Dichters Liebestod. Carry Brachvogel


Dichters Liebestod - Carry Brachvogel


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      Dichters Liebestod

      Zum ersten Male jährte sich der Sterbetag des großen Romanciers, der wie kein zweiter der Frauen Seele erkannt und geschildert. In dem Dorf, das ihn geboren, in dem er jeden Sommer ausgerastet von der Großstadt, war ihm ein Denkmal errichtet worden, von dem heute die Hülle fallen sollte. Von allen Gauen des Reiches und des Auslandes waren Verehrer und Verehrerinnen des Hingeschiedenen gekommen, um der wehmütigen Feier beizuwohnen; große Zeitungen hatten Berichterstatter hergesandt. Wie vor einem Jahre lastete auch heute noch auf allen das schreckensvolle Geheimnis, das die letzten Stunden des großen Mannes umgab: unweit seines Geburtshauses hatten sie ihn auf einem Feldweg tot aufgefunden. Nie hatte man mit Bestimmtheit erfahren können, was ihn so jäh weggerafft; Gerüchte liefen um, eines immer abenteuerlicher als das andre, wurden gierig geglaubt und alsbald wieder verworfen, sobald ein neueres, noch ungeheuerlicheres sich vernehmen ließ. Selbstverständlich hatten sie allesamt einen romantisch-erotischen Untergrund. Aristokratinnen, Künstlerinnen, Schauspielerinnen, großstilige Hetären – sie alle waren schon an das Grab des kaum Fünfunddreißigjährigen beschworen worden, denn sie alle hatte er geliebt, gekannt und künstlerisch verwertet; je spitzfindiger, raffinierter, perverser sie organisiert waren, um so mehr hatte ihr Wesen den Mann und Psychologen in ihm gereizt.

      Nach der Enthüllung des Standbildes gab es im Schloß des freiherrlichen Gutsherrn ein kleines Diner, an dem außer einer jungen Nichte der Freifrau und einer Freundin – Bildhauerin von Beruf – auch drei Journalisten teilnahmen, die durch Beziehungen aller Art dem Freiherrn besonders empfohlen waren. Sie vertraten je ein französisches, englisches, deutsches Weltblatt und fieberten natürlich vor Ungeduld, ihrer Zeitung nicht nur grobe Realitäten zu berichten, wie ein beliebiges Korrespondenzbureau, sondern stimmungsvolle Intimitäten, die Agence Havas, Laffan und Wolff nimmer erfahren.

      Das Gespräch kehrte trotz flüchtiger Streifzüge auf andern Gebieten, immer wieder zu dem toten Dichter zurück. Als nach dem Dessert der Freiherr in agrarischen Hausangelegenheiten abgerufen wurde und die drei Damen allein mit den drei Männern der Feder bei Kaffee, Likör und Zigaretten blieben, klang der eine Name unaufhörlich aus allen Reden heraus, schwebte auf jeder blauen Rauchwolke, die im Gemach umherzitterte, schien die Lebendigen verdrängen zu wollen, um den Raum mit der Gestalt des Toten zu erfüllen, von dem keiner wußte, wie er gestorben war. –

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