Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке. Александр Иличевский

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский


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sprangen sie ab. Zuerst verlegten sie auf einem Friedhof »Bruchstein«: verkleideten die Einfriedungen reicher Grabmäler, die Friedhofsmauer, den Sockel der Friedhofswerkstatt, wo schwarzer Marmor geschnitten, geätzt und geschliffen wurde. Den Bruch holten sie vom Meer, wo eine uralte Mauer ins Wasser führte. Bis zur Hüfte oder Brust in der Brandung, trugen sie diese ab. Der Seegang, mächtig und zärtlich, warf sie immer wieder um, während sie die im Wasser leichten Steine hinaustrugen; erst kurz vor dem Ufer nahmen sie sie hoch und klammerten sich daran fest, wenn die Wellen aufprallten, in denen der Kies zischte, pochte und klapperte.

      Danach nahm der Friedhofsdirektor sie mit auf seine Datscha in die Berge – zu Sauermilch und hoher, eisiger Morgendämmerung, zu blauen Stoffbahnen aus Schnee, zu unersättlichem Atem: Sie umzäunten die Schafweide mit Pflöcken, schütteten den Kellerboden mit Estrich aus, gruben einen zweiten Keller mit einem unterirdischen Gang zur Hinterseite des Gemüsegartens. Am Ende der Arbeitssaison – sie wollten sich schon nach Hause aufmachen – setzte man sie eines Nachts auf Esel, stellte ihnen für zwei Tage Arbeit einen Batzen Geld in Aussicht[23] und brachte sie weg.

      Und zwar tief in die Berge. Sie kamen erst am Nachmittag des übernächsten Tages an und hatten vom Höhenunterschied verlegte Ohren. So landeten sie in der Sklaverei, in einem gottverlassenen Aul.

      Sie schliefen in der Scheune bei den Ziegen. Tagsüber bauten sie das Haus um, es war groß, plump, hatte fast keine Fenster. Sie setzten Anbauten dran, deckten das Dach ab, zogen den Dachfirst höher, legten Dachziegel, errichteten einen Bogengang ums Haus und bauten darauf eine überdachte Galerie …

      Bei Sonnenuntergang, wenn ein Stück die Straße hinunter der Ruf des Muezzins verklang, legten sie die Arbeit nieder, setzten sich und warteten, dass man ihnen das Essen brachte. Ihr neuer Chef – ein unrasierter, einäugiger Alter in Pelzmütze und Jackett, an dem drei Ordensbänder hingen – sprach nie mit ihnen, er brachte nur die Baupläne: säuberlich gezeichnet, auf Millimeterpapier, mit grüner Mine.

      Manchmal, wenn der Alte mit strengem Blick die aufgefächerten Baupläne durchsah, verglich er sie verstohlen mit einem Kinderbuch, in dem Wadja einmal einen Blick auf ein blaues Schloss erhaschte. Auf einer ganzen Doppelseite war dort in allen Einzelheiten ein riesiges Märchenschloss gemalt, ein wildes Durcheinander aus kleinen Hängebrücken, Türmchen, Mansarden, Mezzaninen, Flügeln und Plätzen, auf denen kristallene Orangerien standen, sich Beete blähten und geschnitzte Taubenschläge weiß leuchteten … Winzige Menschlein mit spitzen Mützchen schlenderten auf den kleinen Brücken auf und ab, jäteten Unkraut in Gemüsebeeten, hüteten kugelrunde Schafe mit sechs Beinen, fischten, hackten Feldraine, flochten Zäune …

      Wadja verstand nichts von technischen Zeichnungen und verließ sich auf seinen Kumpel. Serjoga war auf der Baufachschule gewesen, hatte sogar Prüfungen gemacht. Aber auch er verstand nicht viel von Plänen, und so kam es, dass sie einfach ihrer Fantasie freien Lauf ließen und so bauten, wie es sich ergab.

      Der Alte hasste sie, behandelte sie aber leidlich. Fast ein Gnom, dürr, mit Hakennase und rotem, sehnigen Hals; die Mundwinkel zog er bösartig bis zu den Ohren, wobei zwei Reihen Goldzähne zum Vorschein kamen[24]. Die Tage verbrachte er bei seinen Bienenstöcken. Abends, auf dem Rückweg, mit einer Schüssel voll Wabenhonig, in eine Wespenwolke gehüllt, lief er an der Baustelle vorbei und krächzte beim Anblick seiner Arbeiter fürchterlich, plärrte etwas und spuckte aus. Nachsichtig war er zu ihnen vor allem aus Vernunftgründen: damit sie sich nicht zu Tode schufteten, damit Wadjas Eiterblase am Finger schneller heilte …

      Einmal kam die Nachbarin zu ihnen, eine Frau mit unglaublich vielen Kindern. Sie war zu Tode erschöpft und sammelte in einem fort ihre Bengel von der Straße auf. Es hatte immer so ausgesehen, als würde sie die Russen nicht bemerken. Doch einmal kam sie mit einem Backblech voller Maisgrütze in den Hof. Sie stellte es vor sie hin, richtete sich auf und sagte: »Gestern war ich in der Stadt, und da hatte ich den ganzen Tag solche Sehnsucht nach meinen Kindern, hab immer gedacht, wie es ihnen ohne mich wohl geht, was sie wohl essen. Und da habe ich beschlossen, euch das hier zu bringen. Ihr seid doch hier auch mutterlose Kinder.«

      Der Alte sah es und sagte nichts.

      Seiner Enkelin, einem hübschen Mädchen von etwa zehn Jahren, machte es Spaß, die Gefangenen zu beobachten. Sie schenkte ihnen mal einen Fetzen Mull, mal eine Papirossa, die sie irgendwo gemopst hatte, mal ein paar Brocken unreifer Honigwaben mit säuerlichem Bienenbrot, mal sogar ein ganzes Zeitungsblatt voller Käsekrümel. Einmal, zum Ersten Mai, brachte sie ihnen eine ihrer Spielsachen – ein kleines Strohpferdchen mit einer roten Schleife um den Hals …

      Unterm Dach hatte der Alte einen Käfig mit zwei Falken, an deren Füßen Glöckchen hingen. Einmal am Tag holte er sich ein Huhn vom Hof, erschlug es kreuzweise mit zwei Axthieben, legte es in eine Schüssel und stieg die Treppe zum Käfig hinauf. Er stellte den Vögeln die Schüssel hin, wartete, bis sie sich sattgefressen hatten, legte Flaum, Federn und Knochen zurück in die Schüssel und zwängte die Falken einen nach dem andern durch das kleine Türchen in die Freiheit. Die Falken flogen eine Weile herum, saßen kurz auf dem Dach oder auf dem Zaun, dann kamen sie zurück und wollten Nachschlag …

      Die Frau des Alten brüllte die Gefangenen jeden Morgen an: von wegen, sie würden ihre Ziegen melken! Sie widersprachen ihr nicht. In Wirklichkeit waren es die Schäferhunde, zwei gewaltige Biester, die die Ziegen aussaugten. Der eine biss der Ziege in den Hals, und während sie weinte, bearbeitete der andere das pralle Euter, das wie eine Glocke an ihr baumelte.

      Der Sohn des Alten war gebildet, sprach gut Russisch. Die Enkelin des Alten hatte erzählt, ihr Papa sei Leiter des Kulturhauses in einem der Dörfer unten. Wenn er seinen Vater besuchen kam, schimpfte er auf die Gefangenen. Sagte, sie gehörten erschlagen, weil sie kein Haus bauen würden, sondern aufeinandergetürmte Bienenstöcke.

      »Das soll ein Haus sein?!«, brüllte er. »Antwortet gefälligst! Das ist Irrsinn, die Kopfgeburt von Idioten! Wir sind doch hier nicht in Barcelona! Vater, was machst du bloß? Schmeiß sie raus!«

      In der Scheune verstreuten die Ziegen ihre Köttel, pissten alles voll und gingen manchmal ohne jeden Anlass[25] aufeinander los, man musste sie bei den Hörnern packen, zu Boden werfen, mit den Füßen in die bebende Flanke treten: ihnen Benehmen beibringen. Die resolute Alte versorgte die Gefangenen mit Knoblauchlinsensuppe. Der Alte gab reichlich selbst angebauten Tabak aus und einmal pro Woche eine Streichholzschachtel voll Haschisch.

      Der Rausch stumpfte ab und ließ die Zeit schneller vergehen. An Flucht dachten sie, wenn überhaupt, nur als eine anstrengende Unannehmlichkeit.

      Nach einem Jahr führte er sie vor das Dorf, gab jedem eine Streichholzschachtel und einen Beutel mit alten Zeitungen und Brot. Er zeigte auf den nächsten Berg und krächzte etwas.

      Weit kamen sie nicht, schleppten sich mit Müh und Not[26] zurück. Da führte der Alte sie mitten in der Nacht irgendwohin.

      Der Mond bog langsam ihren ausgeklügelten Weg zurecht. Sie kamen an einen Wiesenhang. Vor ihnen bäumten sich tosend waldige Bergsilhouetten auf. Der Alte rief etwas, rannte den Hügel hinunter und verschwand im Wald. Da legten sie sich in den Tau und schliefen bis zum Morgengrauen.

      Um Siedlungen machten sie einen Bogen. Ernährten sich von Kastanien und Nüssen. Wenn sie Wildschweine hörten, harrten sie auf einem Baum aus.

      Eine Woche später knallten und rissen abends Schüsse durch den Himmel.

      Lange spähten sie – was war das?

      Plötzlich schoss ein Hubschrauber unter einem Steilhang hervor. Sie erstickten fast, taumelten vor Schreck, die Druckwelle überrollte sie.

      Die Maschine stand still, flog auf sie zu.

      Sie stürzten den Abhang hinunter, sprangen zur Seite und sahen sich um.

      Die Flugblätter knallten, darüber ein nebelgraues Kräuseln, der Wind schob in Wogen die Luft weg, der Druck nahm einem den Atem.

      Ein Maschinengewehrlauf fuhr herum.

      Den Kumpel


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<p>23</p>

j-m etwas (Akk) in Aussicht stellen – обещать кому-либо что-либо, обнадёживать кого-либо чем-либо

<p>24</p>

zum Vorschein kommen – появиться, обнаружиться

<p>25</p>

ohne Anlass – без повода, без причины

<p>26</p>

mit Müh und Not – насилу, с большим трудом