Zur Selbstprufung der Gegenwart empfohlen. Soren Kierkegaard
sein leibliches Angesicht im Spiegel beschauet: denn nachdem er sich beschauet hat, geht er von Stund an davon, und vergißt, wie er gestaltet war. Wer aber durchschauet in das vollkommene Gesetz der Freiheit, und darinnen beharret, und ist nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Thäter, derselbe wird selig sein in seiner That. So aber sich jemand unter Euch lasset dünken, er diene Gott und hält seine Zunge nicht im Zaum, sondern verführt sein Herz, des Gottesdienst ist eitel. Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der: Die Witwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen, und sich von der Welt unbefleckt erhalten.
Vater im Himmel! Was ist der Mensch, daß Du sein gedenkest, und des Menschen Kind, daß Du Dich seiner annimmst –und in jeder Weise, in jeder Hinsicht! Wahrlich, in nichts hast Du Dich unbezeugt gelassen; und zuletzt gabst Du ihm Dein Wort. Mehr konntest Du nicht thun; ihn zwingen, es zu benutzen, zu lesen oder zu hören, danach zu thun, das konntest Du nicht wollen. O, und doch thust Du mehr. Denn nicht bist Du wie ein Mensch; der gibt selten etwas umsonst, und gibt er etwas umsonst, so will er wenigstens keine Mühe davon haben. Dagegen Du, o Gott, Du gibst Dein Wort als eine Gabe, das thust Du, unendlich Erhabener – und wir Menschen haben nichts zum Entgelt zu geben. Und findest Du dann nur einige Willigkeit bei dem einzelnen, da bist Du gleich bereit, und bist zuerst der, der mit mehr als menschlicher, ja mit göttlicher Geduld sitzt und mit dem einzelnen buchstabiert, daß er das Wort recht verstehen möge; und dann bist Du demnächst der, der wieder mit mehr als menschlicher, ja mit göttlicher Geduld, ihn gleichsam an der Hand faßt und ihm hilft, wenn er strebt, danach zu thun – Du unser Vater im Himmel!
Die Zeiten sind verschieden; und, obschon es oft mit den Zeiten geht, wie mit einem Menschen: er verändert sich ganz, aber es bleibt ebenso arg mit ihm, nur in neuer Weise: so ist's doch gleichwohl wahr, daß die Zeiten verschieden sind, und verschiedene Zeiten fordern Verschiedenes.
Es gab eine Zeit, wo das Evangelium, die »Gnade«, in ein neues Gesetz verwandelt war, strenger gegen die Menschen, als das alte. Alles war peinlich, knechtisch und unlustig geworden, fast als wäre – trotz dem Gesang der Engel beim Kommen des Christentums – keine Freude mehr weder im Himmel noch auf Erden. In kleinlicher Selbstquälerei hatte man – so rächt sich das! – Gott ebenso kleinlich gemacht. Man ging ins Kloster, man blieb da – ja, es ist wahr, es war freiwillig, und doch war es Knechtschaft, denn es war nicht in Wahrheit freiwillig, man war nicht ganz einig mit sich selbst, nicht froh darüber, dort zu sein, nicht frei; doch hatte man auch nicht Freudigkeit, es sein zu lassen oder das Kloster wieder zu verlassen und frei zu werden. Alles war Werk geworden. Und wie von ungesunden Auswüchsen verdorben, von Heuchelei, eingebildeter Verdienstlichkeit, Müssiggang! Gerade darin lag der Fehler, nicht so sehr in den Werken. Denn laßt uns nicht übertreiben, nicht den Irrtum einer vergangenen Zeit zu neuem Irrtum benutzen. Nein, nehmt diese Ungesundheit und Unwahrheit weg von den Werken, und laßt uns dann nur die Werke behalten in Aufrichtigkeit, in Demut, in heilbringender Thätigkeit. So sollte es nämlich mit diesen Werken sein, wie wenn ein kriegerischer Jüngling angesichts eines gefahrvollen Unternehmens selbst freiwillig kommt und den Obersten bittet: »o darf ich da nicht auch mitgehen!« Wenn auf diese Weise ein Mensch zu Gott sagen würde, »o, darf ich nicht all meine Güter den Armen geben; nicht, daß es etwas Verdienstliches sein sollte, nein, nein, ich erkenne tief gedemütigt, daß, wenn ich einmal selig werde, ich es dann aus Gnaden werde ganz wie der Missethäter am Kreuze, aber darf ich's nicht thun, damit ich ganz für die Ausbreitung des Reiches Gottes unter meinen Mitmenschen wirken könne?« – dann, ja dann ist dies, daß ich mit Luther rede, trotz dem Teufel, den Blättern, dem geehrten Publikum, denn des Papstes Zeit ist ja jetzt vorbei, trotz aller klugen Männer und Frauen verständigen, geistlichen und weltlichen Einwendungen, dann ist dies Gott wohlgefällig. Aber so war es nicht in der Zeit, von der wir reden.
Da trat ein Mann auf, Martin Luther, von Gott gesandt und mit dem Glauben; mit dem Glauben, denn wahrlich, dazu war Glaube notwendig, oder durch Glauben setzte er den Glauben in seine Rechte ein. Sein Leben drückte die Werke aus, laßt uns das nie vergessen, aber er sagte: ein Mensch wird selig allein durch den Glauben. Die Gefahr war groß. Wie groß sie in Luthers Augen war, dafür weiß ich keinen stärkeren Ausdruck, als daß er beschloß: um Ordnung in die Sache zu bringen, muß der Apostel Jakobus zur Seite geschoben werden. Denke Dir Luthers Ehrfurcht vor einem Apostel – und dann dies wagen zu müssen, um den Glauben zu seinem Rechte zu verhelfen!
Indessen, was geschah? Es gibt beständig eine weltliche Sinnesart, die wohl den Namen eines Christen haben will, aber um so billigen Preis wie möglich Christ zu werden wünscht. Diese weltliche Sinnesart wurde aufmerksam auf Luther. Sie hörte, – aus Vorsicht hörte sie noch einmal, daß sie nicht falsch gehört haben möchte, darauf sagte sie: »vortrefflich, das ist etwas für uns; Luther sagt, es kommt allein auf den Glauben an; daß sein Leben die Werke ausdrücke, fügte er selbst nicht, und da er nun tot ist, so hat das nichts mehr zu bedeuten. Also nehmen wir sein Wort, seine Lehre – und wir sind frei von allen Werken. Es lebe Luther! wer nicht liebt Weib, Wein und Gesang, der bleibt ein Narr sein lebenlang. Das ist die Bedeutung des Lebens Luthers, dieses Mannes Gottes, der das Christentum zeitgemäß reformierte.« Und ob auch nicht alle ganz so weltlich mit Luthers Wort leichtfertig umgingen – es ist in jedem Menschen eine Geneigtheit vorhanden, entweder, wenn die Werke auch bleiben sollen, ein Verdienst haben zu wollen, oder, wenn Glaube und Gnade geltend gemacht werden sollen, dann auch, so weit möglich, ganz von den Werken frei sein zu wollen. Der Mensch, diese vernünftige Kreatur Gottes, läßt sich wahrlich nicht zum besten haben, ist nicht wie ein Bauer, der zu Markt kommt, er sieht sich vor. Nein, »eins von beiden«, sagt der Mensch, »sollen's die Werke sein, wohl, dann muß ich mir auch den mir gesetzlich zukommenden Vorteil von meinen Werken ausbitten, daß sie verdienstlich sind. Soll's die Gnade sein, wohl, dann muß ich auch bitten, daß ich von den Werken frei werde, sonst ist's ja nicht Gnade. Sollen's Werke sein und gleichwohl Gnade, das ist ja Tollheit.« Ja wohl ist es Tollheit, das war das wahre Luthertum auch, es war ja Christentum. Die Forderung des Christentums ist: Dein Leben solle so angestrengt wie möglich die Werke ausdrücken; dann wird noch eins gefordert, daß Du Dich demütigst und bekennst: aber es ist gleichwohl Gnade, daß ich selig werde. Man verabscheute den Irrtum des Mittelalters: das Verdienstliche. Wenn man tiefer in die Sache hineinblickt, wird man leicht sehen, daß man eine vielleicht noch höhere Vorstellung davon hatte, daß die Werke verdienstlich seien, als das Mittelalter; aber man brachte die »Gnade« so an, daß man sich von den Werken freisprach. Wenn man dann die Werke abgeschafft hatte, konnte man doch nicht leicht in die Versuchung kommen, die Werke, die man nicht that, für etwas Verdienstliches anzusehen. Luther wollte die Werke der »Verdienstlichkeit« berauben und sie in eine andere Stellung bringen, nämlich so, daß sie für die Wahrheit des Glaubens zeugen sollten; die weltliche Sinnesart aber, die Luther aus dem Grunde verstand, nahm die Verdienstlichkeit fort – samt den Werken.
Und wo sind wir jetzt? Ich bin »ohne Gewalt«; fern sei es von mir, einen einzigen zu richten. Aber da ich doch diese Sache aufgeklärt wünsche, so will ich mich selbst vornehmen und mein Leben prüfen nach nur einer lutherischen Aussage über den Glauben: »der Glaube ist ein unruhig Ding«. Ich nehme denn an, daß Luther aus seinem Grabe aufgestanden ist; daß er schon mehrere Jahre, aber ungekannt, unter uns gelebt hat; daß er auf das Leben geachtet hat, welches von uns geführt wird, und, wie auf alle anderen, so auch auf mich aufmerksam gewesen ist. Ich nehme an, daß er nun eines Tages mich anredet und sagt: »bist Du ein Gläubiger, hast Du den Glauben?« Jeder, der mich als Schriftsteller kennt, wird wissen, daß ich doch vielleicht der wäre, der von allen am besten durch ein solches Examen kommen würde, denn ich habe ja beständig gesagt: »ich habe den Glauben nicht«, – wie ein Vogel, der angstvoll flieht vor einem Unwetter, so habe ich ausgedrückt, daß ich Unrat merke, »ich habe den Glauben nicht«. Dies könnte ich also Luther sagen, ihm sagen: nein, lieber Luther, ich bin doch so ehrerbietig zu sagen: »ich habe den Glauben nicht«. Doch das will ich nicht geltend machen, sondern, wie alle anderen sich Christen und Gläubige nennen, so will ich auch sagen: »ich bin ein Gläubiger«, denn sonst erhalte ich ja über das keine Aufklärung, was ich aufgeklärt wünsche. Also ich antworte: »ja, ich bin ein Gläubiger«. »Wie«, antwortet Luther, »davon habe ich Dir nichts angemerkt, und ich habe doch auf Dein Leben geachtet. Du weißt, der Glaube ist ein unruhig Ding. Wo hat der Glaube, von dem Du sagst, daß Du ihn habest, Dich unruhig gemacht; wo hast Du für die