Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке. Варлам Шаламов
Neues, noch Schrecklicheres.
Der Grund der menschlichen Seele hat keinen Boden, immer passiert noch Schrecklicheres, noch Gemeineres, als du es gekannt, gesehen und begriffen hast.
Wahrscheinlich hat auch die menschliche Fähigkeit zum Guten unendlich viele Abstufungen – das Wesentliche ist nur, dass der Mensch nicht unter die Bedingungen des höchsten Guten gestellt ist. Der höchsten Probe auf das Gute. In der menschlichen Seele gibt es nicht die absolute Kälte, oder höchstens bei den Ganoven[50], und nicht die Temperatur der Sonne. Auf der Erde würde diese Temperatur die menschliche Seele erbarmungslos verbrennen, ebenso wie die absolute Kälte. Aber nicht nur Gut und Böse. Jede menschliche Eigenschaft hat unendlich viele Ausprägungen – und was positive und was negativ ist, lässt sich im Voraus nicht sagen. Der Weg des Menschen ist das Entdecken seiner selbst, vom ersten bis zum letzten Lebenstag.
Im »Partisan« in der RUR also eröffnete sich mir im Januar 1938 eine objektive Wahrheit.
Der Arbeitstag der RUR war immer gleich, zwei Holztouren vor dem Mittagessen und eine Tour nach dem Mittagessen. Natürlich werden wir nicht kutschiert, sondern eingespannt, acht Mann auf einen Pferdeschlitten – es werden solche Zugriemen gemacht – im Winter, nach Art der Rentierschlitten.
Vier Schlitten fuhren, an der Spitze jedes Schlittens ein Ganove mit Stock, um die Trotzkisten anzutreiben, und Begleitposten gab es zwei – für die gesamte Pferdegruppe.
Man musste die Schlitten etwa zwei Kilometer bis zum Talkessel schaffen; sie dann hochwuchten und auf einem ziemlich steilen Weg über den Schnee schleppen, und dort gab es Stapel – von Baumstümpfen oder Brennholz oder Krummholzwurzeln, all das war schneebedeckt, doch auf dem Berg lag wenig Schnee – alles <vom Wind> davongeblasen.
Man musste alle Schlitten beladen – jeder <Trupp> belud seinen Schlitten getrennt – und sich auf den Rückweg machen, jetzt schon abwärts. Auf der – steilen – Talfahrt war der Schlitten unmöglich zu halten, und man ließ ihn langsam per Hand an den Seilen, an den Zugriemen hinunter.
Dann waren alle auf der Straße und fuhren in die Zone, in die RUR.
Jeden Tag belieferten zwei Schlitten vor dem Mittagessen die Wachabteilung, ohne Einfahrt in die Zone, und nach dem Mittagessen fuhren sie nur ins Lager, in die RUR.
Wir wussten nie, wie unser Arbeitstag endet, und unser Tun und Lassen und das unserer Chefs war eine Art Gewohnheitsrecht, nicht mehr.
Gerade traf im Lager eine zusätzliche Abteilung Begleitposten zur Arbeit ein, die Bewachung des Bergwerks und der Häftlinge wurde an der ganzen Kolyma rasch verstärkt. In unserem Bergwerk war die Baracke für die Wache schon gebaut, und nun füllte sie sich mit Bewohnern.
Anstatt selbst nach Holz zu fahren, hatte die Leitung der Abteilung und des Lagers beschlossen, dass wieder die RUR das Holz transportieren wird und doch nicht die Soldaten es »auf dem Buckel« tragen. Die ganze Kolyma würde lachen.
An diesem Tag hielten sie unsere Pferdebrigade nach der dritten Tour fest und versuchten, uns ein viertes Mal nach Holz zu schicken. Sie machten es noch schlimmer – sie befahlen, diese dritten Schlitten in die Wachabteilung zu schaffen. Das Lager blieb ohne Holz. Alle weigerten sich zu fahren.
Drohungen halfen nichts. Es erschien der Chef der Abteilung, der Lagerchef, der Bergwerkschef, der Bevollmächtigte des NKWD.
Vierzig Leichname standen fest für ihre schattenhaften Häftlingsrechte ein – gestern sind wir dreimal gefahren, und zum vierten Mal fahren wir nicht.
Es <drängte sich> eine Menge von Chefs, Begleitposten, Soldaten und Vorarbeitern, sie versammelten sich, um zu schauen, wie die Geschichte endet.
Unsere gesamte Brigade umringten Soldaten mit Gewehren und Hunden.
»Hinlegen!«
Die Brigade legte sich in den Schnee.
»Aufstehen!«
Die Brigade stand auf.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Beim Kommando »hinlegen« erklangen Schüsse.
Nach dieser Vorbereitung trat der Bergwerkschef Anissimow vor und sagte, wer nicht ins Holz geht, bekommt eine Haftzeit angehängt.
Alle lagen, und kein Einziger stand auf.
Da trat der Bevollmächtigte hervor – und ließ antreten.
»Du gehst zur Arbeit?«
»Ja.«
»Zur Seite.«
Schließlich hatten sie Freiwillige für zwei Schlitten zusammen.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Sie hatten einen weiteren Schlitten. Übrig blieben wir drei: ich, Uschakow, ein junger [unleserl.] Dieb, und jemand Drittes mit Artikel achtundfünfzig, mit Bart, an seinen Namen erinnere ich mich nicht. Aber auch dieser Dritte mit Bart wurde von uns losgerissen und rannte den in die Berge aufgebrochenen Schlitten hinterher.
Es begann derselbe Spaß.
»Aufstehen!«
Und Schüsse über dem Kopf.
»Den Hund her!«
Sie hetzten den Hund[51] auf uns. Mir zerfetzte der Hund die Kleidung und zerriss die Mütze, aber Uschakow war heil. Wir standen nebeneinander, Uschakow hielt in der Hand eine zerbrochene Rasierklinge und zeigte sie dem Hund, und der Hund stürzte davon – die Erfahrung ist eine große Sache.
Es war klar, wenn man uns nicht auf der Stelle erschießt, dann bringt man uns in die Baracke. Der Hund wurde zurückgerufen, wir kehrten in die kalte, ausgekühlte Baracke zurück, ohne einen einzigen Holzspan[52], aber das war trotz allem ein Sieg, ein Test.
Am nächsten Tag fuhren wir genau dreimal Holz, zweimal vor dem Mittagessen und einmal nach dem Mittagessen.
Während all dieses Tohuwabohus <mit den Hunden>[53] spürte ich unter anderem auch, dass ich keinerlei Angst empfinde. Und das war eine objektive Wahrheit, die mir im »Partisan« aufgegangen ist. Oft wurde ich später mit Hunden gehetzt und geschlagen, hat man gedroht, mich einzusperren und im Isolator, der Spezialzone, im Karzer zu halten.
Ich habe niemals Angst verspürt. Kürzlich fand ich in einem medizinischen Werk heraus, dass Furchtlosigkeit einfach ein verlangsamter Reflex in der menschlichen Natur ist.
Möglich.
<1969>
Neunzehnhundertachtunddreißig
Ich kann mich an das Gesicht jedes Menschen erinnern, den ich an einem vergangenen Tag gesehen habe, vielfach habe ich zu prüfen versucht, bis in welche Tiefen des Hirns dieser Film denn reicht, und die Bemühungen aus Angst vor Erfolg beendet. Der Erfolg ist fruchtlos. Möglich ist jedoch, nicht mein gesamtes Leben zu erinnern und zurückzuholen, sondern sagen wir das Jahr 1938 an der Kolyma.
Wo liegt es, in welcher Ecke, was davon ist vergessen, was geblieben? Ich sage gleich, geblieben ist nicht das Wichtigste, geblieben ist nicht das Eindrücklichste und nicht das Größte, sondern quasi das Unnötige des damaligen Lebens. Es gab 1938 kein jähes Eintauchen ins Elend, in die Hölle, ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich[54], alltäglich und allnächtlich.
Das wohl Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55 Grad. Man haschte nach diesem 56. Grad Celsius, den man an der Spucke bestimmte, die in der Luft gefror, am Geräusch des Frostes, denn der Frost hat eine Sprache, die auf Jakutisch* »Sternenflüstern« heißt. Dieses Sternenflüstern hatten wir uns schnell und grausam angeeignet. Die allerersten Erfrierungen: Finger, Hände, Nase, Ohren und Gesicht, alles, was mit der kleinsten
50
der Ganove – (
51
einen Hund auf j-n hetzen – натравить на кого-л. собаку
52
ohne einen einzigen Holzspan – без единой щепки
53
während all dieses Tohuwabohus <mit den Hunden> – во время всей этой кутерьмы с собаками
54
…ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich – я уходил, увязал туда каждодневно и повсечасно