Ein tiefes Geheimniss. Уилки Коллинз
geben Sie ihr noch ein Stück – immerhin,« sagte der Vikar gleichgültig. »Überessen muß sie sich einmal und das kann sie ebensogut in Brot und Kompott tun, als in etwas anderem.«
»Mein guter, lieber Freund,« rief Mr. Phippen, »sieh an, was für ein unglücklicher, kranker Mensch ich bin; spricht nicht in dieser entsetzlich gedankenlosen Weise davon, daß du deine liebe kleine Amely sich überessen lassen willst. Wenn der Magen schon in der Jugend überladen wird, was soll dann aus der Verdauung im Alter werden? Das Ding, welches die gemeinen Leute das Inwendige nennen – Miß Sturch wird aus Interesse an ihrer liebenswürdigen Schülerin mich entschuldigen, wenn ich in physiologische Erörterungen eingehe – ist in der Tat eine Maschine. Vom Standpunkt der Verdauung aus betrachtet, Miß Sturch, ist selbst der schönste und jüngste von uns eine Maschine. Man öle unsere Räder, aber man hemme ihren Gang nicht durch unpassende Substanzen. Mehlhaltige Puddings und Hammelkoteletts – Hammelkoteletts und mehlhaltige Puddings – das müßte, wenn es mir nach ginge, die Parole der Älteren von einem Ende Englands bis zum andern sein. Schau her, liebes Kind, sieh mich an. Diese kleine Waage ist durchaus kein Spaß, sondern furchtbarer Ernst. Sieh, ich lege in die eine Schale derselben trockenes Brot – altbackenes, trockenes Brot, liebe Amely – und in die andere einige Unzen Gewichte. ‚Mr. Phippen, essen Sie nach dem Gewicht. Mr. Phippen, essen Sie Tag für Tag aufs Haar genau dieselbe Quantität. Mr. Phippen, überschreiten Sie dieselbe um keinen Preis, wenn es auch bloß altbackenes, trockenes Brot ist.’ Meine liebe Amely, das ist kein Scherz – das ist, was die Ärzte zu mir sagten – die Ärzte, liebes Kind, welche meine Maschine seit dreißig Jahren mit kleinen Pillen durch und durch sondiert, aber immer noch nicht gefunden haben, wo es mit meinen Rädern hapert. Merke dir das, liebe Amely – denke an Mr. Phippens mangelhafte Maschine – und sage das nächste Mal, wo man dir noch mehr zu essen anbietet: Nein, ich danke – Miß Sturch, ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich mich in etwas mische, was Ihres Amtes ist, mein Interesse aber für dieses liebe Kind, meine eigene traurige Erfahrung in Bezug auf die hydraköpfigen Qualen – ach, Chennery, mein guter, lieber Freund, wovon sprachen wir denn eigentlich? – Ja, jetzt fällt es mir wieder ein – wir sprachen von der Braut – der interessanten Braut. Also, sie ist eine der Trevertons von Cornwall? Ich war vor Jahren mit Andrew ein wenig näher bekannt. Er war ein exzentrischer, menschenfeindlicher alter Junggesell, gerade wie ich selbst, Miß Sturch; er litt auch an der Verdauung gerade wie ich, liebe Amely. Er hatte, vermute ich, durchaus keine Ähnlichkeit mit seinem Bruder, dem Kapitän. Also, die ist nun vermählt? Ein liebenswürdiges Mädchen – ich zweifle nicht daran – ein liebenswürdiges Mädchen.«
»In der ganzen Welt gibt es kein besseres, aufrichtigeres und hübscheres,« sagte der Vikar. »Dabei ist sie auch eine sehr lebhafte, energischer Person.«
»Wie werde ich sie vermissen,« sagte Miß Louise. »Niemand anders amüsierte mich so wie Rosamunde, als ich das letzte Mal an dem blöden Schnupfen litt und das Bett hüten mußte.«
»Und was gab sie uns immer für nette kleine Soupers!« sagte Miß Amely.
»Sie war das einzige Mädchen, welches ich je gekannt, das mit Knaben zu spielen verstand,« sagte Master Robert. »Sie konnte den Ball mit einer Hand fangen, Mr. Phippen, und auf dem Eise mit gleichen Füßen schuscheln.«
»Was du nicht sagst!« rief Mr. Phippen. »Das ist ja eine ganz außerordentliche Frau für einen Blinden! Nicht wahr, lieber Doktor, du sagtest, er sei blind? Wie hieß er gleich? Sie werden mein schlechtes Gedächtnis nicht allzuhart beurteilen, Miß Sturch. Wenn Verdauungsbeschwerden den Körper ruiniert haben, dann beginnen sie auch an dem Geiste zu nagen. Mr. Frank hieß er, nicht wahr? Und ist er von seiner Geburt an blind gewesen? Traurig! Traurig!«
»Nein, nein – Frankland heißt er,« antwortete der Vikar, »Leonard Frankland. Auch ist er keineswegs von seiner Geburt an blind gewesen. Es ist nicht viel über ein Jahr her, als er noch so gut sehen konnte wie eins von uns.«
»Dann ist er wohl durch einen Unfall erblindet?« sagte Mr. Phippen. »Du erlaubst mir doch, daß ich mich in den Armstuhl setze ? Eine teilweise liegende Stellung ist mir nach der Mahlzeit allemal von wesentlichem Nutzen. Also, es ist mit seinen Augen ein Unfall vorgegangen? Ja, in diesem Lehnstuhl sitzt es sich doch köstlich!«
»Einen Unfall kann man es eigentlich nicht nennen,« entgegnete Doktor Chennery, »Leonard Franklands Erziehung hatte viel Schwierigkeiten. Erstens war er von Haus aus sehr schwächlich. Mit der Zeit schien sich dies jedoch zu bessern und er wuchs zu einem ruhigen, gesetzten, manierlichen Knaben heran, der mit meinem Söhnchen dort durchaus keine Ähnlichkeit hatte. Er war sehr liebenswürdig und es ging sich, wie man zu sagen pflegt, sehr gut mit ihm um. Er hatte große Vorliebe für die Mechanik – ich erzähle dir alles dies, damit du die Sache richtig begreifst, wenn ich auf seine Blindheit zu sprechen komme – und nachdem er eine Beschäftigung dieser Art nach der andern vorgenommen, legte er sich endlich aufs Uhrmachen. Es war dies ein seltsamer Zeitvertreib für einen Knaben, aber alles, was zarte Behandlung und viel Geduld und Ausdauer erforderte, war gerade das, was Leonard liebte und gern trieb. Ich sagte immer zu seinen Eltern: »Zieht ihn von diesem Stuhle herunter, zerbrecht seine Vergrößerungsgläser, schickt ihn zu mir und ich will mit ihm Turnübungen durchmachen und ihn einen Ballschlägel handhaben lehren.« Aber es half nichts. Seine Eltern wußten, glaube ich, am besten, was zu tun wäre und sagten, man müsse ihm den Willen tun. Na, die Sache ging eine Zeitlang ganz gut, bis er wieder in eine lange Krankheit verfiel – wie ich glaube, weil er sich nicht Bewegung genug gemacht hatte. Sobald als er wieder zu genesen begann, ging auch die alte Uhrmacherei wieder los. Das schlimme Ende aber sollte noch kommen. Ungefähr die letzte Arbeit, die er ausführte, der arme Teufel, war die Reparatur meiner Uhr – hier ist sie – sie geht so regelmäßig wie eine Dampfmaschine. Ich hatte sie noch nicht lange wieder in der Tasche, als ich hörte, daß er sich über heftige Schmerzen im Hinterkopfe beklage und daß er alle Arten sich bewegende Punkte vor den Augen sähe. »Gebt ihm tüchtig Portwein zu trinken und laßt ihn täglich drei Stunden lang auf einem ruhigen Pferdchen spazierenreiten« – dies war mein Rat. Anstatt aber denselben zu befolgen, ließen seine Eltern Ärzte von London holen, legten ihm spanische Fliegen hinter die Ohren und zwischen die Schultern, ließen ihn Quecksilber einnehmen und steckten ihn in ein finsteres Zimmer. Es half nichts. Die Augen wurden schlimmer und schlimmer, flackerten und flackerten und verlöschten endlich wie die Flamme eins Lichts. Seine Mutter starb – es war ein Glück für sie, die arme Seele – ehe dies geschah. Sein Vater war ganz außer sich und reiste mit ihm zu Augenärzten in London und zu Augenärzten in Paris. Sie taten aber weiter nichts, als daß sie die Blindheit bei einem langen lateinischen Namen nannten und sagten, es sei hoffnungslos und nutzlos, eine Operation zu versuchen. Einige von ihnen sagten, das Übel sei die Folge der langwierigen Schwäche, woran er zwei Mal nach seiner Krankheit gelitten. Andere wieder sagten, es sein eine apoplektische Ergießung im Gehirn. Alle aber schüttelten die Köpfe, als sie von der Uhrmacherei hörten. Und so brachte man ihn blind wieder nach Hause; blind ist er jetzt und blind wird er bleiben, der arme junge Mann, so lange er lebt.«
»Du machst mich sehr ängstlich, lieber Chennery, du machst mich sehr ängstlich,« sagte Mr. Phippen, »besonders mit dieser Theorie von langwieriger Schwäche nach Krankheit. Gütiger Himmel! Ich habe auch an langwieriger Schwäche gelitten – ich leide jetzt noch daran. Punkte sah er vor den Augen? Ich sehe auch schwarze Punke – tanzende schwarze Punkte – tausende, schwarze, gallige Punkte. Auf mein Ehrenwort, lieber Chennery, das paßt ganz auf mich – meine Sympathie ist schmerzlich erregbar – Ich fühle diese Blindengeschichte in jedem Nerv meines Körpers – du kannst es mir glauben.«
»Wer aber Leonard ansieht und es nicht weiß, der würde kaum glauben, daß er blind ist,« sagte Miß Louise, indem sie sich mit der Absicht, Mr. Phippens Gleichmut wieder herzustellen, ins Gespräch mischte. »Abgesehen davon, daß seine Augen ruhiger aussehen als die anderer Leute, scheint kein Unterschied bemerkbar zu sein. Wer war jener berühmte Mann, von dem Sie uns erzählten, Miß Sturch, der auch blind war und dem man es ebensowenig anmerkte wie Leonard Frankland?«
»Milton, liebes Kind. Ich bat euch, zu merken, daß er der berühmteste der epischen Dichter Englands war,« antwortete Miß Sturch in ihrem freundlichen Tone. »Er spricht sich selbst sehr poetisch über die Ursache seiner Blindheit aus. Du sollst es selbst lesen. Louise. Nachdem wir