Das große Schweigen. Carry Brachvogel

Das große Schweigen - Carry Brachvogel


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      Das große Schweigen

      Das stille Mahl nahte seinem Ende. Frau Schütting  schälte langsam einen Apfel. Ganz, ganz langsam schälte sie und sah so aufmerksam aus, als wäre dieser Apfel für sie das Wichtigste auf der Welt.

      An einem Nebentisch goß der Diener aus einer kleinen Messingmaschine eine Tasse schwarzen Kaffee für den Hausherrn ein. Frau Schütting trank nie Kaffee nach Tisch. Während der Diener die Tasse vor Herrn Schütting hinsetzte, ihm Zuckerdose und Rauchzeug zurechtschob, sagte dieser wie beiläufig, aber doch mit ganz bestimmter Betonung: »Martin, holen Sie Steinberger Cabinet aus dem Keller und Heidsieck Monopol! Staatsrat von Ebeling speist morgen bei uns zu Mittag!«

      Martin gab es einen kleinen Riß. Er war schon lange im Hause und hatte sich, teils durch Intelligenz, teils durch Indiskretion einen leidlichen Überblick über die geschäftlichen wie über die privaten Angelegenheiten der Firma und des Hauses Schütting erworben. Noch nie hatte Staatsrat von Ebeling, der große Mann des Königreichs, bei den Schüttings gespeist; wenn er's morgen tat, so bedeutete das sicher etwas Außergewöhnliches.

      Auch Frau Schütting war betroffen. Äußerlich blieb sie mit ihrem Apfel beschäftigt. Ebenso bedächtig, wie sie ihn vorhin geschält hatte, zerschnitt sie ihn jetzt in kleine Stückchen, spießte sie auf ein Konfektgäbelchen und verspeiste sie langsam, ganz langsam. Dazwischen dachte sie: »So hat er's endlich erreicht! Ebeling, die rechte Hand des Königs, der ihn bis jetzt demonstrativ übersehen hat, speist bei ihm! Nun wird er die ganze Konkurrenz schlagen und die Schüttingschen Eisenwerke werden die Lieferungen für das Reich bekommen.«

      Laut sagte sie, ungefähr ebenso beiläufig wie vorhin ihr Mann: »Martin, die Köchin soll um vier Uhr zu mir hinaufkommen, wegen des Diners für morgen! Um vier Uhr, nicht früher. Ich will schlafen!«

      Martin hatte sich entfernt. Herr Schütting las die »Kölnische Zeitung« und rauchte. Das letzte Apfelstückchen war verzehrt. Frau Schütting schob ihren Obstteller zurück, stand auf und verließ das Zimmer. Sie grüßte ihren Gatten nicht, und auch er blieb vertieft in seine Zeitung, als ob nur ein Dienstbote oder ein Haustier sich aus dem Gemach geschlichen hätte . . .

      Frau Schütting stieg die Treppe hinan, die vom ersten Stockwerk der Villa nach dem zweiten führte, wo die Schlafzimmer des Ehepaars lagen und das kleine Biedermeierboudoir mit den roten Mahagonimöbeln, in dem sich eigentlich Frau Tillas häusliches Leben abspielte. Unten, im Speisezimmer, traf sie sich mit ihrem Mann nur bei den Mahlzeiten. Die Gesellschaftsräume daneben standen seit Jahren schon leer. Schüttings gaben niemals Einladungen; wenn Herr Schütting aus Geschäftsrücksichten Gäste bei sich sah, wie morgen den Staatsrat, so genügte das Speisezimmer und das Rauchkabinett. Hier, in diesem kleinen Boudoir, las sie, arbeitete sie ein wenig, rauchte Zigaretten, empfing Besuche, – nur Herr Schütting überschritt diese Schwelle niemals. Hier speiste sie auch allein und vergnügt an den vielen, vielen Abenden, die er im Kontor der Eisenwerke verbrachte. Denn sie haßte das Speisezimmer, in dem sie Tag für Tag, Jahr um Jahr, schweigsam mit dem Schweigsamen am Tische sitzen mußte. Sie haßte es, als ob es ein lebendiger Zeuge ihrer stets sich erneuernden Demütigung gewesen wäre, als ob in ihm all das Schweigen langer Jahre sich zu einer feindlichen Macht verdichtet hätte. Sie haßte es um des Zitterns willen, mit dem sie es früher, da das Schreckliche erst begann, jedesmal betreten hatte. Sie haßte es um all der Worte willen, die hier nicht gesprochen worden waren. Sie haßte es, weil es von ihrer Kleinheit wußte und von der beherrschten Gewalt ihres Mannes . . .

      Nicht immer war das Leben im Schüttingschen Hause so still und gleichgültig dahingegangen. Fünfzehn, sechzehn Jahre zurück hatte das Paar sich mit einer Leidenschaft und einer Innigkeit geliebt, die über Flitterwochen und erste Ehejahre hinausreichten. Gegen den Willen seiner Familie hatte Rudolf Schütting die kleine Schauspielerin geheiratet und gegen den Willen seiner Familie war er grenzenlos glücklich mit ihr. Seine blonde Tilla war das einzig Lachende, das einzig Helle in seinem jungen Leben, das schon früh mit schweren Pflichten und einer großen Verantwortung belastet lag. Mit fünfundzwanzig Jahren erbte er von seinem jäh verstorbenen Vater (man munkelte von Selbstmord!) die Eisenwerke, ein Erbe, das reich aussah, jedoch innerlich heruntergekommen, verlottert war und gesunken in den Augen der Geschäftswelt. Die Werke wieder in die Höhe zu reißen, den Schüttingschen Namen wieder zu Ehren zu bringen, bis er neben den ersten Großindustriellen des Königreichs stand – das hatte sich der junge Rudolf Schütting als Lebensaufgabe gestellt. Leicht war diese Aufgabe nicht, denn der moralische Kredit der Firma war, vor allem durch die Selbstmordgerüchte, erschüttert, die Konkurrenz zog daraus Nutzen, die Aufträge der Regierung, um die sich der junge Chef heiß bemühte, weil sie offiziell die Vertrauenswürdigkeit seines Unternehmens bestätigt hätten, blieben aus. Amerikanische Krisen kamen, schlechte Jahre, Unterbilanzen. Manch liebes Mal dachte der Sohn daran, den Weg zu gehen, den der Vater gegangen war . . . Aber da war Tilla, Tilla, die Blonde, Helle, Lachende, die ihn über alle Sorgen wegbrachte, die jedesmal wieder frisch und lockend wie das Leben selber vor ihn hintrat, wenn er meinte untergehen zu müssen in Mißgeschick und Verzweiflung. Er hatte sie aus so armseligen Verhältnissen herausgeholt, daß sie seinen Kummer über die mißlichen Finanzen der Firma nie recht verstand, daß sie sich immer reich und geborgen vorkam in diesem Haus, in dem nirgendwo das Gerichtssiegel klebte und in dem man sich jeden Tag an guten Dingen sattessen konnte.

      Diese naive Anspruchslosigkeit entzückte ihn. Er dachte manchmal: »Weiß Gott, solch eine Bescheidenheit wiegt eine Million Mitgift auf! Hätt' ich eine reiche Frau geheiratet, sie würde mich mit Ansprüchen bestürmen, indes Tilla sich glücklich schätzt, wenn ich ihr zehn Mark schenke.«

      Er dachte das aber nicht nur, sondern war auch unklug genug, es seiner Familie gegenüber zu äußern, zu Schwestern, Tanten, Basen. Die lächelten süßsäuerlich, beteuerten, daß sie sehr froh seien über sein Glück und sagten untereinander: »Abwarten! Er wird schon noch sehen, was für einen Schatz er geheiratet hat!«

      Er merkte wohl bald, daß sie an Tilla nicht glaubten; um so fester glaubte er an sie. Ohne daß er's merkte, ohne daß sie selbst es darauf anlegte, ward sie vollkommen Herr über ihn und seine schwere Art. Nicht ein Pantoffelregiment im gewöhnlichen Sinn führte sie, bei dem sich's immer nur ums Rechtbehalten dreht, nein, viel tiefer reichte ihre Macht, wenn sie ihnen gleich beiden kaum zum Bewußtsein kam. Es gab für Rudolf Schütting bald nur noch zwei Dinge im Leben: die Arbeit und seine Frau. Für nichts andres blieb mehr Raum, alles schien daneben klein, unwichtig, arm. Die Arbeit war der Kampf – Tilla der Preis des Daseins, eines Daseins, das ihm von Tag zu Tag werter wurde, da langsam zwar, ganz langsam, aber doch merklich ein neuer Aufschwung für die Werke sich ankündigte. Der Selbstmord seines Vaters und alle Gerüchte, die sich daran geknüpft hatten, gerieten allmählich in Vergessenheit. Die Tüchtigkeit des jungen Chefs wurde bemerkt und seine Solidität, die dennoch nicht der Kühnheit und des scharfen Blickes für die Konjunktur entbehrte. Die Schüttingsche Firma stand zwar noch lange nicht neben den ersten Großindustriellen des Königreichs und Staatsrat von Ebeling vermied immer noch, Herrn Schütting junior naherzutreten, – aber das alte Mißtrauen gegen die Firma war doch überall im Schwinden, das spürte man. Die Heirat mit der kleinen Schauspielerin hatte zwar wieder geschadet: keine Mitgift hatte dem Geschäft neue Lebenskraft zugeführt, dafür aber war eine vielleicht zweifelhafte Existenz mit Abenteurerbedürfnissen in dies Haus getreten, das vor allem und in jeder Hinsicht der Ruhe, der Sicherheit und der Kräftigung bedurft hätte. Aber da Tilla Schütting wie die einfache Frau eines soliden Kaufmanns lebte und sich auch sonst nur durch ihr hübsches, keckes Gesicht von den andern Damen ringsum unterschied, dachte man bald nicht mehr daran, daß Rudolf Schütting sich sein Weib nicht aus einer »Familie«, sondern von einem Stadttheater geholt hatte. Dachte um so weniger mehr daran, als die Schüttings ganz zurückgezogen, nur sich und ihrem Glück lebten. –

      In jenen fernen Tagen war Herr Schütting gar oft in dem Nestchen mit den roten Mahagonimöbeln zu Gast gewesen.

      »Zu Gast bist du hier, mein Lieber!« sagte Tilla lächelnd. »Ich will dich hier nur als Gast sehen, nie als Hausherr! Denn ein Gast muß immer liebenswürdig und nett sein, darf kein finsteres Gesicht machen und keine Sorgen zeigen . . .«

      »Wem soll ich sie zeigen, Tilla, wenn nicht dir?«

      Sie warf sich an seine Brust, küßte ihn.

      »Sollst du auch! Alles will ich mit dir tragen, an allem will ich mein Teil haben! Aber erst sei mein Gast: erst trink lieb und nett mit mir Tee und sage,


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