Die Juden. Gotthold Ephraim Lessing
Exempel: Ich bin einmal auf der Messe gewesen—ja! wenn ich an die Messe gedenke, so möchte ich gleich die verdammten Juden alle auf einmal mit Gift vergeben, wenn ich nur könnte. Dem einen hatten sie im Gedränge das Schnupftuch, dem andern die Tobaksdose, dem dritten die Uhr, und ich weiß nicht was sonst mehr, wegstibitzt. Geschwind sind sie, ochsenmäßig geschwind, wenn es aufs Stehlen ankömmt. So behende, als unser Schulmeister nimmermehr auf der Orgel ist. Zum Exempel, mein Herr: Erstlich drängen sie sich an einen heran, so wie ich mich ungefähr jetzt an Sie—
Der Reisende. Nur ein wenig höflicher, mein Freund!—
Martin Krumm. Oh! lassen Sie sich's doch nur weisen. Wenn sie nun so stehen,—sehen Sie,—wie der Blitz sind sie mit der Hand nach der Uhrtasche. (Er fährt mit der Hand, anstatt nach der Uhr, in die Rocktasche, und nimmt ihm seine Tobaksdose heraus.) Das können sie nun aber alles so geschickt machen, daß man schwören sollte, sie führen mit der Hand dahin, wenn sie dorthin fahren. Wenn sie von der Tobaksdose reden, so zielen sie gewiß nach der Uhr, und wenn sie von der Uhr reden, so haben sie gewiß die Tobaksdose zu stehlen im Sinne. (Er will ganz sauber nach der Uhr greifen, wird aber ertappt.)
Der Reisende. Sachte! sachte! Was hat Eure Hand hier zu suchen?
Martin Krumm. Da können Sie sehn, mein Herr, was ich für ein ungeschickter Spitzbube sein würde. Wenn ein Jude schon so einen Griff getan hätte, so wäre es gewiß um die gute Uhr geschehn gewesen—Doch weil ich sehe, daß ich Ihnen beschwerlich falle, so nehme ich mir die Freiheit, mich Ihnen bestens zu empfehlen, und verbleibe zeitlebens für Dero erwiesene Wohltaten, meines hochzuehrenden Herrn gehorsamster Diener, Martin Krumm, wohlbestallter Vogt auf diesem hochadeligen Rittergute.
Der Reisende. Geht nur, geht.
Martin Krumm. Erinnern Sie sich ja, was ich Ihnen von den Juden gesagt habe. Es ist lauter gottloses diebisches Volk.
Dritter Auftritt
Der Reisende.
Der Reisende. Vielleicht ist dieser Kerl, so dumm er ist, oder sich stellt, ein boshafterer Schelm, als je einer unter den Juden gewesen ist. Wenn ein Jude betrügt, so hat ihn, unter neun Malen, der Christ vielleicht siebenmal dazu genötiget. Ich zweifle, ob viel Christen sich rühmen können, mit einem Juden aufrichtig verfahren zu sein: und sie wundern sich, wenn er ihnen Gleiches mit Gleichem zu vergelten sucht? Sollen Treu' und Redlichkeit unter zwei Völkerschaften herrschen, so müssen beide gleich viel dazu beitragen. Wie aber, wenn es bei der einen ein Religionspunkt und beinahe ein verdienstliches Werk wäre, die andre zu verfolgen? Doch—
Vierter Auftritt
Der Reisende. Christoph.
Der Reisende. Daß man Euch doch allezeit eine Stunde suchen muß, wenn man Euch haben will.
Christoph. Sie scherzen, mein Herr. Nicht wahr, ich kann nicht mehr, als an einem Orte zugleich sein? Ist es also meine Schuld, daß Sie sich nicht an diesen Ort begeben? Gewiß Sie finden mich allezeit da, wo ich bin.
Der Reisende. So? und Ihr taumelt gar? Nun begreif ich, warum Ihr so sinnreich seid. Müßt Ihr Euch denn schon frühmorgens besaufen?
Christoph. Sie reden von Besaufen, und ich habe kaum zu trinken angefangen. Ein paar Flaschen guten Landwein, ein paar Gläser Branntwein, und eine Mundsemmel ausgenommen, habe ich, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, nicht das geringste zu mir genommen. Ich bin noch ganz nüchtern.
Der Reisende. Oh! das sieht man Euch an. Und ich rate Euch, als ein
Freund, die Portion zu verdoppeln.
Christoph. Vortrefflicher Rat! Ich werde nicht unterlassen, ihn, nach meiner Schuldigkeit, als einen Befehl anzusehen. Ich gehe, und Sie sollen sehen, wie gehorsam ich zu sein weiß.
Der Reisende. Seid klug! Ihr könnt dafür gehn, und die Pferde satteln und aufpacken. Ich will noch diesen Vormittag fort.
Christoph. Wenn Sie mir im Scherze geraten haben, ein doppeltes Frühstück zu nehmen, wie kann ich mir einbilden, daß Sie jetzt im Ernste reden? Sie scheinen sich heute mit mir erlustigen zu wollen. Macht Sie etwa das junge Fräulein so aufgeräumt? Oh! es ist ein allerliebstes Kind.—Nur noch ein wenig älter, ein klein wenig älter sollte sie sein. Nicht wahr, mein Herr? wenn das Frauenzimmer nicht zu einer gewissen Reife gelangt ist,—
Der Reisende. Geht, und tut, was ich Euch befohlen habe.
Christoph. Sie werden ernsthaft. Nichtsdestoweniger werde ich warten, bis Sie mir es das drittemal befehlen. Der Punkt ist zu wichtig! Sie könnten sich übereilt haben. Und ich bin allezeit gewohnt gewesen, meinen Herren Bedenkzeit zu gönnen. Überlegen Sie es wohl, einen Ort, wo wir fast auf den Händen getragen werden, so zeitig wieder zu verlassen? Gestern sind wir erst gekommen. Wir haben uns um den Herrn unendlich verdient gemacht, und gleichwohl bei ihm kaum eine Abendmahlzeit und ein Frühstück genossen.
Der Reisende. Eure Grobheit ist unerträglich. Wenn man sich zu dienen entschließt, sollte man sich gewöhnen, weniger Umstände zu machen.
Christoph. Gut, mein Herr! Sie fangen an zu moralisieren, das ist:
Sie werden zornig. Mäßigen Sie sich; ich gehe schon—
Der Reisende. Ihr müßt wenig Überlegungen zu machen gewohnt sein. Das, was wir diesem Herrn erwiesen haben, verlieret den Namen einer Wohltat, sobald wir die geringste Erkenntlichkeit dafür zu erwarten scheinen. Ich hätte mich nicht einmal sollen mit hieher nötigen lassen. Das Vergnügen, einem Unbekannten ohne Absicht beigestanden zu haben, ist schon vor sich so groß! Und er selbst würde uns mehr Segen nachgewünscht haben, als er uns jetzt übertriebene Danksagung hält. Wen man in die Verbindlichkeit setzt, sich weitläuftig, und mit dabei verknüpften Kosten zu bedanken, der erweiset uns einen Gegendienst, der ihm vielleicht saurer wird, als uns unsere Wohltat geworden. Die meisten Menschen sind zu verderbt, als daß ihnen die Anwesenheit eines Wohltäters nicht höchst beschwerlich sein sollte. Sie scheint ihren Stolz zu erniedrigen;—
Christoph. Ihre Philosophie, mein Herr, bringt Sie um den Atem. Gut! Sie sollen sehen, daß ich ebenso großmütig bin, als Sie. Ich gehe; in einer Viertelstunde sollen Sie sich aufsetzen können.
Fünfter Auftritt
Der Reisende. Das Fräulein.
Der Reisende. So wenig ich mich mit diesem Menschen gemein gemacht habe, so gemein macht er sich mit mir.
Das Fräulein. Warum verlassen Sie uns, mein Herr? Warum sind Sie hier so allein? Ist Ihnen unser Umgang schon die wenigen Stunden, die Sie bei uns sind, zuwider geworden? Es sollte mir leid tun. Ich suche aller Welt zu gefallen; und Ihnen möchte ich, vor allen andern, nicht gern mißfallen.
Der Reisende. Verzeihen Sie mir, Fräulein. Ich habe nur meinem
Bedienten befehlen wollen, alles zur Abreise fertig zu halten.
Das Fräulein. Wovon reden Sie? von Ihrer Abreise? Wenn war denn Ihre Ankunft? Es sei noch, wenn Sie über Jahr und Tag eine melancholische Stunde auf diesen Einfall brächte. Aber wie, nicht einmal einen völligen Tag aushalten wollen? Das ist zu arg. Ich sage es ihnen, ich werde böse, wenn Sie noch einmal daran gedenken.
Der Reisende. Sie könnten mir nichts Empfindlichers drohen.
Das Fräulein. Nein? im Ernst? ist es wahr, würden Sie empfindlich sein, wenn ich böse auf Sie würde?
Der Reisende. Wem sollte der Zorn eines liebenswürdigen Frauenzimmers gleichgültig sein können?
Das Fräulein. Was Sie sagen, klingt zwar beinahe, als wenn Sie spotten wollten, doch ich will es für Ernst aufnehmen; gesetzt, ich irrte mich auch. Also, mein Herr,—ich bin ein wenig liebenswürdig, wie man mir gesagt hat,—und ich sage Ihnen noch einmal, ich werde entsetzlich, entsetzlich zornig werden, wenn Sie, binnen hier und dem neuen Jahr, wieder an Ihre Abreise gedenken.
Der Reisende. Der Termin ist sehr liebreich bestimmt. Alsdann wollten Sie mir, mitten im Winter, die Türe weisen; und bei dem unbequemsten Wetter-Das Fräulein. Ei! wer sagt das? Ich sage nur, daß Sie alsdann, des Wohlstands halber, etwa einmal an die Abreise denken können. Wir werden Sie deswegen nicht fortlassen; wir wollen Sie schon bitten—