Der Weltensegler. Albert Daiber
Die Weltensegler
Erstes Kapitel
Vorbereitungen
Der glänzende Abendstern, die Venus, war im Westen untergegangen. Über Groß-Stuttgart und das Neckartal begann sich eine durchsichtig klare, aber etwas kalte Winternacht zu breiten. Nach und nach flammten Tausende und Abertausende von hellen Sternen am Firmamente auf, und als weißlich schimmernder Gürtel hob sich aus der Menge jener fernen, selbstleuchtenden Weltkörper scharf und deutlich die Milchstraße ab. Aus ihr heraus blickte das funkelnde Sternbild der Kassiopeia herab auf die alte, immer noch mit so viel Torheit erfüllte Mutter Erde, und der Große Bär mit seinen sieben hellen Sternen, jener geheimnisvollen, im menschlichen Leben eine so merkwürdige Rolle spielenden Zahl, leistete ihr auf der andern Seite des gewaltigen Himmelsgewölbes die aus der Urzeit stammende, treubewährte Gesellschaft. Kunterbunt, in ungleichmäßiger Verteilung, in verschiedenartiger Helligkeit und Größe lagen die übrigen Sterne dazwischen, scheinbar noch an ihrem alten, gewohnten Platze.
Langsam schritt die Nacht vor. Im Süden stieg das prachtvolle Sternbild des Orion über dem Horizont empor, und bald darauf erschien auch der Sirius, der glänzendste unter den glänzenden Sternen des Himmels. Für all diese Schönheit der Nacht, für all diese Großartigkeit jener fernen, selbstleuchtenden Sonnen schien augenblicklich derjenige am wenigsten zugänglich zu sein, dessen berufliche Aufgabe gerade die Erforschung des Sternenhimmels war. Professor Stiller, der berühmte Astronom, Lehrer an der durch Alter wie Überlieferung gleich ehrwürdigen Universität Tübingen, ruhte in seinem Lehnstuhl, mit den Fingern der Rechten ärgerlich auf dessen Seitenlehne trommelnd. Er saß in einem großen, mit einer Kuppel bedeckten Raum, der auf den ersten Blick als Observatorium oder Sternwarte zu erkennen war. Ein mächtiges Fernrohr auf massiven Pfeilern ragte aus einer Öffnung der drehbaren Kuppel hinaus in die klare Winternacht.
Professor Stiller hatte sich vor Jahren schon auf der ruhigen Bopserhöhe bei Stuttgart eine Privatsternwarte erbaut, um sich in ihr, fern vom lauten studentischen Leben und Treiben der Universitätsstadt, um so ungestörter der Planetenforschung zu widmen. Ganz besonders hatte der Mars, jener geheimnisvolle Planet, dessen Bahn die der Erde zunächst umschließt, Professor Stillers Interesse geweckt. Dieses Interesse wurde mehr und mehr zu einem Privatstudium, und aus diesem heraus wuchs eine so große Liebe zu dem fernen Planeten, daß in Professor Stiller der Gedanke immer festere Wurzeln faßte, mit dem Mars in unmittelbare Verbindung zu treten, mit andern Worten – ihn zu besuchen.
Gerade gegenwärtig stand Mars wieder in Erdnähe, und seine augenblickliche Entfernung von der Erde betrug nur 59 Millionen Kilometer. In der jetzigen Zeit der großartigsten Erfindungen, der gewaltigen, geradezu fabelhaften Fortschritte auf technischem Gebiete, der tieferen Erkenntnis der elektromagnetischen Strömungen im Universum und ihrer Ausnützung, vor allem aber der so hoch entwickelten Luftschiffahrt hatte der Gedanke eines Besuches des Mars, einer Reise dahin, durchaus nichts Befremdendes mehr. Im Gegenteil, so wie die Dinge heute lagen, bestand tatsächlich die Möglichkeit, die kühne Reise mit Aussicht auf Erfolg ausführen zu können.
Und Reisegedanken waren es auch, die des Professors Geist augenblicklich beschäftigten. Aber zu ihnen waren auch ärgerliche Vorkommnisse getreten und hatten den Gelehrten in eine gewisse zornige Unruhe versetzt. Vor dem Stuhle des Professors warf eine zierliche elektrische Lampe ihr Licht auf einen Stoß von Papieren, die, mit Zahlen und Zeichnungen bedeckt, bunt durcheinander geworfen, auf einem kleinen Tische seitwärts lagen. Aufseufzend strich sich Professor Stiller mit der Linken über die hohe, gedankenschwere Stirn.
»Diese lächerlichen Menschen, diese Blieder und Schnabel, die da in eigensinniger Weise meinen Anordnungen nicht Folge leisteten und mir dadurch schon oft den Bau meines Luftschiffes erschwerten, sind wahrlich nicht wert, daß ich mich noch länger über sie ärgere! Dem Himmel Dank, daß ich die folgenschwersten Dummheiten dieser beiden Erbauer meines Luftschiffes immer noch rechtzeitig ausgleichen konnte! Weg also mit allem Kleinlichen, Ärgerlichen! Diese Stunde soll Mars allein gewidmet sein!« Der Gelehrte stand auf. »Ja, ja,« fuhr er nach kurzer Pause zu sprechen fort, »ja, jetzt ist er in der Erdnähe, mein alter, rötlich strahlender Freund. Für meine Ungeduld, ihn heute abend noch zu sprechen, stille Zwiesprache mit ihm zu halten, erscheint er ziemlich spät. Und doch ist er der Pünktliche, nie Fehlende!«
Professor Stiller sah auf seine Uhr. »11 Uhr 42 Minuten! Noch 55 Sekunden, und Mars taucht im Osten auf. Rasch hinauf auf die Galerie und an das Instrument!« Bald stand letzteres gerichtet. Einer kleinen Feuerkugel gleich zeigte sich dem Auge des Beobachters der über dem östlichen Horizonte langsam emporkommende Mars. Voll Entzücken betrachtete Professor Stiller die ihm zugewandte Fläche des Planeten, auf der sich scharf und deutlich schmale, schnurgerade Linien zeigten.
»Gerade diese schnurgeraden, vielfach in gemeinsamen Punkten sich schneidenden Kanäle sind es, die in ihrer Künstlichkeit am deutlichsten und unzweideutigsten für das Vorhandensein vernunftbegabter Wesen dort oben sprechen,« kam es laut über die Lippen des Gelehrten. »Der Mars besitzt trotz seiner Atmosphäre verhältnismäßig geringe Wassermengen. Daher sind die Marsbewohner gezwungen, diesem Mangel durch künstliche Veranstaltungen nach Möglichkeit abzuhelfen, die geringen Wassermengen derartig auszunützen, daß, wenn ein Distrikt bewässert ist, die kostbare Flüssigkeit einem andern zugeführt wird. Wie oft habe ich nicht schon diese Tatsachen als Erklärung des zeitweisen Auftauchens und Verschwindens der Marskanäle in Tübingen vom Katheder herunter verkündigt!« rief Professor Stiller voll Begeisterung. »Ja, ein Volk mit hoher Kultur muß auf dem Mars wohnen, denn nur ein solches vermag so wunderbar geniale, dem allgemeinen Wohl dienende Bauten auszuführen,« fuhr der Professor in seinem lauten Monologe fort. »Die Jahreszeiten auf dem Mars scheinen mir in erster Linie von dem Schmelzen der Eismassen an seinem Süd- und Nordpole beeinflußt. Und dieses aus den polaren Eiszonen abschmelzende Wasser leiten jene Wesen dort oben zum Zweck der Befruchtung in die uns sogar von hier aus sichtbaren Kanäle. Welch herrlicher, üppiger Pflanzenwuchs muß sich da längs der Kanäle, an ihren Ufern entwickeln! Welch starke Vegetationsprozesse mögen sich dort oben abspielen, wo das Wasser in richtiger Verteilung überallhin geführt wird! Und was das wohl für ein Menschenschlag sein mag, der den Mars bewohnt? Uns vielleicht um Jahrtausende an allgemeiner Bildung voraus! Unmöglich wäre dies nicht. Ich muß sie kennenlernen wie den Boden selbst, auf dem sich das Leben dieser Wesen abspielt.«
Voll Erregung trat Professor Stiller vom Teleskop zurück. Aber das lebhafte Interesse an dem Gegenstande seiner Beobachtung trieb den Gelehrten rasch wieder an das Instrument. So verfloß Stunde auf Stunde mit astronomischen Forschungen und Berechnungen. Die funkelnden Sterne am Himmel verblaßten allmählich, und der Wintermorgen begann langsam heraufzudämmern, als der Professor endlich seinen Posten verließ und sich in sein warmes Heim zurückzog, das sich in unmittelbarer Nähe der Sternwarte befand.
Ein leichter Nebel zog über das Neckartal herauf und lagerte sich über Groß-Stuttgart. Vor der strahlenden Morgensonne aber zerfloß der dünne Schleier rasch und ließ die Stadt, die sich im Laufe ihrer Entwicklung aus dem Tale des Nesenbaches rechts und links am Ufer des Neckars vorgeschoben hatte, in vorteilhaftestem Lichte erscheinen. Der Winter hatte seinen Einzug noch nicht gehalten, und die bewaldeten Höhen des Neckartales trugen daher noch kein Schneegewand. In der reinen, frischen Luft des Dezembermorgens hoben sich klar und scharf die Türme und villenartigen Bauten ab, die da und dort von höher gelegenen Punkten auf die zu ihren Füßen liegende große Stadt herabschauten. Auch die alte Kapelle auf dem Rotenberge paßte prächtig zu dem gesamten Bilde voll landschaftlicher Anmut, durch das der Neckar, einem silbernen Bande ähnlich, seine Wasser strömen ließ.
Ein großer, freier und ebener Platz mit kurzer Grasnarbe, der durch die Abhaltung des schwäbischen Volksfestes von alters her weltberühmte Cannstatter Wasen, unterbrach in angenehmer Weise das Häusermeer und war von diesem nur auf einer Seite durch den Fluß scharf abgegrenzt. Am oberen Ende dieses mehrere Kilometer langen Geländes erhob sich ein gewaltiger Bretterbau.
stand in Riesenbuchstaben an dem rotundenartigen Bau. Und darunter die üblichen Worte:
Aus dem Innern des Gebäudes ließ sich augenblicklich nichts vernehmen, ein Zeichen, daß die Arbeit an dem Werke entweder eingestellt oder vielleicht schon beendet war.
Der Bau des Luftschiffes, das zum