Die Kugel von Kandra . Морган Райс
diesen Kompass zu mir gebracht haben“, sagte Armando.
Oliver wurde schwindelig. Er konnte es nicht glauben. Hielt er wirklich ein Geschenk von seinen leiblichen Eltern in den Händen? Etwas, das sie Armando anvertraut hatten, damit er es an ihn weitergeben konnte?
„Meine Eltern?“, flüsterte er.
Das musste ein Zeichen des Universums sein.
„Warum glaubst du, dass es von ihnen kommt?“, fragte Oliver.
„Sieh dir die Symbole genauer an“, sagte Armando.
Oliver hob den Kompass ins Licht und untersuchte die Zahlen und Zeichen. Sie waren in einer Art Drehscheibe angeordnet und kleine Pfeile zeigten auf bestimmte Symbole. Es erinnerte Oliver an die Hieroglyphen der alten Ägypter. Schlichte Striche und Kreise, aber ihre Bedeutung lag auf der Hand. Menschen, Tiere, Ziffern, Elemente wie Wasser und Luft. Ein Pfeil zeigte ganz deutlich auf einen Mann und eine Frau.
Jetzt war sich Oliver sicher, was es zu bedeuten hatte. Seine Eltern!
„Was wissen Sie über sie?“, fragte er aufgeregt. „Haben Sie sie gesehen? Haben sie eine Nachricht hinterlassen? An mich vielleicht?“
Zögerlich schüttelte Armando den Kopf. „Leider weiß ich nichts, mein Junge. Aber vielleicht wird dir dieser Kompass helfen herauszufinden, wer du wirklich bist.“
Oliver sah wieder den Kompass an. Es sah merkwürdig aus mit der Drehscheibe und den Symbolen. Er wusste zwar nicht, was genau er bewirken sollte, aber er war sich ganz sicher, dass es von Bedeutung war. Und er wusste, dass er seine Eltern suchen würde. Er musste herausfinden, wer er war und woher er kam. Dass er jetzt etwas von ihnen in der Hand halten konnte, gab ihm Kraft.
Plötzlich bemerkte er, wie sich die winzige Scheibe bewegte. Sie bewegte sich zu einem Symbol, das drei Wellenlinien zeigte. Oliver dachte sofort an Wasser. Er rieb mit dem Daumen über das Symbol. Dabei löste sich eine Staubschicht und überrascht stellte er fest, dass das Symbol bunt war. Die Linien leuchteten jetzt in tiefem Blau.
„Ich weiß, wo ich suchen muss“, sagte er entschlossen.
Blau. Die Blues, die Familie, in der er aufgewachsen war. Wenn jemand wissen musste, woher er kam, dann sie.
Außerdem hatte er mit ihnen noch eine Rechnung zu begleichen.
Es war Zeit, seinen Bruder Chris zur Rechenschaft zu ziehen für all die Quälereien, die er Oliver angetan hatte.
KAPITEL VIER
Am diesem dunklen und stürmischen Abend machte sich Oliver auf den Weg. Er verließ die Fabrik und ging durch die Straßen von New Jersey. Gegenstände, die der Sturm durch die Luft gewirbelt hatte, lagen in Trümmern über die Bürgersteige verstreut. Der Wind wehte immer noch stark.
Schnell bemerkte Oliver, dass die Gebäude, Straßen und Gehwege nicht mehr aussahen wie früher, obwohl es dieselbe Gegend war. Alles war anders, neuer, sauberer und wohlhabender. In den Vorgärten waren Sträucher und Blumenbeete anstatt kaputter Waschmaschinen und Autos. Im Asphalt waren keine Schlaglöcher und an den Laternen lehnten keine verrosteten, verlassenen Fahrräder.
Oliver wurde klar, dass alleine durch die Tatsache, dass Armandos Fabrik nicht vor vielen Jahren geschlossen hatte, viele Leute ihre Arbeitsplätze behalten hatten und nicht weggegangen waren. Die Veränderungen, die er in dieser Stadt bewirkt hatte, schienen weitreichendere Auswirkungen nach sich zu ziehen, als Oliver für möglich gehalten hätte. Er war plötzlich überwältigt von der enormen Verantwortung, die ein Seher den Menschen gegenüber trug. Jede einzelne Veränderung in der Vergangenheit konnte für immer die Geschichte beeinflussen. Aber gleichzeitig war er auch stolz, denn die Dinge hatten sich eindeutig zum Besseren verändert.
Oliver wartete an der Bushaltestelle. Das Schild war nicht mehr verrostet. Im Gegenteil! Es glänzte. Der Bus kam und Oliver stieg ein. Im Bus roch es diesmal nicht nach Zwiebeln und fettigem Essen wie damals, sondern nach Reinigungsmittel und Aftershave.
„Bist du nicht etwas zu jung, um zu dieser Uhrzeit noch alleine unterwegs zu sein?“, fragte der Fahrer.
„Ich bin auf dem Heimweg“, entgegnete er und gab dem Fahrer etwas Geld.
Der sah ihm besorgt hinterher, als Oliver sich einen Platz aussuchte.
Selbst der Busfahrer ist netter als damals!, dachte er.
Als der Bus losfuhr, überlegte Oliver, wie er seine Familie zuletzt erlebt hatte. Er war am Tag des Sturmes nicht nach Hause gekommen und Mr. und Mrs. Blue machten sich wahrscheinlich Sorgen. Für Oliver war schwer zu glauben, wie viel er seit jenem Tag erlebt hatte. Er ist durch die Zeit gereist – mehr als einmal. Er ist Hitler begegnet und ist auf einem fantastischen Tier aus dem vierten Jahrtausend hinter einem Ball hergeflogen. Er hatte Kinder aus allen möglichen Zeitachsen kennen gelernt und vor allem hatte er herausgefunden, dass die Blues nicht seine richtigen Eltern waren. Nur hatten sie keine Ahnung von alldem. Für sie hatte sich Oliver sich auf dem Heimweg von der Schule verspätet. Oliver bezweifelte, dass sie sich über seine Rückkehr freuen würden. Wahrscheinlich würden sie sich nur darüber beklagen, dass er ihnen Sorgen bereitet hatte.
Gedankenversunken griff er nach dem Kompass in seiner Tasche. Er konnte sich daran nicht satt sehen. Das Kupfer war etwas verfärbt, so alt war es. Oliver freute sich darauf, es richtig zu polieren. Abgesehen davon war es in einwandfreiem Zustand. Er hätte stundenlang die unzähligen winzigen Symbole und Pfeile untersuchen können. Dann stellte er sich vor, wie seine wahren Eltern ihn in der Hand hielten. Wofür hatten sie den Kompass benutzt? Und warum hatten sie ihn Armando gegeben?
Oliver war so in Gedanken versunken, dass er beinahe seine Haltestelle verpasst hätte. Er sprang auf, drückte auf die Klingel und eilte nach vorne. Der Fahrer hielt an und ließ ihn aussteigen.
„Pass gut auf dich auf, Junge. Der Sturm ist noch nicht vorbei“, warnte der Fahrer ihn.
„Das werde ich, danke!“, rief Oliver und sprang hinaus auf den Gehsteig.
Als er aufblickte, konnte er seinen Augen kaum trauen. Das hatte er wirklich nicht erwartet. Die damals so heruntergekommene Gegend sah auf einmal gepflegt und freundlich aus. Er bezweifelte, dass die Blues sich ein Haus in dieser Straße leisten konnten. Oliver zögerte. Vielleicht wohnten sie gar nicht hier?
Er warf einen verstohlenen Blick auf den Kompass. Er zeigte noch immer auf einen Mann und eine Frau und die gewellten, blauen Linien. Wenn er die Zeichen richtig deutete, war das hier der Ort, an dem seine Familie wohnte.
Sein Herz klopfte wild, als er durch den Garten zur Haustür ging. Er steckte seinen Schlüssel in das Schloss. Er passte! Dann sperrte er auf und ging hinein.
Im Haus war alles dunkel und still. Er hörte nur das leise Ticken einer Uhr und ein Schnarchen in einem der oberen Räume. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie spät es sein musste.
Doch als er ins Wohnzimmer schlich, erschrak er. Auf dem Sofa saßen seine Eltern. Obwohl es dunkel war, sah er, wie blass und erschöpft sie aussahen.
Als sie ihn bemerkten, sprang seine Mutter auf.
„Oliver!“, rief sie.
Sein Vater ließ das Telefon fallen, das er in der Hand gehalten hatte. Er starrte Oliver an, als wäre er ein Geist.
„Wo bist du nur gewesen? Und was um Himmel Willen hast du da an?“
Oliver fiel keine gute Erklärung für den blauen Overall ein, aber das machte auch nichts, denn er kam ohnehin nicht zu Wort. Sein Vater polterte sofort los.
„Wir sind fast umgekommen vor Sorge! Wir haben die Polizei gerufen, in sämtlichen Krankenhäusern gesucht, den Schuldirektor der Campbell High terrorisiert! Wir haben uns sogar an die Zeitungen gewendet!“
Oliver kreuzte die Arme vor der Brust. Er dachte an den Zeitungsartikel, in dem seine Eltern um Spendengelder gebeten