Aufzeichnungen eines Jägers. Иван Тургенев
will gehen und eine Furt suchen«, fuhr Jermolai mit fester Überzeugung fort, als wenn in jedem Teich unbedingt eine Furt sein müßte; er nahm Sutschok die Stange aus der Hand und ging, den Boden vorsichtig betastend, in der Richtung zum Ufer.
»Verstehst du denn zu schwimmen?« fragte ich ihn.
»Nein, ich verstehe es nicht«, antwortete seine Stimme hinter dem Schilf.
»Nun, dann wird er ertrinken«, bemerkte Sutschok gleichgültig, der auch vorher schon nicht über die Gefahr, sondern nur über unseren Zorn erschrocken war und nun, vollkommen beruhigt, nur ab und zu pustete und keinerlei Bedürfnis nach einer Änderung seiner Lage äußerte.
»So ganz ohne Nutzen zugrunde gehen«, versetzte Wladimir mit klagender Stimme.
Jermolai blieb länger als eine Stunde aus. Diese Stunde erschien uns als eine Ewigkeit. Anfangs riefen wir uns mit großem Eifer an; dann beantwortete er immer seltener unsere Rufe und verstummte schließlich ganz. Im Dorf läutete man zum Abendgottesdienst. Wir sprachen nicht miteinander und vermieden sogar, einander anzusehen. Die Enten schwirrten über unseren Köpfen; einige von ihnen machten sogar Anstalten, sich neben uns niederzulassen, stiegen aber plötzlich schnurgerade auf und flogen mit Geschrei davon. Wir fingen an, vor Kälte steif zu werden. Sutschok bewegte schwer die Augenlider, als wollte er einschlafen.
Endlich kam zu unserer unbeschreiblichen Freude Jermolai wieder zurück.
»Nun?«
»Ich war am Ufer, habe eine Furt gefunden . . . Kommen Sie.«
Wir wollten uns sofort auf den Weg machen, aber er holte erst unter dem Wasser aus der Tasche einen Strick hervor, band die geschossenen Enten an den Beinen fest, nahm beide Enden des Strickes zwischen die Zähne und watete voraus; Wladimir folgte ihm und ich Wladimir. Sutschok beschloß den Zug. Bis ans Ufer waren es etwa zweihundert Schritt. Jermolai schritt tapfer und ohne stehenzubleiben voraus (so gut hatte er sich den Weg gemerkt) und rief nur ab und zu: »Mehr links, hier rechts ist eine Untiefe!« oder: »Mehr rechts, links kann man im Schlamme versinken . . .«
Das Wasser reichte uns zuweilen bis an den Hals, und der arme Sutschok, der kleiner als wir alle waren, mußte Wasser schlucken und ließ Blasen aufsteigen. »Nun, nun, nun!« schrie ihn dann Jermolai drohend an, und Sutschok krabbelte sich heraus, zappelte mit den Beinen, hüpfte und kam schließlich doch auf eine seichtere Stelle, aber selbst in höchster Not konnte er sich nicht entschließen, sich an meinem Rockschoß festzuhalten. Furchtbar müde, schmutzig und naß erreichten wir schließlich das Ufer.
Zwei Stunden später saßen wir schon alle, nach Möglichkeit getrocknet, in einem großen Heuschuppen und schickten uns an, zu Abend zu essen. Der Kutscher Jehudiel, ein außerordentlich langsamer, schwerfälliger, vernünftiger und verschlafener Mensch, stand am Tor und traktierte Sutschok eifrigst mit Tabak. (Ich habe bemerkt, daß die Kutscher in Rußland sich sehr schnell befreunden.) Sutschok schnupfte mit Wut bis zur Übelkeit; er spuckte, hustete und empfand wohl einen großen Genuß. Wladimir neigte den Kopf mit schmachtender Miene auf die Seite und sprach wenig. Jermolai rieb unsere Gewehre ab. Die Hunde wedelten mit übertriebener Geschwindigkeit mit ihren Schwänzen in Erwartung ihres Haferbreies; die Pferde stampften und wieherten unter dem Schutzdach . . . Die Sonne ging unter; ihre letzten Strahlen zogen sich als purpurrote, breite Streifen hin; goldene Wölkchen breiteten sich immer feiner wie gewaschene und gekämmte Wolle über den Himmel aus . . . Im Dorf erklangen Lieder.
Die Bjeschin-Wiese
Es war ein herrlicher Julitag, einer von den Tagen, die nur dann vorkommen, wenn kein Wetterumschlag zu erwarten ist. Der Himmel ist dann vom frühen Morgen an heiter; das Morgenrot flammt nicht wie eine Feuersbrunst; die Sonne ist nicht feurig und glühend wie zur Zeit einer Dürre, auch nicht trüb-blutrot wie vor einem Sturm, sondern schwebt hell und freundlich unter einer schmalen und langen Wolke hervor, leuchtet heiter und versinkt im lilagrauen Nebel. Der obere dünne Rand der langgestreckten Wolke glitzert wie voller feiner Schlangen; ihr Glanz erinnert an den Glanz getriebenen Silbers . . . Schon brechen aber die spielenden Strahlen aufs neue hervor, und das mächtige Gestirn steigt lustig, majestätisch, wie auffliegend empor. Um die Mittagsstunde erscheint gewöhnlich eine Menge runder, hoher, goldig-grauer Wolken mit zarten weißen Rändern. Gleich Inseln, auf einem uferlosen Fluß verstreut, der sie mit tiefen und durchsichtigen Armen einer tiefen Bläue umflutet, bewegen sie sich kaum von der Stelle; weiter unten am Horizont drängen sie sich mehr zusammen, und es ist kein Blau zwischen ihnen mehr zu sehen; aber sie sind selbst da so leuchtend blau wie der Himmel; sie sind ganz von Licht und Wärme durchtränkt. Die Farbe des Horizonts, leicht und blaßlila, ändert sich während des ganzen Tages nicht und ist in der ganzen Runde gleich; nirgends verdunkelt sie sich, nirgends sammelt sich ein Gewitter; höchstens ziehen sich hier und da bläuliche Streifen herab – es ist ein kaum bemerkbarer Regen, der wie eine Saat herabrieselt. Gegen Abend verschwinden diese Wolken; die letzten von ihnen, dunkel und formlos wie Rauch, ballen sich rosenrot der scheidenden Sonne gegenüber; an der Stelle, wo sie ebenso ruhig untergegangen ist wie sie emporgestiegen, bleibt das hellrote Leuchten nur eine kurze Zeit über der dunkelgewordenen Erde, und leise flimmernd, wie eine vorsichtig getragene Kerze, leuchtet darin der Abendstern auf. An solchen Tagen sind alle Farben gedämpft; sie sind leuchtend, aber nicht grell; auf allen Dingen liegt das Siegel einer eigenen rührenden Milde. An solchen Tagen ist die Hitze oft sehr groß, manchmal brütet sie an den Abhängen der Felder; aber der Wind vertreibt und verweht die angesammelte Glut, und Wirbel – sichere Anzeichen beständigen Wetters – ziehen als hohe weiße Säulen über die Wege und Äcker dahin. In der trockenen und reinen Luft duftet es nach Wermut, nach gemähtem Korn und Buchweizen; selbst eine Stunde vor Anbruch der Nacht spürt man keine Feuchtigkeit. Ein solches Wetter wünscht sich der Landmann für die Getreideernte.
An einem solchen Tag jagte ich einmal im Tschernschen Kreise des Tulaer Gouvernements auf Birkhühner. Ich hatte recht viel Wild aufgestöbert und geschossen; meine gefüllte Jagdtasche schnitt mir unbarmherzig in die Schulter; das Abendrot war aber schon im Verlöschen, und in der noch hellen, wenn auch von den Strahlen der untergegangenen Sonne nicht mehr erleuchteten Luft verdichteten sich schon kalte Schatten, als ich mich endlich entschloß, nach Hause zurückzukehren. Mit raschen Schritten durchstrich ich die lange, von Gebüsch bedeckte Strecke, stieg einen kleinen Hügel hinauf und erblickte statt der von mir erwarteten, mir bekannten Ebene mit dem Eichenwäldchen rechts und der niederen weißen Kirche in der Ferne eine mir völlig unbekannte Gegend. Zu meinen Füßen zog sich ein schmales Tal hin; gerade vor mir erhob sich als eine steile Wand ein dichtes Espengebüsch. Ich blieb erstaunt stehen und sah mich um . . . Aha! dachte ich mir – ich bin ganz woanders hingeraten: Ich bin viel zu weit nach rechts gekommen. – Mich über mein Versehen selbst wundernd, stieg ich den Hügel hinab. Mich umfing sofort eine unangenehme, unbewegliche Feuchtigkeit, als wäre ich in einen Keller geraten; das dichte, hohe Gras auf dem Grund des Tales breitete sich naß und weiß wie eine Decke aus; es war irgendwie unheimlich, es zu betreten. Ich stieg möglichst schnell an der anderen Seite wieder hinauf und schlug den Weg nach links, das Espengehölz entlang, ein. Die Fledermäuse flatterten schon über den schlafenden Wipfeln des Gehölzes, geheimnisvoll am dunklen und doch noch heiteren Himmel kreisend; schnell und geradeaus schoß in der Höhe ein verspäteter junger Habicht seinem Neste zu. – Wenn ich nur jene Ecke dort erreicht habe, dachte ich mir, so komme ich gleich auf die Straße; ich habe ja einen Umweg von einer Werst gemacht!
Endlich erreichte ich die Ecke des Waldes, aber dort war keinerlei Weg: Niedere Büsche breiteten sich vor mir aus, und hinter ihnen war in weiter Ferne ein leeres Feld zu sehen. Ich blieb wieder stehen. – Was ist das für ein Wunder . . .? Wo bin ich denn? – Ich fing an, mich zu besinnen, wie und wohin ich an diesem Tag gegangen war . . . – Ach! Das ist ja das Parachinsche Gebüsch! rief ich endlich aus. – Es stimmt! Das da muß ja das Sindejewsche Gehölz sein . . . Wie bin ich nur hergeraten? So weit . . .! Seltsam! Jetzt muß ich wieder nach rechts abbiegen.
Ich ging nach rechts durch die Büsche. Die Nacht senkte sich indessen und wuchs wie eine drohende Gewitterwolke; die Dunkelheit schien sich zugleich mit den Abenddünsten von überall zu erheben und sogar von der Höhe zu fallen. Ich stieß auf einen verwachsenen Fußpfad; ich schlug ihn ein und blickte aufmerksam vorwärts. Alles um mich her wurde schnell dunkel und