Die Blinde. Уилки Коллинз
war ein schrecklicher Anblick. Ich ging ihr nach und richtete sie mit Gewalt wieder auf.
»Ringen Sie nicht mit ihr,« sagte der Doctor. »Lassen Sie sie nur herkommen. Er ist jetzt ruhig.«
Ich sah Oscar an; das Schlimmste war vorüber; er war erschöpft und ganz ruhig. Der Stimme des Doctors folgend, gelangte Lucilla an die Stelle, wo Oscar lag. Sie setzte sich neben Oscar auf den Boden und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Seine Berührung übte eine ähnliche Wirkung auf sie, wie sie ein Sehender, dem man längere Zeit die Augen verbunden hätte, in dem Augenblick empfinden würde, wo man ihm die Binde abnähme. Befreiung von angstvoller Ungewißheit durchströmte ihr ganzes Wesen, sie war wieder sie selbst, die sanfte Lucilla.
»Es thut mir leid, daß ich mich außer Fassung habe bringen lassen,« sagte sie mit der einfachen Natürlichkeit eines Kindes; »aber Sie wissen nicht, wie hart es ist, getäuscht zu werden, wenn man blind ist.« Bei diesen Worten beugte sie sich über Oscar hin und fuhr ihm mit ihrem Schnupftuch leicht über die Stirn. »Doctor,« fragte sie, »wird sich dieser Zufall wieder holen?«
»Das hoffe ich nicht «
»Sind Sie Ihrer Sache gewiß?«
»Das kann ich nicht behaupten.«
»Was hat den Zufall herbeigeführt?«
»Ich fürchte per Schlag auf den Kopf.«
Sie fragte nichts weiter; der Ausdruck der Spannung auf ihrem Gesichte machte plötzlich der Ruhe des Nachdenkens Platz. Es schien etwas ihre Gedanken zu beschäftigen nach der letzten Antwort des Doctors, das sie ganz in sich versenkte.
Als Oscar wieder zu sich kam, überließ Lucilla es mir, seine ersten sehr natürlichen Fragen zu beantworten. Als er sich dann direct an sie wandte, antwortete sie ihm freundlich, aber kurz; es schien in jenem Augenblick etwas in ihr vorzugehen, was sie selbst vor ihm verschlossen machte. Als der Doctor vorschlug, Oscar nach Browndown zurückzubringen, bestand Lucilla nicht, wie ich vermuthet hatte, darauf, ihn zu begleiten. Sie nahm zärtlich von ihm Abschied, aber sie ließ ihn gehen. Während er, noch sehnsüchtig nach ihr zurückblickend, an der Thür zögerte, ging sie langsam nach dem entgegengesetzten Ende des Zimmers, ganz in ihre eigene dunkle Welt versenkt, in ihren Gedanken gegen ihn wie gegen uns abgeschlossen. Der Doctors versuchte es, sie aus ihrer Träumerei aufzurütteln.
»Sie dürfen die Sache nicht zu ernst nehmen,« sagte er, indem er an das Fenster, an welchem sie stand, herantrat und die Stimme so sinken ließ, daß Oscar ihn nicht hören konnte. Er hat Ihnen selbst gesagt, daß er sich jetzt wohler und leichter fühlt, als vor dem Zufall. Dieser hat ihm keinen Schaden gethan, sondern ihm nur Erleichterung gebracht. Es ist keine Gefahr, ich versichere Sie auf meine Ehre, Sie haben nichts zu fürchten.«
»Können Sie mich auf Ihre Ehre auch noch einer anderen Sache versichern?« fragte sie, indem sie jetzt auch ihrerseits die Stimme sinken ließ. »Können Sie mir aufrichtig versichern, daß diesem ersten Zufall nicht ähnliche folgen werden?«
Der Doctor parierte diese Frage.
»Ich will,« antwortete er, »ehe ich mich darüber entschieden ausspreche, mit einem anderen Arzte consultiren. Bei meinem nächsten Besuch werde ich einen Arzt aus Brighton mitbringen.«
Oscar der bis jetzt, von der Veränderung in Lucilla’s Wesen betroffen, gewartet hatte, öffnete die Thür; der Doctor folgte ihm und sie verließen uns.
Lucilla setzte sich an’s Fenster, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte ihre Stirn in ihre Hände. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Im bitterem Ton murmelte sie vor sich hin das eine Wort: »Lebewohl!« .
Ich näherte mich ihr, denn ich fand es für nothwendig, sie daran zu erinnern, daß ich im Zimmer sei.
»Wem rufen Sie ein Lebewohl zu?« fragte ich, indem ich mich neben sie setzte.
»Seinem und meinem Glück,« antwortete sie, ohne ihr Gesicht von ihren Händen zu erheben. »Jetzt kommen für Oscar und für mich die trüben Tage.«
»Warum denken Sie das? Sie haben doch gehört, was der Doctor gesagt hat.«
»Der Doctor weiß nicht, was ich weiß.«
»Was wissen Sie.«
Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann, indem sie plötzlich ihr Stillschweigen brach: »Glauben Sie an ein Verhängniß?«
»Ich glaube an nichts, was die Menschen ermuntert, an sich selbst zu verzweifeln,« erwiderte ich.
Sie fuhr fort, ohne aus meine Worte zu achten:
»Was hat den Zufall, der ihn vorhin hier überkam, veranlaßt? Der Schlag, der ihn aus den Kopf getroffen hat, und diesen Schlag erhielt er bei dem Versuch, das, was ihm und mir gehörte, zu vertheidigen. Womit war er an jenem Tage beschäftigt gewesen, als die Diebe in sein Haus eindrangen? Er hatte an dem Kasten gearbeitet; der für mich bestimmt war. Sehen Sie nicht, wie die Ereignisse sich zu einem Ringe verketten? Ich glaube, der Anfall wird bald zu noch anderen Ereignissen führen; es wird noch etwas Anderes kommen, sein und mein Leben zu trüben. Für uns wird es keinen Hochzeitstag geben. Die Hindernisse thürmen sich vor uns auf. Das nächste Unglück steht uns nahe bevor, Sie werden es erleben!« Bei diesen Worten fuhr sie schaudernd zusammen und setzte sich, von mir zurückweichend, kauernd in die Fensternische.
Es war nutzlos, mit ihr zu streiten und schlimmer als nutzlos, dazusitzen und sie zu ermuntern, noch weiter zu reden. Ich stand auf.
»Es gebt eine Sache, an die ich fest glaube,« sagte ich heiter. »Ich glaube an die frische Luft in den Hügeln. Kommen Sie lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen!«
Sie drückte sich noch fester in ihre Ecke und schüttelte den Kopf .
»Lassen Sie mich,« brach sie ungeduldig aus, »lassen Sie mich allein!« Kaum hatte sie das gesagt, als sie es auch schon bereute; sie stand auf, umschlang meinen Hals mit ihren Armen und küßte mich. »Ich wollte nicht so unfreundlich reden,« sagte das sanfte zärtliche Mädchen, »Schwester, mein Herz ist schwer! Noch nie ist mein künftiges Leben meinen blinden Augen so dunkel erschienen wie jetzt.« Eine Thräne entrann diesen armen blinden Augen und fiel auf meine Wange. Plötzlich wandte sie ihr Gesicht ab. »Verzeihen Sie mir,« murmelte sie, »und lassen Sie mich gehen.« Noch ehe ich ihr antworten konnte, war sie fortgegangen, um sich in ihr Zimmer zu verschließen. Das liebliche Mädchen! Man konnte nur das tiefste Mitleid mit ihr haben, man mußte sie lieben!
Ich ging allein spazieren; sie hatte mich mit ihren abergläubischen Ahnungen einer trüben Zukunft nicht angesteckt, aber ein trauriges Wort hatte sie gesagt, welchem ich zustimmen mußte. Nach dem, was ich in ihrem Zimmer mit angesehen hatte, schien mir der Hochzeitstag in der That in eine weitere Ferne gerückt als je zuvor.
Achtzehntes Kapitel.
Traurige Familienverhältnisse
Keine fünf Tage waren vergangen, als sich schon Lucilla’s traurige Besorgnisse in Betreff Oscar’s bestätigten. Er hatte einen zweiten epileptischen Anfall.
Die versprochene Consultation mit dem Brightoner Arzte fand statt. Der neue Arzt machte uns wenig Hoffnung. Die rasche Aufeinanderfolge der beiden Anfälle war nach seiner Ansicht ein schlimmes Zeichen. Er gab allgemeine Verordnungen für Oscar’s Behandlung und überließ es seiner eigenen Entscheidung, ob er es mit einer Ortsveränderung versuchen wolle. Keine solche Veränderung, schien der Arzt zu meinen, würde einen unmittelbaren Einfluß auf die epileptische Disposition üben. Der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten würde sich in Folge dessen vielleicht heben, das sei aber auch Alles. Was die Heirath an langte, so erklärte er ohne Zaudern, daß wir daran fürs Erste nicht denken dürften.
Lucilla nahm den Bericht über das Ergebniß der ärztlichen Consultation mit einer versteckten Resignation auf, die mich tief betrübte. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte, als er seinen ersten Anfall hatte,« rief sie. »Unsere Sommerzeit ist vorüber, unser Winter ist gekommen.
Sie sagte das wie jemand, der einem kommenden Ereignisse hoffnungslos entgegensieht, der fest überzeugt ist, daß ihm ein Unglück bevorsteht. Erst als Oscar eintrat, ermannte sie sich. Er war höchst begreiflicher Weise