Der letzte Höhlenmensch. Emil Robert Kraft
rt Kraft: RPh01 – Der letzte Höhlenmensch
Aus dem Reiche der Phantasie
Es ist ein freundliches, Wohlhabenheit verratendes Wohnzimmer, in welches uns dieses Vorwort führt.
Der in der Mitte stehende Tisch war ganz mit Blumentöpfen und Sträußen in Gläsern besetzt, ferner lagen einige geöffnete Briefe darauf, ein paar Strümpfe, eine Briefmappe und andere Sachen – also war es wohl ein Geburtstagstisch, den man bis jetzt, bis zum späten Abend, noch nicht abgeräumt hatte.
Neben dem Seitentischchen, auf dem die Petroleumlampe brannte, stand ein verstellbarer Krankenwagen, und in demselben saß mit verhüllten Füßen ein vierzehnjähriger Knabe. Sein Gesicht mit der hohen Stirn und den großen, klugen Augen war leidend und farblos, und an dem Wagen lehnten zwei Krücken.
Bis vor zwei Jahren war Richard L**, der einzige Sohn sehr vermögender Eltern, ein fröhliches Kind gewesen, der fleißigste Schüler eines Gymnasiums, der beste Turner in seiner Klasse, die Freude von Eltern und Lehrern, und jedermann hielt ihn wegen seiner geistigen und körperlichen Gaben für berechtigt zu den größten Hoffnungen.
An einem einzigen Tage war alles vernichtet worden. Ein auf der Ferienreise erlebtes Eisenbahnunglück beraubte ihn der Eltern, lähmte ihn an beiden Beinen, und als er endlich aus dem Hospital entlassen werden konnte, war er siech für immer.
Richard besaß nur noch einen einzigen Verwandten, eine ältere, alleinstehende Witwe, und diese kam zu ihm in das Haus, das ihm gehörte, um ihn bis an ihr Lebensende zu pflegen. Es wurden auch Hauslehrer besorgt, und so vergingen die Tage des Gelähmten mit Lernen, Spazierenfahren und Träumen, die nur ab und zu einmal von dem Besuch eines ehemaligen Schulfreundes unterbrochen wurden.
Heute war er vierzehn Jahre alt, und obwohl er sich an sein Unglück gewöhnt hatte und manchmal auch wieder lachen und scherzen konnte, so war er dennoch ein Träumer geworden, dessen junger Geist zwar durch einsames Nachdenken ungemein schnell reifte, der aber sein Innerstes keinem Menschen offenbarte.
Und heute, an seinem Geburtstage, war wieder einmal solch’ ein Tag, an dem der Knabe keinen Menschen sehen wollte. Vierzehn Jahre! Das ist der Termin, an dem die meisten die Kinderschuhe ablegen und zur ernsten Arbeit ins öffentliche Leben treten. Ach, welche hochfliegenden Pläne hatten er und seine Freunde gehabt, und wenn sie auch in kindlichen Köpfen entsprangen, in denen noch Indianerhäuptlinge, Seeräuber und Robinson eine Hauptrolle spielten, so waren sie doch auch mit ernsten Idealen vermischt gewesen. Wie gern wollte er heute der Sohn des ärmsten Tagelöhners sein und sich sein Brot mit der schwersten Arbeit verdienen, wenn er nur den Gebrauch seiner gesunden Glieder gehabt hätte! Doch das war vorbei, vorbei!
Seufzend griff er nach einem der vielen auf dem Tischchen liegenden Bücher. Es war Robinson Crusoe, der immer seine, wie wohl auch jedes anderen Knaben, Lieblingslektüre gewesen. Die anderen Bücher führten die Titel ‚Lederstrumpf‘, ‚Gullivers Reisen‘, ‚Zwanzigtausend Meilen unter dem Meere‘, ‚Reise von der Erde zum Monde‘, ‚Die Wunder der Urwelt‘ – alles phantastische Sachen.
In sie hatte er sich heute abend versenken wollen.
Aber es war nichts, die Lektüre zerstreute ihn nicht. Er war der arme Krüppel, dem nichts mehr zu hoffen übrig blieb.
Seufzend legte er das Buch wieder weg, lehnte sich zurück und schloß die Augen, und zwei große Thränen rannen langsam über die bleichen Wangen.
Da plötzlich – was war das? Erschrocken blickte er auf. Die Lampe war von selbst ausgegangen, ein anderer, seltsamer Schein und ein süßer Weihrauchduft erfüllten das Zimmer, und vor ihm stand in verklärtem Lichte die schlanke Gestalt eines jugendlichen Weibes.
Ihr Gewand erstrahlte in wunderbarer Farbenpracht, es schien aus lauter kleinen, bunten Bildchen zusammengesetzt zu sein, die beständig wechselten, als ob das ganze Kleid lebendig wäre. Richard sah Gebirge und Thäler, Wälder und Wiesen, Wüsten und Eisfelder, Paläste und Hütten, er sah alle Menschenrassen darauf sich bewegen, er sah Taufen und Hochzeiten und Leichenbegängnisse – das ganze menschliche Leben spielte sich in allen Variationen in den Bildern ab, und dann sah er noch eine Menge von fremdartigen Gestalten, von Drachen und Ungeheuern, und alles lebendig und in bunten Farben strahlend.
In ihrem schönen Antlitz erglühten ein paar Augen in übermächtigem Feuer, und in ihrer Hand hielt sie einen Lorbeerzweig.
“Armer Richard!” begann die wunderbare Erscheinung mit sanfter Stimme. “Fürchte Dich nicht, ich bin eine gute Fee. Ich habe an der Wiege aller derer, die Großes und Schönes und Unvergängliches geschaffen haben, Pate gestanden, und jetzt bringe ich Dir mein Geburtstagsgeschenk. Man nennt mich die Phantasie. Ein grausames Schicksal hat Deine Zukunft, zu der Du berechtigt, zerstört, ich kann das Geschehene nicht rückgängig machen, auch Deine Gesundheit nicht wieder herstellen, wohl aber kann ich Dir für das Verlorene einen Ersatz geben.
In Deinem Schlafzimmer befindet sich eine Thür, die in eine kleine Kammer führt. Jede Nacht vor dem Schlafengehen überlege Dir, was Du träumen möchtest, lege Dich ins Bett, stehe wieder auf, öffne die Kammerthür, tritt durch sie, und Du bist dort, wo Du zu sein wünscht, hast das, was Du wolltest. Liebst Du mit Freunden zusammen zu sein – sie werden Dich erwarten. Es ist zwar nur ein Traum, aber er soll nichts an Wirklichkeit einbüßen, und wenn er scheinbar ein Menschenalter währte. Den Anfang kannst Du Dir selbst wählen, das andere überlasse mir, sonst würde es Dir keine Freude machen. Hast Du genug, oder bist Du in Gefahr, so denke einfach ‚ich will erwachen!‘ und der Traum ist aus. Sonst aber sollst Du nicht wissen, daß Du nur träumst.
Als Geist kann ich auch in die Zukunft sehen. Trotz Deiner gestörten Gesundheit wirst Du ein hohes Alter erreichen. So lerne fleißig, daß Du Deine Jugend dereinst nicht bereust, und merke Dir die Bilder, die ich Dir vorgaukeln werde, damit Du später auch andere mit Deinen Erzählungen erfreuen kannst. Denn wenige sind es, die ich zu meinen Taufpaten auserwähle. Dies ist mein Geschenk.”
Sie berührte mit dem Lorbeerzweig seine Stirn und war verschwunden.
Wieder schrak Richard auf und blickte verwundert um sich. Die Lampe brannte, neben ihm stand die Tante, die ihm die Hand auf die Stirn gelegt hatte.
“Du fieberst, Richard, Du hast einen ganz heißen Kopf. Fühlst Du Dich krank?”
“Nein – aber – war nicht eben jemand im Zimmer?”
“Wer sollte denn hier gewesen sein? Ich fand Dich schlafend, als ich eintrat, und Du erwachtest, als ich meine Hand auf Deine Stirn legte.”
“Solch ein merkwürdiger Traum – und so deutlich!” flüsterte Richard kopfschüttelnd.
“Du solltest lieber nicht so viel romantische Sachen lesen, sie regen Dich zu sehr auf, mein Kind.”
Abermals aufseufzend legte er das noch in den Händen gehaltene Buch zurück. Ach, es wäre doch zu schön gewesen, wenn ihm die Fee nicht nur im Traume erschienen wäre!
“Bringe mich zu Bett, liebe Elise, bitte.”
Sie rollte ihn in sein Schlafzimmer und half ihm ins Bett.
Das Gemach befand sich in einem sehr alten Patricierhause voller Ecken, Winkel und Erker.
“Bitte, Elise, öffne doch dort einmal die Thür!”
“Die Thür zu dem Verschlag? Warum? Da ist nichts drin, mein Kind.”
Aber die alte Frau that dem armen Knaben doch den Willen, und nun sah Richard vom Bett aus in den finsteren Raum und legte sich, über sich selbst lächelnd, auf die andere Seite.
Ach, es wäre doch zu schön, wenn die Versprechungen der holden Fee in Erfüllung gingen! Was würde er sich jetzt zum Beispiel wünschen? Er hatte neulich viel über die vorsintflutliche Zeit der Erde gelesen, es hatte ihn sehr interessiert – ja, das möchte er, in die Urzeit der Erde einmal zurückversetzt sein, er selbst so, wie er jetzt war – natürlich mit gesunden Füßen und kräftig, und auch ein Boot wünschte er sich, weil es damals ja so viel Seen und Flüsse gegeben haben sollte, und ein gutes Gewehr mit Patronen, die niemals alle wurden, und dann Jagdabenteuer mit Höhlenlöwen und Höhlenbären, mit Mammuts Ichthyosauren und allen den anderen riesenhaften Ungeheuern – kurz, ein Lederstrumpfleben