Tagebuch des Verführers. Søren Kierkegaard

Tagebuch des Verführers - Søren Kierkegaard


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doch waren sie verändert, fast unerklärlich vor sich selbst, unbegreiflich für Andere. Ihr Leben war nicht, wie das der Verführten, zerknickt und gebrochen, es war in ihnen selbst gebrochen; für andere verloren, suchten sie sich selbst zu finden. Im selben Grad wie man sagen konnte, dass sein Weg ohne Spur durch das Leben ging, so hinterliess er kein Opfer, er lebte zu viel geistig, um ein Verführer im gewöhnlichen Sinne zu sein. Zuweilen nahm er doch einen parastatischen Leib an und war da nur Sinnlichkeit. Selbst seine Geschichte mit Cordelia ist so verwickelt, dass es ihm möglich war, als der Verführte auftreten zu können. Selbst Cordelia konnte zuweilen zweifeln, auch hier sind seine Fusspuren so undeutlich, dass jeder Beweis unmöglich ist. Die Menschen waren für ihn nur ein lncitament; er warf sie von sich weg, wie die Bäume die Blätter abschütteln– er verjüngte sich, das Laub verwelkte.

      Aber in seinem eigenen Kopf, wie mag es da aussehen? Andere hat er irregeführt, er wird auch einmal selbst irrelaufen. Die andern hat er innerlich irregeführt, nicht äusserlich. Wenn ein Wanderer einen Menschen nach dem Weg fragt, so ist es empörend, ihm einen falschen Weg zu weisen. Das ist aber noch gar nichts gegen das, dass man einen Menschen an sich selbst irremacht. Beim verirrten Wanderer wechselt wenigstens zum Trost immer die Landschaft um ihn, und er hat an jeder Wegbiegung die Hoffnung, doch noch den rechten Weg zu finden, der aber, der an sich selbst irre wurde, hat kein so grosses Territorium, er merkt bald, dass er in einem Kreislauf ist, aus dem er sich nicht herausfindet. So, denke ich, muss es ihm einmal gehen, in noch viel schrecklicherem Masse. Ich kann mir nichts qualvolleres vorstellen, als einen intriganten Kopf, der den Faden verliert und dessen Scharfsinn sich gegen ihn selbst wendet, besonders im Augenblick, wo ihm das Gewissen erwacht. Vergebens hat er in seiner Fuchshöhle viele Ausgänge, schon glaubt er das Tageslicht zu erreichen, aber er merkt, dass es nur ein neuer Eingang ist, wie ein verzweifeltes Wild sucht er immer einen Ausgang und findet stets einen Eingang, der zu ihm selbst zurückführt. Ein solcher Mensch ist nicht gerade ein Verbrecher, er wird oft von seinen eigenen Intriguen selbst getäuscht, und doch bekommt er eine schrecklichere Strafe als ein wirklicher Verbrecher; denn was ist der Schmerz der Reue im Vergleich mit diesem bewussten Wahnsinn? Seine Strafe hat einen rein ästhetischen Charakter. Denn schon dass das Gewissen erwacht, ist für ihn zu ethisch. Das Gewissen gestaltet sich für ihn als ein höheres Bewusstsein, das sich als Unruhe äussert, und ihn auch im tiefsten Sinn nicht anklagt, aber ihn wachhält und ihm in seiner Friedlosigkeit keine Ruhe giebt. Wahnsinnig ist er auch nicht; denn die Mannigfaltigkeit seiner Gedanken ist nicht in der Ewigkeit des Wahnsinns versteinert.

      Der armen Cordelia wird es auch schwer werden, Ruhe zu finden. Sie verzeiht ihm zwar von ganzem Herzen, aber findet keinen Frieden, denn da erwacht der Zweifel; sie hat ja die Verlobung aufgelöst, sie hat das Unglück heraufbeschworen, ihr Stolz begehrte das Ungewöhnliche. Dann bereut sie, aber Ruhe findet sie keine; denn nun sprechen die verklagenden Gedanken sie frei; er war's, er hatte mit Arglist diesen Plan in ihre Seele gelegt. Dann hasst sie, ihr Herz fühlt sich leichter, wenn sie ihn verflucht, aber sie findet keine Ruhe; sie macht sich wieder Vorwürfe, Vorwürfe, weil sie ihn hasst, sie, die selbst eine Sünderin ist, Vorwürfe, weil sie immer schuldig bleibt, wenn er auch arglistig war. Schwer ist es, dass er sie betrogen hat, noch schwerer könnte man beinahe sagen, dass er so viel Nachdenken in ihr erweckt hat, dass er sie so ästhetisch entwickelt hat, dass sie nun nicht länger mehr einer Stimme demütig lauscht, sondern viele Reden gleichzeitig hören kann. In ihrer Seele wird da die Erinnerung wach, sie vergisst ihre Sünde und Schuld, sie erinnert sich der schönen Augenblicke, sie lässt sich von einer unnatürlichen Exaltation betäuben.

      In solchen Augenblicken erinnert sie sich seiner nicht bloss, sie fasst ihn hellsehend auf, das zeigt, wie stark er sie entwickelt hat. Sie sieht nichts Verbrecherisches in ihm, aber auch nicht den edlen Menschen, sie fühlt ihn nur ästhetisch. Einmal hat sie mir ein Billet geschrieben, wo sie folgendes sagt: »Zuweilen war er so geistig, dass ich mich als Weib vernichtet fühlte und dann wieder so wild und leidenschaftlich, dass ich fast für ihn zitterte. Zuweilen war ich ihm fremd, zuweilen gab ersieh mir ganz hin; schlang ich dann meinen Arm um ihn, so war plötzlich alles verschwunden und ich umarmte die ›Wolken‹. Diese Bezeichnung kannte ich, ehe ich ihn kannte, aber er lehrte sie mich zu begreifen; wenn ich diesen Vergleich benutze, denke ich immer an ihn, wie ich sonst auch alle meine Gedanken nur durch ihn denke. Ich habe immer Musik geliebt, er war ein wunderbares Instrument, immer gestimmt, er hatte eine Tonleiter wie kein Instrument sonst, er hatte Fühlung und Stimmungen, kein Gedanke war ihm zu gross, keiner zu verzweifelt, er konnte wie ein Herbststurm brausen, er konnte flüstern. Kein Wort von mir war ohne Wirkung und doch kann ich nicht sagen, ob meine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten, denn die Wirkung auf ihn konnte ich unmöglich voraussehen. Mit einer unbeschreiblichen, geheimnisvollen, seligen, unfassbaren Angst horchte ich auf diese Musik, die ich selbst hervorrief und doch nicht hervorrief, immer war sie voll Harmonie, immer riss er mich hin.«

      Für sie ist es schrecklich, für ihn wird es noch schrecklicher; das schliesse ich auch daraus, dass ich selbst Angst bekomme, wenn ich an alles dieses denke. Auch ich bin in dieses Nebelreich, in diese Traumwelt mit hineingezogen, in der man jeden Augenblick vor seinem eigenen Schatten erschrickt. Vergebens suche ich mich loszureissen, ich folge mit wie. eine drohende Gestalt, wie ein stummer Ankläger. Wie sonderbar! Er hatte das tiefste Geheimnis über alles gebreitet und doch giebt es ein noch tieferes Geheimnis, das ist, dass ich auch eingeweiht bin, und ich selbst bin auf eine ungesetzliche Weise eingeweiht worden. Das Ganze zu vergessen gelingt mir nie. Ich habe zuweilen daran gedacht, mit ihm darüber zu sprechen. Doch was hilft das? Er würde entweder alles leugnen, behaupten, das Tagebuch sei ein dichterischer Versuch oder würde mich bitten zu schweigen, was ich ihm nicht wehren könnte, wegen der Art und Weise, durch die ich eingeweiht wurde. Es giebt nichts, wofür es soviel Verderb und Verdammnis giebt, als für ein Geheimnis.

      Von Cordelia habe ich eine Sammlung von Briefen bekommen. Ob es alle sind, weiss ich nicht. Doch glaube ich, sie sagte einmal, dass sie einige konfisziert hat. Ich habe sie kopiert und will sie jetzt in die Reinschrift einschieben. Sie haben zwar kein Datum, aber wären sie auch mit Datum versehen, es hätte mir nicht viel geholfen, da das Tagebuch, je weiter es fortschreitet, immer sparsamer und sparsamer wird und zuletzt mit einigen Ausnahmen jedes Datieren aufgiebt. Als ob in diesem Stadium die Geschichte qualitativ so bedeutungsvoll wird, und sich trotz der historischen Wirklichkeit in solchem Grade der Idee nähert, dass dabei alle Zeitbestimmungen gleichgültig werden. Dagegen hat mir geholfen, dass an verschiedenen Stellen im Tagebuch ein paar Worte existieren, deren Bedeutung ich am Anfang nicht verstand. Ich habe, indem ich diese Worte mit den Briefen zusammenstellte, herausgefunden, dass sie Motive zu den Briefen abgeben. Daher ist es mir eine leichte Sache, sie an den richtigen Stellen einzuflechten, indem ich immer den Brief an der Stelle einschiebe, wo das Motiv zu demselben sich befindet. Hätte ich nicht diesen Hinweis gefunden, so würde ich mich eines Missverständnisses schuldig gemacht haben. Denn sicher wäre es mir nie eingefallen – was jetzt aus dem Tagebuch mit Wahrscheinlichkeit hervorgeht, nämlich, dass die Briefe hie und da sich so dicht aufeinander gefolgt sind, dass sie ab und zu mehrere an einem Tag empfangen zu haben scheint.

      Kurz nachdem er Cordelia verlassen, schrieb sie ihm einige Briefe, er sandte sie ungeöffnet zurück. Auch diese erhielt ich von ihr. Sie selbst hatte die Siegel bereits aufgebrochen, deshalb darf ich mir wohl erlauben, sie zu kopieren. Über die Briefe hat sie nie zu mir gesprochen, dagegen pflegte sie, wenn sie von ihrer Beziehung zu Johannes sprach, oft eine kleine Strophe, ich glaube von Goethe, zu recitieren. Dieser Vers hatte je nach ihrer Stimmung immer etwas Verschiedenes zu bedeuten:

      Verschmähe

      Die Treue,

      Die Reue

      Kommt nach.«

      Folgendermassen lauten ihre Briefe:

      Johannes!

      Mein, nenne ich Dich nicht. Ich sehe es ein, Du bist niemals mein gewesen, dafür bin ich hart genug bestraft, dass ich einmal diesen Gedanken als meine Freude und Wonne festhielt; und doch ich nenne Dich: mein; mein Verführer, mein Betrüger, mein Feind, mein Mörder, meines Unglücks Quell, Grab meiner Freude, Abgrund meiner Unseligkeit. Ich nenne Dich: mein, und nenne mich Dein, und wie es einst Deinen Sinnen schmeichelte, die sich in Anbetung vor mir beugten, so töne es nun wie ein Fluch über Dich, in alle Ewigkeit als Fluch.

      Dessen sollst Du Dich


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