Die Extrafahrt. Adolf Mützelburg

Die Extrafahrt - Adolf Mützelburg


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ob man sich nicht getäuscht hat. Aber eine warme Ahnung durchrieselt das Herz.

      Noch war es indessen bedenklich! Die Friedrichsstraße führt auch nach dem Stettiner Bahnhofe. An der Karlsstraße mußte es sich entscheiden. Bogen sie in diese ein, so . . .

      Ja, sie bogen ein! Triumph!

      Fahren Sie etwas schneller, Kutscher! rief ich, Etwas näher an die vordere Droschke! Aber nicht vorbei!

      Der Rosselenker erhob das Instrument, das zum Antreiben der Pferde erschaffen sein soll, und auch wohl wirklich antreibt, wenn es nicht gerade auf animalische Substanzen niederfällt, die absolut für alle Peitschen- und Schicksalsschläge dieser Welt erstorben sind. Aber er ließ es wenigstens niederfallen, und eine starke Einbildungskraft konnte sich geneigt fühlen, an einen schnelleren Trab zu glauben.

      Sei dem aber, wie ihm wolle – ich constatirte zu meinem Verdruß eine andere Thatsache. War es Zufall, war es Sympathie – der vordere Gaul schien ebenfalls seinen Trab zu beschleunigen, die Entfernung zwischen den beiden Droschken blieb dieselbe. Ich habe später viel über diese Thatsache nachgedacht und zweifle nicht mehr, daß es Sympathie war. Der vordere Gaul hörte die Schläge und fühlte sie mit. Ich sah sogar, wie er die Ohren schüttelte und den Kopf warf, als hätte er wirklich die Peitsche gefühlt. Mich auf dieses Factum stützend, habe ich später meine Beobachtungen über die Sympathie zwischen Droschkenpferden fortgesetzt und habe gefunden, daß sie nicht nur rührend ist, sondern an die schönsten Züge erinnert, die uns aus der Geschichte unterdrückter und gehetzter irdischer Wesen überliefert worden, ja daß sie die Sympathie gemeinschaftlich leidender Menschen bei Weitem übertrifft. Doch davon ein ander Mal!

      Ich ergab mich also in mein Schicksal, überzeugt, daß keine menschliche Kraft den Zwischenraum zwischen zwei sich bewegenden Droschken verringern könne, so wenig wie es möglich wäre, die Erde der Sonne zu nähern. Die Bekanntschaft war meiner Ansicht nach bereits gemacht. Es blieben mir ja vier, fünf, vielleicht sechs Tage, um sie fortzusetzen.

      Die Bahnhofs-Uhr mahnte mich überdies zur Eile. Drei Viertel auf zehn Uhr war schon vorüber, und ich Neuling glaubte, der Zug würde wirklich um zehn Uhr abgehen. Ich sprang mit meinem Reisetäschchen aus der Droschke. Meine Unbekannte war schon ausgestiegen. Ihre Gestalt war mittelgroß, so angenehm, wie ich vermuthet. Ein alter Herr und eine alte Dame waren ihre Begleiter, entweder die Eltern oder Verwandte.

      Vorn an der Casse empfingen mich meine drei Reisegefährten. Ein entsetzliches Gewühl herrschte in dem sonst so bequemen Raume. Im Nu hatte ich meine Dame aus den Augen verloren und drängte mich der Casse zu.

      Zweite Classe? Nicht wahr? rief ich Murchel zu.

      Natürlich! antwortete er. Machen sie nur!

      Das Billet war gelöst, die Paßkarte producirt. Thörichte Leute! Es gab deren, die im Geheimen murrten, daß man sie auch bei einem Extrazuge vorzeigen müsse. Absichtliche Verblendung! Kann uns das Wohlwollen der Polizei mit einem angenehmeren Talismann beglücken? Kann man sicherer reisen, als im Schutz einer Paßkarte, die uns die sicherste Gewähr bietet, daß welches Unglück auch über uns hereinbrechen möge. eine höhere Hand schützend über uns schwebt? Cook wäre sicherlich nicht erschlagen worden, hätte er sich mit seiner Paßkarte bei den Indianern des Archipels legitimiren können, Franklin würde nicht vergebens gesucht werden, hätte er seine Paßkarte bei Eskimos deponirt und auf diese Weise Identität festgestellt, und ich habe starken Grund, zu vermuthen, daß die glücklichen Erfolge D. Barthʼs zum großen Theil durch den Umstand unterstützt wurden, daß er sich bei Zeiten in den Besitz eines so schätzbaren Amulets zu setzen gewußt. Ueberhaupt habe ich bei dieser Gelegenheit mit Bedauern die moral-philosophische Bemerkung gemacht, daß nur diejenigen über die Paßkarten murrten, die keine hatten, oder bei denen sie nicht in Ordnung waren. Eine traurige Welt!

      Nun nach dem Perron! Neues Gewühl, neues Drängen nach guten Plätzen. Endlich sind sie gefunden. Wir sitzen in einem guten Coupé. Gott sei Dank!

      Und Gott sei Dank sagen auch meine Leser! Still, Still, keine Schmeicheleien, keine Einwendungen! Ich kenne das menschliche Herz genug, ich habe die Schwäche der sterblichen Natur genugsam durchforscht, um zu wissen, woran ich bin. Und war es übrigens meine Schuld, daß ich nicht eher in das Coupé gelangte? Also keine Schmeicheleien, ich bitte darum! Der Leser kennt meine Ansichten in dieser Beziehung, und ich erlaube mir jetzt, ihm meine Reisegefährten vorzustellen.

      Zuerst Herr Murchel, Weinhändler en gros, Inhaber der Firma Gotthold Abraham Murchel u. Comp., zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, fünf Fuß hoch, drei Fuß im Durchmesser, d. h. nur in der Magengegend, sehr jovial, gutmüthig, wie alle dicken Leute, ehrlich und bieder, mit heller Cravate, heller Weste und modernem Hut, als wolle er unter den Linden spazieren gehen – die lustigen kleinen Augen von angenehmer Aufregung und Erwartung der zukünftigen Dinge strahlend. Diese Zukunft wird auch dazu dienen, die anderweitigen Tugenden Herrn Murchelʼs in das gebührende Licht zu setzen. Gleich vielen großen Männern imponirt er mehr durch seine Thaten, als durch seine Persönlichkeit.

      Zweitens Herr Joseph Kitschotutsch, Papierhändler, mit dem eigenthümlichen und einschmeichelnden Beinamen »Vampyr«. Ungefähr vierzig Jahre alt, schlank, mit grauem Haar, dito Bart, und Backen, die immer das Ansehen hatten, als ob sie geschwollen wären, was sie in der That auch waren. Pflanzer-Anzug, d. h. Strohhut, heller Rock und dito Beinkleider. Charakter: ohne hervorstechende Eigenschaften wie es sich für einen Papierhändler ziemt. Besondere Kennzeichen: ahmt den sächsischen Dialekt nach, wenn er guter Laune ist, und unterläßt es nie, sowohl dieses edelste Idiom deutscher Zunge, als die deutsche Muttersprache überhaupt mit Fremdwörtern zu versehen, die zwischen seinen Lippen eine fast unkennbare Gestalt annehmen. Woher er den Namen »Vampyr« erhalten, ist noch bis heute zweifelhaft. Vielleicht haben seine geschwollenen und gerötheten Backen die erste Veranlassung dazu gegeben, vielleicht auch seine eigenen Mittheilungen über sein Vaterland, das südlich von der Donau liegt und bekanntlich die Heimath jener unheimlichen und räthselhaften Classe von Gespenstern ist, die sich bisher mit dem besten Erfolge dem Blicke jedes unparteiischen Beobachters zu entziehen gewußt haben. Möglich ist es auch, daß kleine Kunstgriffe des geschäftlichen Lebens ihm jenen schmeichelhaften Beinamen verschafft. Ich meinestheils war von jeher der Ueberzeugung und bin es heute noch, daß er den Beinamen Vampyr nur von der Gier erhalten, mit der er sich auf jedes Fremdwort stürzte und es bis auf das Blut aussaugte, so wie daß seine geschwollenen Backen nur von den riesenhaften Anstrengungen herrührten, jedes derartige Wort bis zum Unerkennbaren und Unfaßlichen zu zerkneten. Im übrigen harmlos.

      Drittens Herr August Friedrich Klapschig, Materialist vom reinsten Wasser, ohne allen Charakter. Seine einzigen bemerkbaren Eigenschaften sind ungefähr vierzig Jahre, seine Aehnlichkeit mit einem Känguruh, wenn er sitzt, und sein zurückgeschobener Hut, der ihm das Aussehen eines verdorbenen Engländers giebt. Seine Existenz in der Welt ist so problematisch, daß er selbst in Verlegenheit sein würde, wenn er sie zufällig beweisen sollte.

      Das waren meine Reisegefährten.

      Ich sehe mich unwillkürlich genöthigt, hier eine Pause zu machen, um meine Leser sich von ihrem Erstaunen erholen zu lassen. Jetzt brechen die Fragen los!

      Wie? Was? Sind das Reisegefährten für einen Schriftsteller, für einen Gelehrten, für einen Dichter (die gewöhnlichen Beinamen, die man uns giebt)? Drei der unbedeutendsten Menschen, die langweiligsten Subjecte, zu denen sich der einfachste Spießbürger nicht inʼs Coupé setzen würde, aus Furcht, vor langer Weile gezwungen zu sein, aus dem Fenster zu springen? Warum wählen Sie sich nicht bessere Gesellschaft, Herr? Wie können sie es wagen, uns mit solchen Leuten ennuyren zu wollen? Weshalb wählen Sie sich nicht geistreiche Leute zu Reisegefährten?

      Nur zwei Minuten Geduld! Ich will die Frage beantworten, noch ehe der Zug abgeht, kurz, summarisch.

      Ich liebe geistreiche und geistvolle Leute, ich verehre sie, ich bewundere sie. Aber ich gebrauche ihren Umgang wie Medicin, wie starken Kaffee, ich wähle sie selten zu meinen Freunden und nie zu meinen Reisegefährten.

      Geistreiche Leute haben immer Schrullen, sind aber selten Originale. Geistreiche Leute wollen immer dominiren, und ich mag nicht gern gehorchen. Geistreiche Leute sehen die Welt nie, wie sie ist, sondern nur durch die Brille ihres vielleicht sehr raffinirten und spirituellen Vorurtheils.


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