren nicht viele Leute im Wagen.

      Der Schaffner sah ihn an. „Schon zurück?“

      „Eine Fahrkarte nach Wien, einfach“, erwiderte Steiner.

      „Ging ja rasch“, sagte der Schaffner.

      Steiner blickte auf. „Ich kenne das“, fuhr der Schaffner fort. „Jeden Tag kommen ein paar solcher Transporte – da kennt man die Beamten bald. Es ist ein Kreuz. Sie sind in diesem Waggon herausgefahren, das wissen Sie wohl nicht mehr?“

      „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“

      Der Schaffner lachte. „Sie werden es schon wissen. Stellen Sie sich hinten auf die Plattform. Wenn ein Kontrolleur kommt, springen Sie ab. Wahrscheinlich kommt keiner um diese Zeit. Sie sparen so die Fahrkarte.“

      „Schön.“

      Steiner stand auf und ging nach hinten. Er spürte den Wind und sah die Lichter der kleinen Weindörfer vorüberfliegen. Er atmete tief und genoss den stärksten Rausch, den es gibt: den Rausch der Freiheit. Er fühlte das Blut in seinen Adern und die warme Kraft seiner Muskeln. Er lebte. Er war nicht gefangen; er lebte, er war entkommen.

      „Nimm eine Zigarette, Bruder“, sagte er zu dem Schaffner, der nach hinten gekommen war.

      „Meinetwegen. Ich darf sie nur jetzt nicht rauchen. Dienst.“

      „Aber ich darf meine jetzt rauchen?“

      „Ja.“ Der Schaffner lachte gutmütig. „Das hast du mir voraus.“

      „Ja“, sagte Steiner und zog den würzigen Rauch in die Lungen ein. „Das habe ich dir voraus.“

* * *

      Er ging zu der Pension, in der die Polizei ihn erwischt hatte. Die Wirtin saß noch im Büro. Sie fuhr zusammen, als sie Steiner erblickte. „Sie können hier nicht wohnen“, sagte sie rasch.

      „Doch!“ Steiner legte den Rucksack ab.

      „Herr Steiner, es ist unmöglich! Die Polizei kann jeden Tag wiederkommen. Dann schließen sie mir die Pension!“

      „Luischen“,


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