Bis an die Grenze. Grazia Deledda

Bis an die Grenze - Grazia Deledda


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in ihrem Herzen aber stimmte sie dem Vater bei, obwohl sie nicht wagte, der Mutter, vor der sie äußersten Respekt empfand, zu widersprechen. Sie liebte Luca nicht. Sie waren aufgezogen worden, als wären sie einander fremd. Der damals ganz von seinen Geschäften in Anspruch genommene Vater hatte sich nicht um sie gekümmert. Und die Mutter hatte sie erzogen, wie sie selbst erzogen worden war: sie zur Kirche geführt, zu Hause einander ferngehalten und sie gelehrt, daß der heilige Ludwig nicht gewagt, seine Mutter anzusehen, weil sie eine Frau war! Das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester war wenig herzlich. Mehr als einmal hatte Luca Gavina geschlagen, sie ihn mehr als einmal gekratzt. Jetzt zankten sie sich nicht mehr, aber wenn Gavina an Luca dachte, empfand sie ein gewisses Unbehagen, eine Art Beklommenheit.

      Während des Schweigens, das auf die letzten Worte ihres Vaters folgte, wiederholte sie für sich die traurige Prophezeiung: Es wird ein schlechtes Ende nehmen mit ihm . . . Doch alsbald ward sie abgelenkt dadurch, daß ihre Eltern über etwas sprachen, das sie im besondern anging: Sollte Gavina jetzt, da sie die Schule hinter sich hatte, das ländliche Kostüm tragen wie ihre Mutter und ihre Tanten, oder nicht? Die Mutter war für die übliche Tracht – der Vater nicht. Er kleidete sich als Städter und wollte, auch Gavina solle ihre jetzige Kleidung, die zwischen der einer Bäuerin und einer Dame die Mitte hielt, beibehalten; das schicke sich für ein junges Mädchen ihres Standes und koste wenig.

      Es gelang ihm, seine Frau zu überzeugen. Gavina wurde nicht gefragt. Weder an dieser noch an andern Fragen sollte sie Anteil haben – doch sie lehnte sich nie gegen die Bestimmungen ihres Vaters auf, denn sie hatte volles Vertrauen zu ihm. Nie wagte sie, der Mutter in die strengen Augen zu schauen; den kindlichen Blick des Vaters aber erwiderte sie lächelnd.

      Sobald die Eltern sich in ihr im ersten Stockwerk befindliches Schlafzimmer zurückgezogen hatten, ging auch Gavina hinauf, sich auszukleiden. Ihr Zimmer im obersten Geschoß hatte zwei Fenster, eines nach der Straße und eines nach dem Garten. Gleich allen andern Zimmern des Hauses war es geräumig, hatte getünchte Wände und eine Decke aus grauem Holz und war nur mit dem allernotwendigsten Gerät ausgestattet, ohne Vorhänge, ohne Bilder, ohne Teppiche. Den einzigen Zierat bildete eine auf der Kommode stehende alte Uhr aus Ebenholz mit kleinen Alabastersäulen, die ein Gärtlein voll winzig kleiner Rosenbüsche trugen. Diese Büsche standen natürlich nicht nur in Blüte, sondern auf den von der Zeit verblichenen gelben und roten Röschen waren goldene Schmetterlinge zu sehen und seltsame, grünschillernde Bienen, die es nie müde zu werden schienen, an den Blumen zu saugen, auf denen sie saßen. Während ihrer Kindheit hatte Gavina Stunden und Stunden lang die alte Uhr betrachtet, die nicht mehr ging, und es war ihr davon ein romantischer Eindruck verblieben, als ob alle Gärten der Welt voll verblaßter Rosen und schillernder Bienen sein müßten.

      Sie legte sich nicht nieder, sondern öffnete das Fenster nach dem Garten zu und lehnte an der noch sonnenwarmen Brüstung. Unter dem Fenster erstreckte sich das Dach der Küche aus rötlichen Ziegeln, von Büscheln dürren Grases und von Weinranken bedeckt, die sich dem anschließenden Laubengang entwunden hatten, von dem ein wahrhaft tropischer Pflanzenwuchs aufschoß. Zwischen den Reihen von den Raupen zerfressener grauer Kohlköpfe erhob sich einsam und gleichsam stolz eine Steineiche neben einem ohne Mörtel gefügten Mäuerchen, jenseits dessen andere Gärten waren und die Hänge sich allmählich zum Tal hinunter senkten. Jener ernste, mächtige Baum erschien zwischen den Kohlköpfen und Sträuchern wie ein aus dem Bergwald herniedergestiegener Verbannter. Gruppen von schwarzen Häuschen, die aussahen, als ob sie sich gegeneinanderlehnten, um nicht ins Tal abzustürzen, reihten sich zur Rechten des Gartens, vor dem grauen Hügel, den die Kathedrale beherrschte.

      Die Augen Gavinas weilten nicht auf der Tiefe. Sie schauten nach dem Horizont, über den ein Lichtglanz ausgegossen schien. Berge aus Granit, aus Kalk- und Schiefergestein, am Morgen lichtblau und rosig, bei Sonnenuntergang rot und violett, und um diese heiße Mittagstunde von grauem Dunst verschleiert, schlossen den Horizont gleich zerbröckelnden Kyklopenmauern.

      Die fernsten Höhen, mit Umrissen wie Gewölk so zart, erschienen während drei Vierteln des Jahres weiß und trugen auch jetzt noch auf den höchsten Gipfeln wie Perlmutter schimmernde Kappen.

      Auf jenem lichten Kreise ruhten Gavinas Blicke unablässig, wie bezaubert. Sie wußte, daß hinter der Mauer der Berge eine Welt voller Wunder sich ausbreitete – doch an diese Welt dachte sie nicht. Sie schaute dorthin, weil für sie hoch über jenes leere Himmelsblau sich eine Welt erhob, gegen die die unsere nur eine melancholische Heide ist. Dort war der Himmel und der Traum der Träume: Gott.

      Gewöhnlich ruhte Gavina um diese Zeit. Heute hielt eine aus Unruhe und Hoffnung gemischte Erregung sie wach. Von dem Gartenfenster ging sie zu dem nach der Straße hinüber, um ein wenig Ausschau zu halten.

      Pferdegetrappel erscholl. Eine Jagdgesellschaft ritt die Straße herauf und hielt vor einem Gittertor, auf dessen rohen Pfeilern zwei Adler aus Gips ihre verwitterten Fittiche entfalteten. Die Jäger waren fast alle schöne junge Leute mit sonnenverbrannten Gesichtern; sie lachten und schwatzten und schienen sich auf ihren Reittieren so wohl zu fühlen wie zu ungestümem Lauf bereite Kentauren.

      Hoch von ihrem Fenster herab betrachtete Gavina die Szene mit begehrlichen Augen. Ein nicht mehr junger, aber noch schöner großer Mann mit dunklem Haar und vollem, frischem Gesicht ritt soeben aus dem Tor mit den zwei Adlern heraus und setzte sich an die Spitze des Trupps. Sie ward rot, als sie ihn sah; jenen Mann haßte und bewunderte sie zugleich: er war reich, er reiste und ging seinem Vergnügen nach; und obwohl er gut Freund mit seinem Nachbar Kanonikus war, trug er einen grimmigen Haß gegen die Priester und die Religion zur Schau. Für sie war dieser Genußmensch die Verkörperung der Todsünde; und doch – während die Jäger davonritten, folgte sie mit ihren Gedanken der Gestalt ihres Nachbars, die in ihrer weißen Kleidung auf dem weißem Pferde schön wie eine Reiterstatue erschien.

      Nun reiten die Jäger aus der Stadt, die von Staub und Sonnenschein weißleuchtende Landstraße hinab, das Tal entlang und zu dem östlichen Berghang hinüber, wo die Wildschweine und Füchse hausen. Dort werden die Jäger ein oder zwei Nächte lang lagern wie ein Nomadenstamm und zwischen den Felsen im Gesträuch den Wechsel des Wildes belauern. Der Mond wandert nach Westen hin, von einem Berge zum andern und leuchtet weithin über die Heide. Elia, der Nachbar, sitzt mit einem jungen Gefährten hinter einem Felsen; sie plaudern leise und erzählen einander ihre Liebesabenteuer. Ja, sie weiß es wohl: Priamo Felix, der Seminarist, hat es gesagt: wenn zwei Männer beisammen sind, so sprechen sie von Weibern. Und Signor Elia, sagen die Leute, hat manche Liebschaft gehabt; er ist ein Mann, der keine Skrupel kennt. Gavina verabscheut ihn – aber doch kann sie nicht umhin, darüber nachzudenken, was er und der andere Jäger, hinter dem Felsen sitzend, einander anvertrauen.

      Leise Schritte auf dem Flur wecken sie aus ihrer Träumerei. An der Tür des Nebenzimmers ruft Paska durch das Schlüsselloch: »Luca, wach’ doch auf, du schläfst ja wie tot! Willst du denn heut’ nicht essen?«

      Luca antwortet nicht. Da aber Paska bei ihrem Mahnen verharrt, öffnet Gavina ihre Tür und sagt ärgerlich: »Gib es doch auf, du dumme Person! Es wäre wohl ein großes Unglück, wenn der nicht wieder wach würde!«

      Paska, an das wenig liebevolle Verhältnis zwischen den Geschwistern gewöhnt, widersprach nicht; sie ging wieder hinunter, auf den Treppenstufen aus Schiefer die feuchten Spuren ihrer bloßen Füße zurücklassend.

      Auch Gavina ging hinunter, den Kaffee zu bereiten. Und zu dem einförmigen Geräusch der Mühle trällerte sie ein Ritornell im Dialekt, nach der einzigen melancholischen und primitiven Weise, die sie kannte:

      Su sordadu in sa gherra

      Non chè s’est olvidadu.

      Non s’ammentad de Deu.

      Torrat su corpus meu,

      Pustis chi est sepultadu,

      A sett’ unzas de Terra.1

      Dieser Gesang konnte die Vorstellung von einer Araberin erwecken, die vor einem von Palmen und Kaktus beschatteten Zelt unter leisem, einförmigem Singen ihren Kaffee bereite. Und der Hintergrund des Fensters, vor dem Gavina hantierte, konnte die Illusion nur erhöhen. Es war ein Stückchen Oase: vor einem glänzend grünen Brustbeerbaum starrte ein


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Der Soldat im Kriege läßt alles hinter sich und vergißt selbst Gott. Wenn mein Leib begraben ist, so verwandelt er sich in sieben Unzen Staub.