Das Mormonenmädchen Erster Band. Balduin Möllhausen
halbe Stunde früher inʼs Freie gelangt, so hätten wir wenigstens noch ihren Kopf aus der Ferne entdecken müssen; denn noch ist es keine zwei Stunden her, seit der Sand Manneshöhe erreichte.«
Die junge Frau, mehr einem Instinct, als einer ruhigen Ueberlegung folgend, schmiegte sich noch fester an den Boden. Sie berechnete aus dem Geräusch, daß die Reiter an ihr vorüberziehen würden, und hoffte daher unentdeckt zu bleiben.
»Eine Frau, welche dem Gatten entflieht, sollte man ruhig laufen lassen, anstatt ihr in einem solchen verfluchten Wetter nachzujagen!« sagte die erste Stimme jetzt wieder mit noch ausgeprägterem Mißmuth.
Die junge Frau schauderte; die Reiter befanden sich ihr gerade gegenüber, kaum fünfzehn Schritte weit von ihr entfernt, und der Wind trug ihr jede einzelne Silbe ihres Gespräches zu.
»Mögen die Gebeine der Abtrünnigen im Sande bleichen, wenn es mir nur gelingt, des Knaben wieder habhaft zu werden,« entgegnete derjenige, den die junge Frau als ihren Gatten erkannt hatte; »ja, ich muß ihn wiederhaben, denn einestheils ist es mein Kind, und anderntheils knüpfen sich zu große Rechte an seine Person. Alles, Alles wäre verloren, geriethe er in unrechte Hände. Wir müssen ihn finden, und wir finden ihn auch, und sollten wir ihn halbtodt unter dem Sande —«
Weiter vernahm die Mutter nichts mehr, die Reiter galoppirten schon wieder außerhalb der Hörweite dahin, und immer schwächer drang zeitweise nur noch das Schnauben und Stampfen der Pferde zu ihr herüber.
»Wer wohl heiligere Rechte an Dich besäße?« sagte sie, in Thränen ausbrechend, indem sie dem erwachenden Kinde mit Küssen den Mund schloß, denn noch immer befürchtete sie, daß ein Ruf oder ein Aufschrei des Knaben die Reiter zurückrufen würde. »O wer besäße wohl heiligere Rechte an ein Kind, als die Mutter desselben?
Aber still, mein Engel, sie sollen Dich nicht haben, um Dich ihren schändlichen Zwecken dienen zu machen. Ich rette Dich, und sollten wirklich meine Gebeine im Sande bleichen. Du mußt, Du wirst gerettet werden, oder es giebt keine Gerechtigkeit mehr im Himmel. Auch trinken sollst Du, so viel Du nur willst, und wenn der Sturm sich gelegt hat, dann kehren wir zur Quelle zurück, um dort beständigeres Wetter abzuwarten; sei darum ruhig, mein Herzenskind, Deine Mutter ist bei Dir.«
Während die von Angst und Sorge erfüllte Mutter in dieser Weise dem jammernden Knaben beruhigend zusprach, suchte sie ihm, da der dicht wirbelnde Sand den Gebrauch der Tasse nicht gestattete, das Wasser gleich aus dem Schlauch einzuflößen. Es gelang ihr dies nur mit vieler Mühe. Nachdem sie endlich seinen Durst gestillt und auch selbst einen bescheidenen Trunk zu sich genommen, legte sie sich so neben ihn hin, daß er nicht von dem Sturm getroffen werden konnte. Mittelst der Decke stellte sie sodann, dieselbe unter ihren Schultern befestigend, eine Art Zeltdach für sie Beide her, und da sie sich überzeugte, daß in dem geschützten Winkelchen der Staub nicht mehr mit erstickender Gewalt in die Luftröhren eindrang, so drückte sie ihr Kind fest an sich, um in dieser Lage das Niedergehen des Windes abzuwarten. Das Kind entschlief bald wieder; auch die Mutter vermochte nicht lange dem Schlaf Widerstand zu leisten; sie war zu erschöpft von der beschwerlichen Wanderung, zu gebrochen durch die andauernde Seelenqual.
Der Sturm, dagegen schien unermüdlich zu sein. Mit wachsender Gewalt wühlte er den lockern Boden auf, um die für seine Kräfte nicht zu schweren Steinchen und Sandtheile zu einem dichten Nebel emporzuwirbeln. Auch über die Mutter und ihr Kind strich er hin; er fand dort eine geeignete Stelle, einen Theil seiner Last abzusetzen, und schleunigst baute er vor und hinter ihnen, wie um sie allmälig zu begraben, kleine Wälle auf.
Hui! wie der Sand über den entstehenden Hügelchen kreiste und kreiste, ehe er sich niederließ, und wie die sinkende Sonne so braunroth und trübe, so ganz ohne Strahlen durch die verdichtete Atmosphäre auf das Werk des Sturmes niederschaute! Aber um die Sandhügelchen herum, unter welchen zwei lebende Wesen immer schwächer athmeten, schlich näher und näher, die gierigen Krallen nach seinen Opfern ausstreckend, der grimme, unbarmherzige Tod. —
2
Die Matrosenschänke
Die Vereinigte Staaten-Regierung hatte den Mormonen den Krieg erklärt, und am Missouri wurden an allen den Zwecken entsprechenden Punkten mächtige Wagentrains befrachtet und ausgerüstet, theils um die nach dem Salzsee bestimmten Truppen durch die endlosen Steppen und Wüsten zu begleiten, theils um den schon in der Nähe des Salzseethales lagernden Commandos Lebensmittel und Kriegsmaterial zuzuführen. Doch Kriege wurden zu damaliger Zeit von den Bürgern der Vereinigten Staaten noch außerordentlich leicht genommen, namentlich aber ein Feldzug gegen die Mormonen, zu welchem man nicht einmal Freiwillige aufzubieten brauchte. Man hielt nämlich eine reguläre Armee von sechs- bis achttausend Mann für hinreichend, eine doppelt so starke Macht der entschlossensten und zugleich fanatisirten Männer nach allen vier Himmelsgegenden auseinander zu jagen, und gab sich nicht einmal die Mühe, den Mormonen die Wege, auf welchen sie ihre Hülfsmittel erhielten, abzuschneiden. Ja, man ging sogar so weit, den aus allen Richtungen, gehorsam den Befehlen ihres Propheten, herbeieilenden »Heiligen« und Proselyten, gegen gute Bezahlung Alles einzuhändigen, was sie wünschten, und wären es auch die für das warme Herzblut und die gesunden Glieder der Vereinigte Staaten-Truppen bestimmten Kugeln gewesen.
Die Aussicht auf einen bevorstehenden Krieg erweckte daher mehr freudiges Interesse, als Bedauern, und wenn sich das Interesse wirklich hin und wieder zum Enthusiasmus steigerte, so war damit sicher in den meisten Fällen die Hoffnung auf gewinnbringende Lieferungen für die Armee verknüpft, oder die feste Erwartung, endlich einmal wieder die höchst langweiligen Zeitungen mit den Berichten der Wunder der Tapferkeit, vorzugsweise ausgeführt von den früheren Zöglingen der vortrefflichen Officierschule zu Westpoint, angefüllt zu sehen.
Ja, auch dort lebte man noch in dem kindlichen Glauben, daß eine hübsche Haltung, Glanzstiefel, wohlgebürstete Uniformen und Lorgnetten die Hauptbedingungen seien, eine Armee furchtbar zu machen.
Die letzten Jahre der nordamerikanischen Geschichte haben indessen hinlänglich das Gegentheil bewiesen, und selbst die eiteln Franzosen und die dünkelhaften Engländer würden es nicht mehr wagen, in üblicher geringschätziger Weise über eine kriegsgewohnte Nation ein ganzes Volk in Waffen, zu urtheilen, trotzdem dasselbe an äußerem Glanz mit keinem von Beiden zu wetteifern vermöchte.
Der Krieg gegen die Mormonen war also erklärt, ohne daß dadurch New-York von der Stelle gerückt worden wäre. Es herrschte daselbst noch immer dasselbe Leben und Treiben. Schiffe gingen, Schiffe kamen, Menschen und Waaren wurden hierhin und dorthin gestoßen und versendet, und unter denjenigen, die dort nach langer Seefahrt den Fuß wieder zum ersten Mal aufʼs Festland setzten, befand sich gewiß keine geringe Zahl solcher Leute, deren Endziel die heilige Stadt der Mormonen am großen Salzsee. —
Doch wer hätte sich wohl die Mühe geben mögen, unter allen Denen, die dort landeten, die Mormonen herauszusuchen, um so mehr, da dieselben kein äußeres Erkennungszeichen an sich trugen? Sie sahen eben aus, wie alle übrigen Menschen und schienen nicht minder Eile zu haben, wie die Hunderte und Tausende verschiedener Gestalten, die alle ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgingen, ohne sich Einer um den Andern zu kümmern.
Wer nun in den letzten Nachmittagsstunden eines freundlichen Herbsttages, von der Landungsbrücke der zur Philadelphia-Eisenbahnlinie gehörenden Dampfboote aus, seine Blicke über den von der Fluth gestauten Hudson nach seiner Mündung zu hätte schweifen lassen, dem würde unter den zahllosen Fahrzeugen gewiß ein Schiff besonders aufgefallen sein, welches in der Mitte des Stromes regungslos vor Anker liegend, sich durch seine schlanken Spieren, straffe Takelage und durch die achtunggebietenden Reihen halb geöffneter Kanonenluken als ein Kriegsschiff bekundete. Von der Gaffel flatterten im Abendwinde die lustigen Sterne und Streifen der großen Republik, während der kurze gedrungene Schornstein noch immer die Rauchwolken der ersterbenden Maschinenfeuer in die mit Steinkohlendunst angefüllte Atmosphäre hinaufsandte und dem stattlichen Fahrzeug den äußern Charakter eines nach wildem Wettlauf dampfenden und rastenden Renners verlieh.
Wanderten die Blicke dann von den größeren Fahrzeugen zu den kleineren und allerkleinsten hinüber, so begegneten sie auch hier einem Boot, welches die Aufmerksamkeit länger fesselte, und zwar, weil es, wie die bewaffnete Schraubencorvette, den ernsten Zwecken des Krieges zu dienen schien. Es