Auf Gottes Wegen. Bjørnstjerne Bjørnson

Auf Gottes Wegen - Bjørnstjerne Bjørnson


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Wege!" flüsterte der andere geheimnisvoll. – "Du mußt schon entschuldigen – aber ich glaub' es nicht!" Die Augen schielten, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. – "Wart' nur erst und hör' mich an! Du weißt doch, im Winter ist sie auf dem Glatteis hingefallen und hat sich bösen Schaden getan?" Jawohl, das wußte er. – "Seitdem liegt sie im Bett, und kein Mensch hat Lust, ihr zu helfen. Sie ist doch so bösartig und kratzbürstig. Gegen mich war sie anfangs widerwärtig – kaum zum Aushalten war's. Aber ich achtete einfach nicht darauf, und jetzt heißt es nur noch 'mein Gottesengelchen', 'mein Lämmeken', 'mein Goldsöhnchen', 'mein gutes Kind'. Denn ich habe sie umgebettet und Kleider und Essen und Bettzeug für sie gesammelt, und die ärgsten Dinge für sie getan, siehst Du. Und doch hat sie eines Abends Miene gemacht, mich zu schlagen, wie ich ihr aufhelfen wollte, und ihr krankes Bein ihr dabei wehtat. Sie schrie wie besessen und hob ihren Stock gegen mich; aber dann nahm sie sich zusammen und fluchte nur ganz fürchterlich und warf mir Schimpfworte an den Kopf. Jetzt ist sie wieder ganz sanft, und neulich hab' ich's sogar gewagt, ihr aus der Bibel vorzulesen." – "Der Marte von der Werft?" – "Die Bergpredigt. Und daß Du's nur weißt – sie hat geweint." – "Geweint? Hat sie's denn verstanden?" – "Nee, sie hat so geweint, daß sie nicht viel davon gehört hat, glaub' ich. Aber die Bibel war es doch, siehst Du. Sie fing schon an zu weinen, als ich das Buch nur herauszog."

      Die Knaben sahen einander an; vom Hof her klangen Hammerschläge und in der Ferne eine Dampfpfeife; dann von der Gasse gegenüber das leise Weinen eines Kindes. – "Hat sie was gesagt?" – "Sie sagte, sie sei viel zu schlecht, um so was anzuhören, hat sie gesagt. Und ich erklärte ihr, daß dem lieben Gott gerade die Geringsten die liebsten wären. Sie tat aber, als höre sie das nicht, sondern sagte nur, ich solle doch einmal beim Wäscher-Lars nachsehen, ob er daheim sei." – "Beim Wäscher-Lars?" schrie Edvard, und Ole mußte wieder "Psst!" sagen; der Wäscher-Lars war nämlich ihr guter Freund. – "Du kannst mir's glauben, der ist die ganze Zeit über furchtbar nett gewesen. Im Wäscher-Lars steckt viel Gutes, das sagen alle. Jeden Abend kommt er und hilft ihr. Heut Abend ist er früher gekommen als sonst, darum konnt' ich gehen; sonst bleib' ich viel länger." – "Hast Du ihr noch öfter vorgelesen?" – "Ja, heute wieder. Gleich fing sie wieder zu weinen an; aber heute, glaub' ich, hat sie was gehört. Denn wie ich ihr das vom verlorenen Sohn vorlas, sagte sie: ich bin ja woll eins von seinen Schweinen!" – Beide Jungens lachten. "Da sagt' ich denn, das glaubte ich doch nicht. Dann wollte ich versuchen, zu beten. Ach, das nützt ja doch alles nichts! sagte sie. Aber als ich dann das Vaterunser anfing, wurde sie ganz verdreht, weißt Du, gerad' als ob sie sich fürchte, und sie richtete sich auf und schrie, davon wolle sie nichts wissen – unter keinen Umständen! Und dann legte sie sich wieder hin und heulte." – "Es wurde also nichts?" – "Nein, und dann kam der Wäscher-Lars, und sie sagte, ich solle gehen. Aber siehst Du, wie es gewirkt hat? Glaubst Du nicht, daß ich auf dem besten Wege bin?" – Edvard war nicht so ganz sicher.

      Seine Bewunderung hatte augenscheinlich einen kleinen Knax bekommen.

      Bald darauf trennten sie sich.

      2

      In den höheren Schulen herrscht bisweilen ein Geist, der dem Geist der Stadt, in der die Schule liegt, völlig entgegengesetzt ist; ja, in der Regel steht die Schule in gewissen Stücken unter ganz selbständigen Einwirkungen. Ein einziger Lehrer vermag die Schüler in seinem Bann zu halten, ebenso wie es oft von einem Kameraden oder von ein paar abhängt, ob unter den Knaben ein Geist der Ritterlichkeit oder das Gegenteil, ein Geist des Gehorsams oder das Gegenteil herrscht. In der Regel übernimmt irgend ein einzelner die Führung. Auch in sittlicher Hinsicht ist das so. Die Knaben arten ihrem Vorbild nach, und meist hat einer oder haben mehrere die Macht, als Vorbild zu wirken.

      Gegenwärtig hatte der Primus Anders Hegge teilweise die Oberleitung in Händen. Einen so gelehrten Schüler hatte die Schule seit ihrer Gründung nicht gesehen; er war ein Jahr länger geblieben als nötig, nur um der Schule den Glanz eines unzweifelhaften prae ceteris zu verschaffen. Die Knaben waren unglaublich stolz auf ihn. Bewundernd erzählten sie, wie er die Lehrer in der Gewalt habe, und daß er seine Stunden nach eigenem Belieben wählen und kommen und gehen könne, wie es ihm gerade passe. Meist arbeitete er für sich. Er besaß eine Bibliothek, deren Regale längst die Wände so angefüllt hatten, daß sie jetzt den Fußboden entlang krochen. Ein langer Bücherständer stand auf jeder Seite des Sofas. Es gingen solche Wundergeschichten darüber um, daß sogar die kleinsten Jungens ihn besuchen und mit eigenen Augen sehen mußten. Und mitten drin, am Fenster, saß er selber und rauchte, in einem bis auf die Füße reichenden Schlafrock, dem Geschenk einer verheirateten Schwester, auf dem Kopf eine Samtmütze mit Goldquaste, das Geschenk einer Tante, an den Füßen gestickte Pantoffeln, das Geschenk einer Patin. Er war ein Damenprodukt – wohnte bei seiner verwitweten Mutter, und fünf ältliche Verwandte bezahlten seine Bücher, kleideten ihn und versahen ihn mit Taschengeld.

      Ein großer, kräftiger Bursche mit einem regelmäßigen, feingeschnittenen Gesicht, dem Gesicht eines alten Geschlechts. Es wäre schön gewesen, wenn es nicht Glotzaugen und einen gierigen und lauernden Ausdruck gehabt hätte. Ähnlich sein wohlgebauter Körper: er hätte einen stattlichen Eindruck gemacht, wenn er nicht vornüber gebückt gegangen wäre, als drücke eine Last seinen Rücken, und einen ungleichmäßigen Gang gehabt hätte. Hände und Füße waren zierlich; er konnte nicht leiden, wenn man ihn anrührte, war verfroren und zimperlich und hatte einen durchaus weiblichen Geschmack.

      Alles, was ihm einmal gesagt worden war, behielt er, Großes und Kleines, ohne Unterschied; oder wenn ein Unterschied war, so bestand er darin, daß das Kleine ihm das wichtigste war. Wenige Dinge entgingen ihm; sachte und nicht ohne eine Art Kunst stahl er sich in das Vertrauen eines Menschen. Er kannte die Familiengeschichten aus dem ganzen Land, auch solche aus fremden Ländern kannte er. Diese Geschichten zu erzählen – am liebsten Skandalgeschichten – und in aller Stille noch andere einzuheimsen – das war ihm des Daseins größte Wonne! Hätten die Lehrer geahnt, wie diese bewundernswerte Schubladeneinrichtung mit all ihrem Inhalt die Luft der Schule verdarb – sie hätten ihn schwerlich noch ein Jahr dabehalten. Die ganze Schule war nichts als Kritik und Zweifel; Klatsch und Spott waren Hoftugenden, die am ehesten zu Gunst führten; schlüpfrige Geschichten waren die Festunterhaltung. Gierig nach Neuem saß er inmitten seines Rauchgespinstes zwischen seinen Bücherregalen, wenn jemand ihn besuchte. Und als Edvard an diesem Abend kam und erzählte, nun wisse er, wohin Ole gehe und was er treibe, und nun wolle er seine Prämie, da stand Anders auf und bat ihn, doch einen Augenblick zu warten; er wolle nur schnell etwas Bier holen; dann wollten sie sich einen vergnügten Abend machen.

      Das erste Glas schmeckte vortrefflich, ein anderes halbes ebenso; und dann erzählte Edvard. Erst, daß Ole unten im Fischerdorf Kranke pflege.

      Anders war ungefähr ebenso paff, wie Edvard vorhin, als er die Bibel sah. Edvard lachte herzlich. Aber es dauerte nicht lange, so äußerte Anders einen leisen Zweifel. Ole habe ihm wahrscheinlich nur etwas weismachen wollen, um sich leichter aus der Patsche zu ziehen; dahinter stecke etwas. Bauernjungen seien immer Heimlichtuer. Und zum Beweis erzählte er ein paar ganz amüsante Geschichtchen aus der Schule. Edvard gefiel dieses ewige Zweifeln nicht recht, und um ein Ende zu machen (er war im Grunde furchtbar müde), berichtete er, sein Vater wisse alles, er sei damit einverstanden und unterstütze Ole mit Geld. Jetzt zweifelte natürlich auch Anders nicht länger. Aber trotz allem – es konnte etwas dahinterstecken; Bauernjungens seien nun mal solche Heimlichtuer.

      Das wurde Edvard denn doch zu viel; er sprang von seinem Sitz auf und fragte, ob Anders etwa glaube, daß einer von ihnen lüge.

      Anders trank ruhig einen Schluck Bier und ließ vorsichtig seine Glotzaugen rollen. "Lügen" – hm – ein sonderbarer Ausdruck. Durfte man vielleicht wissen, was das für Kranke waren, mit denen Ole sich beschäftigte?

      Darauf war Edvard nicht gefaßt. Er hatte sich vorgenommen, gerade soviel zu sagen, als nötig war, um die Prämie zu bekommen, und kein Wort darüber. Er stand wieder auf. Wenn Anders es nicht glauben wolle, so möge er's bleiben lassen; aber seine Prämie wolle er.

      Es war nicht Anders Hegges Art, mit jemand zu brechen, was Edvard auch recht gut wußte. Natürlich sollte Edvard das Buch haben. Aber nun müsse er erst mal eine amüsante Geschichte hören, wie sich die Kranken draußen im Fischerdorf aufführten. Der Armenarzt und seine Frau seien gestern


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