Hotel Amerika. Maria Leitner
Er sieht dunkel und ungepflegt aus. Die Aufzüge funktionieren meist nicht einwandfrei. Jetzt sind die Klingeln nicht in Ordnung und man muss schreien, um sich den Aufzugführern bemerkbar zu machen. »Hinauf!« ruft Ingrid.
»Hinab!« schreit Shirley, die in die Wäscherei hinunterfahren muss.Die Verbindungstüren, die sonst sorgfältig abgeschlossen sind und die zu dem eigentlichen, für die Hotelgäste bestimmten Teil dieses Stockwerkes führen, sind weit aufgeschlagen, und man kann den unteren Ballsaal übersehen, einen prächtigen, durch sinnreich angebrachte Spiegel grenzenlos wirkenden marmornen Saal.Shirley erinnert sich, dass der im Traum gesehene Saal Ähnlichkeit mit diesem hat. Ingrid starrt neugierig hinein. »Was sie hier wohl feiern werden?« Es werden jetzt prächtige Bäume hineingetragen, exotische, üppige Bäume, überschüttet mit roten Blüten, lilafarbene Sträucher, die betäubend duften, Blumen mit merkwürdigen gelben Dolden. Man sieht, die Vorbereitungen zu der Ausschmückung des Saales haben erst begonnen, aber schon jetzt hat er Ähnlichkeit mit einem unwirklichen, traumhaften Feengarten.
Shirley lacht. Sie könnte der kleinen Ingrid nähere Auskunft geben, wenn sie nur wollte; sie weiß mehr als die anderen. Aber jetzt sagt sie nur:
»Man wird hier eine große Hochzeit feiern. Siehst du, so heiraten die reichen Mädchen. Sie ist die Tochter eines Millionärs, ich weiß einiges über sie, – na, aber ich schweige.« Shirley lacht über die erstaunten Augen Ingrids. Diese beginnt wieder zu rufen: »Hinauf!« und Shirley schreit »Hinab!«
Und in dem Fahrstuhl, der in die Wäscherei fährt, der langsam hinabsinkt in die Tiefe, zu den erstickenden Dämpfen, denkt sie: es ist heute zum letzten Mal, zum letzten Mal hinab, – morgen schon wird sie steigen …
Zweites Kapitel
In der Frühstücksbar des Hotels Amerika sitzt an dem braun polierten Holztisch, der in einem Halbkreis durch den ganzen Raum läuft, Herr Fish, ein junger Mann mit gepflegtem Äußern, und löffelt seine Grapefruit. Die anderen hohen, runden Stühle sind noch leer. Herr Fish ist der erste Gast und genießt demzufolge aufmerksamste Bedienung.
Der Kellner stellt ihm jetzt mit eleganter Handbewegung Haferbrei mit Sahne auf den Tisch und bleibt dann in angemessener Entfernung vor ihm stehen. Herr Fish ist leutselig und mitteilsam. »Ein feiner Morgen heute, ein schöner Tag, ganz entschieden.« Er reibt sich die Hände.
Dann entfaltet er die Zeitung und beginnt, die Börsenmitteilungen zu studieren. Während des Lesens redet er fortwährend auf den Kellner ein: »Millionen, wohin man blickt, Milliarden, und was alles hinter diesen Milliarden steckt! In Brasilien sprießen Gummiwälder, echt amerikanische, mein Lieber. Ja, man wird England ein Schnippchen schlagen, Amerika, das mächtigste Land der Welt. Hier sehen Sie: ›Wall Street finanziert Kanalisationsarbeiten im Sudan‹, ›Hungersnot in China‹ soll finanziell ausgebeutet werden. ›Rationalisierung in Deutschland befestigt das dort angelegte amerikanische Kapital‹. Man muss Börsenkurse lesen können, mein Lieber, die sind interessanter als der fantastischste Roman.«
»Hehe«, kichert diskret hinter der hochgehobenen Serviette der Kellner. Er findet den Gast reichlich merkwürdig. Man liest Börsenkurse, spricht aber nicht soviel. Der Gast redet immer weiter.
»Man muss nur schlau sein, dann kann man auch seinen Teil aus dem Trüben fischen.«
Der Kellner, der seinen Spitznamen ›der schöne Alex‹ gerne hört, beginnt aufzuhorchen. Aus dem Trüben fischen, – hm, das lässt sich hören. Man kann nie wissen, ob man nicht auch einmal brauchbare Tipps bekommt, obgleich es bekannt ist, dass die Kleinen immer über den Kamm geschoren werden. Man kann nie vorsichtig genug sein. Der Kerl ist vielleicht ein Agent, der gern Aktien loswerden möchte. Von meinen sauer verdienten Dollars bekommst du nichts, – denkt der ›schöne Alex‹ und geht in die Küche, um dem gesprächigen Gast seine verlorenen Eier auf Toast und den Kaffee zu bringen. Herr Fish ist anscheinend noch mit seinen hochfliegenden Gedanken beschäftigt. »Das Ganze durchschauen, das ist alles! Das Chaos analysieren, dann findet sich auch ein Weg, der richtige Weg für den eigenen Gebrauch und zum eigenen Nutzen.« Der ›schöne Alex‹ denkt wegwerfend: Man muss nur wissen, was man will, das ist die Hauptsache, man muss ein bestimmtes Ziel haben. Das hat er auch. Er will eine Flüsterkneipe in der 81. Straße New-York-Ost, das ist sein Traum. Ja, er kennt die 81. Straße im Osten besser als seine Westentasche. Er hat eigentlich eine schöne Karriere gemacht: Kellner sein in dem feinsten Hotel der Stadt ist keine Kleinigkeit. Und trotzdem spürt er Heimweh, wenn er an die alten Zeiten denkt, obgleich man ihm übel mitgespielt hat. Aber er wird Rache nehmen. Er sieht sich wieder in der »Bar Lohengreen« (wirklich mit zwei »ee« geschrieben). Freilich, da stellte er mehr vor als ein Kellner. Er war die rechte Hand der Besitzerin, der Witwe Lohengreen, – ja, mehr als die rechte Hand: er war die große Liebe der Witwe und der ›schöne Alex‹ sah sich schon als Besitzer, als »Lohengreen« selbst, enthoben dem harten Kampf der Abhängigen.
Herr Fish hängt gleichfalls seinen eigenen Gedanken nach und trinkt den Kaffee in ganz kleinen Schlucken. Der ›schöne Alex‹ durchlebt wieder einmal die demütigenden Minuten seines Sturzes. Die Witwe Lohengreen überraschte ihn bei einem Vergnügen mit einer kleinen hübschen Kellnerin. Statt einzusehen, dass er, der ›schöne Alex‹, ein Mann sei, den man nicht mit gewöhnlichem Maße messen könne, gab sie ihm noch am selben Abend seinen Lohn mit den dürren Worten: »Morgen brauchen Sie nicht mehr zu kommen.« Das ihm, dem ›schönen Alex«! Wenn er an die Flüsterkneipe denkt, die er einmal in der 81.Straße New-York-Ost haben wird, träumt er zugleich von Rache. Herr Fish beginnt jetzt wieder zu reden, der ›schöne Alex‹ kann seinen Gedanken nicht länger nachhängen. »Haben Sie auch manchmal dieses kitzelnde Gefühl, hineinsehen zu wollen in alle Häuser, in alle Wohnungen, Lokale, Geschäfte, in die Warenhäuser, Fabriken, Wolkenkratzer, Hospitäler, hineinsehen in alles: die Gedärme, das Herz, das Gehirn, das ganze Innere, die Triebfeder, die Hintergründe sehen, entdecken, erkennen können? Überkommt Sie nicht auch manchmal diese Neugierde?« Der ›schöne Alex‹ murmelt etwas Bejahendes. Er sagt sich, dass im Hotel Amerika die Gäste immer recht haben, aber er ist zufrieden, dass er selbst nie so verstiegene Gedanken wie dieser Herr da hat; er weiß, was er will, und das ist die Hauptsache, wenn man wirklich etwas erreichen will. Wenn er das Geld für seine Flüsterkneipe zusammenhätte, so wüsste er schon, den Betrieb nutzbringend zu führen. Er würde sich gegenüber der »Bar Lohengreen« ansiedeln, – sie würde bald pleite gehen, die Witwe. Nun, sie könnte ja zu ihm arbeiten kommen; der ›schöne Alex‹ würde es ihr sogar anbieten. Und dann eines schönen Tages würde er ihr den Lohn auszahlen und sagen: »Morgen brauchen Sie nicht mehr zu kommen.« Ja, sein eigener Herr sein, Leute wegschicken können, das möchte er auch … »Sie verdienen hier wohl gut«, fragt der neugierige Gast; er macht keine Anstalten, mit seinem Frühstück fertig zu werden.
»Na, es geht so lala; Sie würden staunen, Herr, wie oft die vornehmen Leute Trinkgelder zu geben vergessen.« Ja, der ›schöne Alex‹ hält nicht viel von feinen Gegenden. Auch wenn er von seinen Racheplänen absieht, möchte er sich nicht in den ›tobenden Vierzigern‹ ansiedeln, in den Straßen zwischen 40 und 50 an beiden Seiten des ›Weißen Weges‹, wie man den Broadway dort nennt, wo er Vergnügungen bietet. Die dort florierenden Nachtklubs, geheimen Absteigequartiere und Tanzlokale sind nicht das Ziel seiner Sehnsucht; dafür braucht man klotzige Gelder, und im übrigen ist alles in einigen wenigen Händen; der Außenseiter wird schnell zermalmt. Aber in der 81. Straße New-York-Ost, da könnte es auch noch der kleine Mann zu etwas bringen. Er sieht die Straße dunkel und schmal im East River verenden. Die Gäste ihrer Kneipen sind armselige Burschen, Leute, denen es schlecht geht, die Heimweh haben, die schon halb verkommen sind, Leute mit geheimem Kummer, Einwanderer, die sich noch nicht richtig verständigen können.
Mit einem Wort, lauter Menschen, denen es ganz dreckig geht Aber gerade an solchen Menschen ist etwas zu verdienen, stellt Alex fest. Die anderen, die fest im Sattel sitzen, die sind so scheußlich wach, sogar dann, wenn sie viel getrunken haben. Sie sind immer nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Ja, so unglaublich es auch scheint, gut verdienen kann man nur an Leuten, die in der Patsche sitzen. Vor Alex' Augen tauchen die Betrunkenen auf, die das Pflaster der 81. Straße besäen und zwischen denen die Polizisten friedlich daherwandeln.
Herr Fish aber hat sich während dieser Überlegungen des ›schönen