Die neue Magdalena. Уилки Коллинз
es vorgeschlagen hatte. Sie sah ihn dicht an ihrer Seite sitzen – denselben Mann, der von der Kanzel herab ihre innerste Seele erschüttert hatte, als sie, ungesehen am anderen Ende der Kapelle seinen Worten lauschte – sie sah ihn vor sich, wie er ihr forschend in das Gesicht blickte; wie er das beschämende Geheimnis in ihren Augen las, in ihrer Stimme hörte, an ihren zitternden Händen fühlte; wie er es ihr Wort für Wort herauspresste, bis sie vernichtet ihm zu Füßen lag und den Betrug gestand. Ihr Kopf fiel auf die Kissen zurück; sie verbarg ihr Gesicht entsetzt über den Auftritt, welchen ihre überreizte Einbildungskraft heraufbeschworen hatte. Selbst jetzt, wo diese gefürchtete Unterredung überflüssig geworden, konnte sie sicher sein, wenn sie ihm auch nur als eine Fremde gegenüber stand, sich nicht zu verraten? Sie konnte es nicht. Es war etwas, was sie bei dem bloßen Gedanken, mit ihm in demselben Zimmer zu sein, schaudern und zurückbeben machte. Sie fühlte es, sie wusste es; ihr schuldbeladenes Gewissen erkannte und fürchtete seinen Meister in Julian Gray! – Die Zeit verrann. Ihre heftige Aufregung begann sich physisch an dem schwachen Körper zu äußern.
Sie musste leise weinen, ohne selbst zu wissen, warum. Wie eine Last lag es auf ihr, die Ermattung lähmte ihr jedes Glied. Sie sank tiefer in die Kissen – sie schloss die Augen – das eintönige Ticken der Uhr auf dem Kaminsims drang einschläfernd immer schwächer und schwächer in ihr Ohr. Sie verfiel allmählich in Schlummer; jedoch in so leisen Schlummer, dass sie auffuhr, wenn ein Stückchen Kohle auf den Rost fiel, oder wenn die Vögel in ihrem Bauer im Wintergarten zirpten und zwitscherten.
Lady Janet und Horace traten ein. Sie hatte kaum ein Bewusstsein davon, dass jemand im Zimmer war. Nach einem kurzen Zwischenraum öffnete sie die Augen und richtete sich halb auf, um zu sprechen. Das Zimmer war wieder leer. Sie hatten sich leise hinausgeschlichen, um die Schläferin nicht zu stören. Sie schloss die Augen wieder und verfiel abermals in Schlummer; die günstige Wärme und Ruhe des Bettes verwandelte bald den Schlummer in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
3.
Der Mann erscheint
Nach einer kurzen Zeit der Ruhe wurde Mercy durch das Schließen einer Glastür am entfernten Ende des Wintergartens aus dem Schlafe geweckt. Diese Tür führte in den Garten hinaus und wurde nur von den Hausbewohnern oder noch von guten Bekannten benutzt, welche das Vorrecht genossen, die Empfangszimmer auf diesem Wege zu betreten. In dem Glauben, dass Horace oder Lady Janet in das Speisezimmer zurückkehrten, richtete sich Mercy auf dem Sofa etwas empor und horchte.
Sie hörte die Stimme eines der Bedienten. Darauf antwortete eine andere Stimme, bei deren Klang sie an allen Gliedern zu zittern begann.
Sie sprang auf und horchte wieder in sprachlosem Entsetzen. Ja! Sie war es unverkennbar. Die Stimme, welche dem Diener antwortete, war dieselbe, die unvergessliche Stimme, welche sie im Besserungshause gehört hatte. Der Besuch, welcher durch die Glastür eingetreten, war – Julian Gray.
Sein rascher Tritt näherte sich immer mehr und mehr dem Speisezimmer. Sie nahm ihre Fassung so weit zusammen, um zur Tür des Bibliothekszimmers zu eilen. Ihre Hand zitterte so heftig, dass sie nicht im Stande war, das Schloss gleich zu öffnen. Eben war ihr das gelungen, als sie seine Stimme wieder hörte – wie er sie anredete:
»Bitte, laufen Sie doch nicht davon! Ich bin ja kein Ungeheuer, sondern nur der Neffe Lady Janets – Julian Gray.«
Sie wendete sich langsam um und stand, wie verzaubert durch seine Stimme, schweigend ihm gegenüber.
Er stand, den Hut in der Hand, am Eingang in den Wintergarten; er trug einen schwarzen Anzug und eine weiße Halsbinde – allein in der Machart und Form seiner Kleidung war geflissentlich alles vermieden, was ihr einen spezifisch geistlichen Anstrich geben konnte. So jung er war, trugen seine Züge doch schon Spuren von Sorge, und das Haar war über der Stirne vorzeitig dünn und spärlich geworden. Die gelenkige, behende Gestalt reichte nicht über die mittlere Größe hinaus. Sein Teint war blass. Der untere Teil seines Gesichtes, ganz bartlos, war in keiner Weise bedeutend. Ein gewöhnlicher Beobachter würde in Julians Antlitz nichts besonderes entdeckt haben – mit Ausnahme der Augen. Diese allein drückten dem Gesichte einen besonderen Stempel auf. Die ungewöhnliche Größe der Augenhöhlen, in welchen sie lagen, war schon allein genügend, die Aufmerksamkeit zu fesseln; sein Kopf gewann dadurch einen imponierenden Ausdruck, welchen er sonst, trotz seiner Breite und seines entwickelten Knochenbaues, nicht besaß. Was die Augen selbst anbelangt, so spottete ihr weicher schimmernder Glanz jeder Kritik. Nicht zwei Menschen stimmten über die Farbe derselben überein; die Meinungen waren darüber geteilt, ob sie dunkelgrau oder schwarz seien. Maler hatten schon versucht, diese Augen nachzuahmen, und jedes Mal das begonnene Werk verzweifelnd aufgegeben, weil es ihnen nicht gelang, von der verwirrenden Mannigfaltigkeit des Ausdruckes auch nur einen zu erfassen. Es waren Augen, welche jetzt bezaubern, im nächsten Moment Entsetzen erregen konnten; welche fast nach Belieben die Menschen zum Lachen und zum Weinen brachten. Ob angeregt oder ruhig, sie waren immer gleich unwiderstehlich. Als sie vorhin Mercy nach der Tür fliehen sahen, leuchteten sie in kindlicher Belustigung auf.
Als diese sich jedoch umwendete und ihm in das Gesicht sah, verwandelte sich der frühere Ausdruck augenblicklich in einen weichen, glühenden Blick, der stumm aber deutlich sagte, dass ihre Erscheinung ihn mit Interesse und Bewunderung für sie erfüllte. Gleichzeitig veränderte sich seine ganze Haltung. Die nächsten Worte richtete er mit tiefer Ehrerbietung an sie.
»Ich bitte Sie dringend, sich durch mich nicht stören zu lassen«, sagte er. »Und verzeihen Sie, wenn ich so ohne weiteres bei Ihnen eingedrungen bin.«
Er hielt inne und erwartete eine Erwiderung von ihrer Seite, ehe er weiter in das Zimmer vordrang. Noch immer von seiner Stimme wie bezaubert, fand sie doch so viel Selbstbeherrschung wieder, sich gegen ihn zu verneigen und ihren Platz auf dem Sofa wieder einzunehmen. Jetzt konnte sie ihn unmöglich verlassen. Er sah sie einen Augenblick an, dann trat er in das Zimmer, ohne weiter mit ihr zu sprechen. Sein Interesse für das rätselhafte Geschöpf wuchs immer mehr. »Kein gewöhnlicher Gram«, dachte er, »hat diesem Gesichte seinen Stempel aufgedrückt; kein gewöhnliches Herz schlägt in dieser Hülle. Wer mag sie nur sein.«
Mercy nahm ihren ganzen Mut zusammen und zwang sich, ihn anzusprechen.
»Lady Janet ist, glaube ich, in dem Bibliothekszimmer«, sagte sie schüchtern. »Soll ich ihr sagen, dass Sie hier sind?«
»Bemühen Sie Lady Janet und sich selbst nicht.«
Damit trat er an den Frühstückstisch, um ihr so mit viel Zartgefühl Zeit zu lassen, sich zu sammeln. Er ergriff eine Flasche, in welcher Horace noch Rotwein übriggelassen hatte, und goss ihn in ein Glas. »Für den Augenblick soll der Rotwein meiner Tante sie selbst vertreten«, sagte er lächelnd, als er sich wieder nach ihr umwendete. »Ich habe einen weiten Spaziergang gemacht, und so riskiere ich es, mich in diesem Hause auch ohne besondere Einladung zu bedienen. Darf man Ihnen etwas anbieten?«
Mercy dankte verneinend. Nach allem, was sie bis jetzt von ihm erfahren hatte, konnte sie sich über sein gewandtes leichtes Benehmen nicht genug wundern.
Er leerte sein Glas mit echter Kennermiene, der guten Wein zu schätzen wusste. »Der Rotwein ist meiner Tante würdig«, sagte er mit komischem Ernste, als er das Glas niedersetzte. »Beide sind echte, unverfälschte Produkte der Natur!« Er setzte sich an den Tisch und betrachtete mit kritischem Auge die darauf stehen gebliebenen Gerichte. Eines davon schien ihn besonders zu locken. »Was ist das?« fuhr er fort. »Eine französische Pastete! Es wäre ein grober Verstoß, französischen Wein zu trinken und eine französische Pastete daneben unberührt zu lassen.« Er nahm Messer und Gabel und verzehrte die Pastete mit demselben kritischen Behagen wie den Wein. »Der großen Nation vollkommen würdig!« rief er begeistert aus. »Vive la France!«
Mercy sah und hörte mit unaussprechlichem Erstaunen. Er entsprach ganz und gar nicht jenem Bilde, welches ihre Einbildungskraft von ihm in seinem Alltagsgewand entworfen hatte. Seine weiße Halsbinde weg und niemand hätte in diesem berühmten Prediger einen Geistlichen vermutet!
Er verzehrte eine zweite Portion der Pastete und begann mit Mercy eine Unterhaltung, wobei er abwechselnd sprach und aß, aber mit so viel Ruhe und Behagen, als wären sie alte Bekannte.
»Mein Weg hierher