Die neue Magdalena. Уилки Коллинз
wollte Lady Janet Grund geben, den Tag zu segnen, wo sie zuerst ihr Haus betrat.
Sie raffte den Brief des Obersten Roseberry zusammen und steckte ihn zu den anderen Papieren in der Tasche. Die Gelegenheit lag vor ihr; alle Aussichten waren ihr günstig; ihr Gewissen wendete nichts ein gegen den kühnen Plan. Sie entschied somit. – »Ich will es tun!«
In ihrem Innern sträubte sich etwas dagegen, ihr besseres Selbst fühlte sich davon verletzt, als sie die Brieftasche in die Tasche ihres Kleides schob. Sie war entschieden, und doch fühlte sie ein Missbehagen; sie war nicht sicher, ob sie ihr Gewissen denn auch wahrhaft erforscht habe. Wie wäre es, wenn sie die Brieftasche wieder auf den Tisch legte und abwartete, bis ihre Erregung sich ganz abgekühlt hätte – wenn sie dann den rasch gefassten Plan vor den Richterstuhl ihres nüchternen Urteiles über Recht und Unrecht brächte? Sie dachte darüber nach – und war unschlüssig. Bevor sie dies ein zweites Mal tun konnte, trug die Nachtluft den dumpfen Lärm marschierender Massen und das Getrappel von Pferdehufen aus der Entfernung zu ihr herüber. Die Deutschen rückten gegen das Dorf an! In einigen Minuten mochten sie im Häuschen erscheinen; sie mochten sie auffordern, über ihre Person Rechenschaft zu geben. Es war darum keine Zeit, um abzuwarten, bis sie sich wieder gefasst hätte. Was sollte sie wählen – das neue Leben, als Grace Roseberry? Oder das frühere Leben, als Mercy Merrick?
Sie blickte zum letzten Mal nach dem Bett hin. Graces Lebenslauf war vollendet; Graces Zukunft stand zu ihrer Verfügung. Ihre entschlossene Natur zur Wahl auf der Stelle gedrängt, hielt sich an die gewagte Alternative. Sie beharrte auf dem Entschluss, an Graces Stelle zu treten.
Der Lärm vom Anmarsch der Deutschen kam immer näher und näher. Schon hörte man die Kommandorufe der Offiziere.
Sie setzte sich an den Tisch nieder und wartete ruhig auf das, was kommen würde.
Der unabweisliche Instinkt ihres Geschlechtes zwang sie, ihre Augen über ihren Anzug gleiten zu lassen, ehe die Deutschen erschienen. Indem sie prüfte, ob daran alles in Ordnung sei, fiel ihr Blick auf das rote Kreuz an ihrer linken Schulter. Einen Augenblick machte es sie stutzig, dass ihre Kleidung als Krankenpflegerin sie vielleicht in unnötige Verlegenheit bringen könnte. Sie brachte sie mit einer öffentlichen Stellung in Verbindung; sie mochte in späterer Zeit einmal Anlass zu Erkundigungen geben, die sie verraten könnten.
Sie blickte umher. Der graue Mantel, welchen sie Grace geliehen hatte, fiel ihr in die Augen. Sie erfasste ihn und hüllte sich darein von Kopf bis zu Fuß.
Sie war eben damit fertig, den Mantel an ihrem Körper in Ordnung zu bringen, als die äußere Tür aufgestoßen wurde, in fremder Sprache redende Stimmen sich vernehmen ließen und in dem Zimmer hinter ihr das Weglegen der Gewehre hörbar wurde. Sollte sie abwarten, dass man sie entdeckte? Oder sollte sie sich aus freiem Antrieb zeigen? Es war für ein Wesen ihrer Art weniger peinlich, sich zu zeigen als abzuwarten. Sie schritt vor, um in die Küche zu treten. Als sie ihre Hand nach dem Zeugvorhang ausstreckte, war derselbe plötzlich von der anderen Seite zurückgezogen und drei Männer standen ihr in dem offenen Türgang gegenüber.
5.
Der deutsche Arzt
Der jüngste der drei Fremden war – so viel man aus seinen Gesichtszügen, dem Teint und seinem ganzen Wesen entnehmen konnte – wie es schien, ein Engländer. Er trug eine Soldatenmütze und Soldatenstiefel; im übrigen war er in Zivil gekleidet. Ihm zunächst stand ein Offizier in preußischer Uniform und neben diesem der dritte und älteste der Gruppe. Er trug ebenfalls eine Uniform, aber seine Erscheinung war weit davon entfernt, den Eindruck eines Soldaten zu machen. Er hinkte auf einem Fuß, die eine Schulter hing vor, und statt eines Säbels an der Seite trug er in der Hand einen Stock. Er blickte scharf durch seine Brille mit Schildkroteinfassung zunächst auf Mercy, dann auf das Bett, dann im ganzen Zimmer umher; mit einer zynischen Ruhe in seinem Wesen wendete er sich hierauf an den preußischen Offizier und unterbrach die Stille mit folgenden Worten:
»Eine Frau krank auf dem Bett; die andere zu ihrer Pflege bei ihr und sonst niemand im Zimmer. Ist es da nötig, Major, eine Wache hier zu lassen?«
»Nein, es ist nicht nötig«, antwortete der Major. Er drehte sich auf dem Absatz herum und kehrte in die Küche zurück. Der deutsche Arzt, von dem Instinkt seines Berufes geleitet, näherte sich ein wenig der Ecke, wo das Bett stand.
Der junge Engländer, dessen Augen sich in Bewunderung auf Mercy geheftet hatten, zog den Vorhang vor die Türöffnung und redete sie höflich in französischer Sprache an.
»Darf ich fragen, ob Sie Französin sind?« sagte er.
»Ich bin Engländerin«, versetzte Mercy.
Der Arzt hatte die Antwort gehört. Er blieb auf seinem Wege gegen das Bett hin plötzlich stehen, deutete nach der darauf ruhenden Gestalt und sagte zu Mercy in gutem, aber mit starkem deutschen Akzent gesprochenen Englisch:
»Kann ich da vielleicht etwas nützen.«
Seine Manieren waren dabei ironisch höflich und seine Stimme klang, als würde sie krampfhaft zur Monotonie gezwungen. Mercy fasste auf der Stelle einen entschiedenen Widerwillen gegen diesen hinkenden, hässlichen, alten Mann, der sie so roh durch seine schildkroteingefasste Brille anstarrte.
»Sie können nichts mehr nützen, mein Herr«, sagte sie kurz. »Die Dame hier ward getötet, als Ihre Truppen dieses Häuschen beschossen.«
Der Engländer sprang auf und blickte mitleidsvoll nach dem Bette hin. Der Deutsche stärkte sich mit einer Prise Tabak und stellte eine neue Frage:
»Ist der Leichnam von einem Arzt untersucht worden?« fragte er. Mercy beschränkte ihre ungnädige Erwiderung auf das eine notwendige Wort: »Ja.« Der anwesende Arzt war jedoch nicht der Mann danach, sich durch das Missfallen, welches ihm eine Dame bewies, einschüchtern zu lassen. Er fuhr fort, seine Fragen zu stellen.
»Wer hat die Leiche untersucht?« forschte er weiter.
Mercy antwortete: »Der Doktor, welcher sich bei der französischen Ambulanz befand.«
Der Deutsche brummte etwas vor sich hin, zum Zeichen seiner Verachtung und seines Missfallens gegen alle Franzosen und alle französischen Einrichtungen. Der Engländer ergriff die erste Gelegenheit, um sich wieder an Mercy zu wenden.
»Ist die Dame eine Landsmännin von uns?« fragte er sanft.
Mercy überlegte, bevor sie antwortete. Nach dem, was sie vorhatte war es jedenfalls geraten, nur mit äußerster Vorsicht von Grace zu sprechen.
»Ich glaube«, sagte sie, »wir trafen hier zufällig zusammen. Ich weiß nichts von ihr.«
»Nicht einmal ihren Namen?« fragte der deutsche Arzt.
Mercys Entschlossenheit war der Kühnheit noch nicht gewachsen, ihren eigenen Namen offen Grace beizulegen. Sie nahm ihre Zuflucht zum einfachen Leugnen.
»Nicht einmal ihren Namen«, wiederholte sie hartnäckig.
Der alte Arzt starrte ihr roher als je in das Gesicht, beriet mit sich selbst, und nahm dann das Licht vom Tische. Er hinkte nach dem Bette zurück und untersuchte in aller Stille die daraufliegende Gestalt. Der Engländer setzte das Gespräch fort und verbarg dabei nicht länger das Interesse, welches er für die schöne Frau vor ihm empfand.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »Sie sind sehr jung, um in Kriegszeiten an einem Ort, wie dieser ist, sich allein aufzuhalten.«
Der plötzliche Ausbruch einer Störung in der Küche überhob Mercy im Augenblick der Notwendigkeit, ihm sofort zu antworten. Sie hörte die Stimmen der Verwundeten, wie sie sich zu schwachen Einwendungen erhoben, und das rauhe Kommando der Offiziere, die ihnen Stillschweigen geboten. Die edle Natur dieser Frau gewann sogleich die Oberhand über jedes persönliche Bedenken, welches ihr durch die selbst geschaffene Stellung auferlegt wurde. Achtlos, ob sie sich als Krankenpflegerin bei der französischen Ambulanz verrate oder nicht, zog sie den Vorhang augenblicklich auf die Seite, um in die Küche zu treten. Eine deutsche Schildwache vertrat ihr den Weg und kündigte in deutscher Sprache an, dass Fremde nicht eingelassen würden. Der Engländer legte sich höflich ins Mittel und fragte, ob sie irgendeinen besonderen Zweck hätte, dessentwegen sie