Gewandelt . Морган Райс

Gewandelt  - Морган Райс


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ihrem normalen Gewicht absolut durchschnittlich. Sie war ganz bestimmt nicht so hübsch wie manche der anderen Mädchen, und mit ihren achtzehn Jahren war sie zwar ein wenig älter als die anderen, aber auch nicht alt genug, um herauszustechen.

      Nein, es war irgendetwas anderes. Sie hatte etwas an sich, was die Leute zweimal hinsehen ließ. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie anders war. Aber woran genau das lag, wusste sie nicht.

      Wenn es noch etwas Schlimmeres gab als einen ersten Schultag, dann war es ein erster Schultag mitten im Halbjahr, wenn alle anderen Schüler bereits Zeit gehabt hatten, Kontakte zu knüpfen. Der heutige Tag – dieser erste Schultag Mitte März – würde sicher besonders schlimm werden. Sie hatte da so ein Gefühl.

      Trotzdem hätte sie sich in ihren wildesten Fantasien nicht vorstellen können, dass es so schlimm werden würde. Nichts, was sie je erlebt hatte – und sie hatte schon viel erlebt –, hatte sie auf das hier vorbereitet.

      An einem eiskalten Märzmorgen stand Caitlin vor ihrer neuen Schule – einer großen staatlichen Schule in New York City – und fragte sich: Warum ausgerechnet ich? In ihrem Sweatshirt und den Leggins war sie viel zu leger gekleidet, außerdem war sie nicht im Entferntesten auf das lautstarke Chaos vorbereitet gewesen, das sie nun begrüßte. Hunderte von Schülern standen dort, tobten, kreischten und drängelten sich aneinander vorbei. Es sah aus wie auf einem Gefängnishof.

      Caitlin fand alles hier irgendwie übertrieben: Diese Kids lachten zu laut, fluchten zu viel, schubsten sich gegenseitig zu heftig. Man hätte das Ganze für eine große Schlägerei halten können, wäre nicht auch hier und da ein Lächeln zu sehen oder ein spöttisches Lachen zu hören gewesen. Diese Kids hatten einfach zu viel Energie, und Caitlin konnte nicht verstehen, woher sie die nahmen. Sie selbst war erschöpft und litt unter Schlafmangel, außerdem fror sie erbärmlich. Ergeben schloss sie die Augen und wünschte sich, alles würde wie von Zauberhand verschwinden.

      Als sie die Hand in die Tasche steckte, fühlte sie plötzlich etwas zwischen ihren Fingern: ihren iPod. Ja! Schnell steckte sie sich die Ohrstöpsel in die Ohren und drehte die Lautstärke auf. Sie hatte das dringende Bedürfnis, alles andere zu übertönen.

      Aber es kam nichts. Sie warf einen Blick auf das Gerät und stellte fest, dass die Batterie leer war. Perfekt.

      In der Hoffnung auf Ablenkung kontrollierte sie ihr Handy. Keine neuen Nachrichten.

      Wenn sie so dieses Meer an neuen Gesichtern betrachtete, fühlte sie sich einsam. Nicht, weil sie das einzige weiße Mädchen war – das war ihr sogar ganz recht. Einige ihrer engsten Freundinnen an anderen Schulen hatten dunklere Haut gehabt – Schwarze, Südamerikanerinnen, Asiatinnen, Inderinnen –, und einige ihrer niederträchtigsten Neiderinnen waren Weiße gewesen. Nein, daran lag es nicht. Sie fühlte sich einsam, weil es hier so städtisch war. Unter ihren Füßen war Beton, und mit einem lauten Summton war sie in den »Erholungsbereich« eingelassen worden, vorher hatte sie allerdings noch mehrere hohe Metalltore passieren müssen. Jetzt war sie eingesperrt, gefangen hinter einem robusten Metallzaun, der von Stacheldraht gekrönt war. Sie hatte das Gefühl, im Gefängnis gelandet zu sein.

      Als sie an dem großen Schulgebäude aufblickte, dessen Fenster mit Gitterstäben versehen waren, verbesserte das ihre Stimmung auch nicht gerade. Sie hatte sich immer problemlos an neue Schulen gewöhnt – egal, ob sie groß oder klein gewesen waren –, aber die hatten sich alle in Vororten befunden. Dort hatte es Gras und Bäume gegeben, und der Himmel war zu sehen gewesen. Doch hier war nichts außer Stadt. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Und das jagte ihr Angst ein.

      Ein lauter Klingelton ertönte, und sie bewegte sich zusammen mit Hunderten von Schülern auf den Eingang zu. Ein großes Mädchen rempelte sie grob an, sodass ihr das Tagebuch aus der Hand fiel. Sie hob es auf und wartete, ob sich das Mädchen entschuldigen würde. Aber sie war nirgendwo mehr zu sehen – wahrscheinlich war sie schon in dem Gewühl verschwunden. Irgendwo hörte sie Gelächter, aber sie konnte nicht feststellen, ob es ihr galt.

      Angespannt umklammerte sie ihr Tagebuch; es war das Einzige, was ihr Halt gab. Bis jetzt hatte es sie überallhin begleitet. Sie machte sich ständig Notizen und fertigte Zeichnungen an, wohin sie auch ging. Das Buch war eine Landkarte ihrer Kindheit.

      Schließlich erreichte sie die Eingangstür und musste sich mit den anderen zusammen hineinquetschen. Es war, als würde man zur Hauptverkehrszeit in einen Zug steigen. Sie hatte gehofft, dass es im Gebäude warm sein würde, aber durch die offenen Türen wehte ein kalter Luftzug, der sie noch mehr frieren ließ.

      Am Eingang standen zwei große Männer vom Sicherheitsdienst, flankiert von zwei Polizisten der Stadt New York. Sie trugen Uniform, und ihre Schusswaffen waren deutlich zu sehen.

      »WEITERGEHEN!«, befahl einer von ihnen.

      Sie konnte den Grund nicht erkennen, warum zwei bewaffnete Polizisten den Eingang einer Highschool bewachen mussten. Ihre Furcht wuchs und wurde noch stärker, als sie den Metalldetektor erblickte, der wie eins dieser Geräte beim Sicherheitscheck am Flughafen aussah.

      Vier weitere bewaffnete Polizisten standen links und rechts neben dem Detektor, außerdem waren dort noch zwei weitere Sicherheitsbedienstete.

      »TASCHEN LEEREN!«, blaffte ein Wachmann.

      Caitlin beobachtete, wie die anderen Jugendlichen die Gegenstände aus ihren Taschen in kleine Plastikkörbe legten. Rasch folgte sie ihrem Beispiel und holte ihren iPod, ihre Geldbörse und ihre Schlüssel raus.

      Dann schob sie sich durch den Detektor, doch der Alarm wurde ausgelöst.

      »DU!«, fuhr ein Wachmann sie an. »Zur Seite treten!«

      Natürlich.

      Alle starrten sie an, als sie die Arme heben musste und der Wachmann mit einem Handscanner ihren Körper absuchte.

      »Trägst du Schmuck?«

      Sie fasste sich ans Handgelenk, dann an den Hals, und plötzlich fiel es ihr ein: ihr Kreuz.

      »Nimm es ab«, forderte der Wachmann unfreundlich.

      Es war die Halskette, die ihre Großmutter ihr kurz vor ihrem Tod geschenkt hatte. Daran hing ein kleines Silberkreuz mit einer Gravur in einer fremden Sprache, deren Bedeutung sie nie herausgefunden hatte. Ihre Großmutter hatte ihr erzählt, dass sie das Kreuz wiederum von ihrer Großmutter erhalten hatte. Caitlin war nicht religiös, und sie verstand auch die Bedeutung nicht, aber sie wusste, dass das Schmuckstück Hunderte von Jahren alt war. Es war bei Weitem das Wertvollste, was sie besaß.

      Caitlin hob das Kreuz an, nahm es jedoch nicht ab.

      »Lieber nicht«, antwortete sie.

      Der Mann starrte sie mit kaltem Blick an.

      Plötzlich brach ein Tumult aus. Es gab ein Riesengeschrei, als ein Polizist einen großen, dünnen Jungen packte und gegen die Wand stieß. Dabei zog er ihm ein kleines Messer aus der Tasche.

      Der Wachmann kam ihm zu Hilfe, und Caitlin nutzte die Gelegenheit, um in der Menge unterzutauchen.

      Willkommen in der staatlichen Schule von New York City, dachte Caitlin. Großartig.

      Schon jetzt zählte sie die Tage bis zu ihrem Schulabschluss.

* * *

      Noch nie hatte sie so breite Flure gesehen. Es war unvorstellbar, dass sie sich je füllen könnten, aber sie waren übervoll. Die Schüler drängten sich Schulter an Schulter. Auf diesen Gängen mussten sich Tausende von Jugendlichen befinden, der Anblick der vielen Gesichter erstreckte sie maßlos. Der Lärm hier drin war sogar noch schlimmer, weil er von den Wänden zurückgeworfen und so verstärkt wurde. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Aber sie hatte nicht einmal genug Platz, um die Arme zu heben. Allmählich bekam sie Platzangst.

      Es klingelte, und das Treiben nahm zu.

      Schon spät dran.

      Schnell warf sie einen Blick auf den Raumplan und entdeckte schließlich in der Ferne das Klassenzimmer. Vergeblich versuchte sie, sich zwischen den Körpern hindurchzuschieben. Nach mehreren gescheiterten Versuchen begriff sie schließlich, dass sie offensiver vorgehen musste. Also fuhr sie die Ellbogen aus und schubste zurück, schob


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