Herz und Wissen. Уилки Коллинз
Frühstück einen langen Spaziergang gemacht und dann noch seinen geschwächten Kräften diesen Ausflug und das Herumwandern im zoologischen Garten zugemuthet und jetzt hatte er seine physische und moralische Spannkraft verloren.
»Ich fürchte, ich habe Sie beleidigt«. sagte er traurig zu seiner Begleiterin; »ich meinte es nicht so.«
»O wie wenig kennen Sie mich«, rief sie, »wenn Sie das denken!«
Diesmal begegneten sich ihre Augen und die Wahrheit begann in ihr heraufzudämmern. Er nahm ihre Hand in die seine, deren feuchtkalter Griff ihr auffiel, und fragte so leise, daß sie es kaum hören konnte: »Wundern Sie sich noch, weshalb ich Ihnen folgte?« Dabei standen ihm schwere Schweißtropfen auf der Stirn, eine graue geisterhafte Blässe überzog sein Gesicht – er wankte und versuchte verzweifelt, sich an dem Zweige eines neben ihnen stehenden Baumes zu halten. Ihn mit den Armen umfassend, versuchte sie mit ihrer ganzen geringen Kraft, ihn aufrecht zu halten, vermochte aber mit äußerster Anstrengung nur soviel, daß sie ihn zu dem Rasen zog und seinen Fall milderte. Hilfe rufend sah sie sich um und erblickte einen großen Mann auf sie zukommen, der indeß nicht lief, auch nicht, als er sah, was geschehen war, sondern nur weit ausschritt. »Es war Doctor Benjulia, der seinen kranken Affen unter dem langen Rocke geschützt hielt und von einem der Wärter gefolgt war.
»Bitte, lassen Sie das«, war Alles, was er mit seiner gewohnten Gelassenheit sagte, als sich Carmina bemühte, Ovid’s Kopf vom Grase aufzuheben. Dann legte er seine Hand so kühl auf das Herz des Ohnmächtigen, als ob derselbe ihm ein vollständig Fremder gewesen wäre. »Wer von Ihnen beiden kann am schnellsten laufen?« fragte er dann, Carmina und den Wärter ansehend. »Ich brauche etwas Branntwein.«
Ehe der Wärter noch verstand, was von ihm begehrt wurde, eilte Carmina schon über den Rasen auf das Restaurant zu.
»Wie das Mädchen rennen kann’s sagte er zu sich als er ihr mit seiner gewohnten feierlichen Aufmerksamkeit nachgesehen hatte, und wandte sich dann wieder dem Ohnmächtigen zu.
»Hat sich thörichterweise bei seinem Zustande allzusehr angestrengt.« Dann erinnerte er sich des Affen’s, den er für den Augenblick in’s Gras gesetzt hatte, und bemerkte mit mehr Interesse, als er bis dahin gezeigt hatte: »Da ist es zu kalt für ihn. Heda, Wärter! Nehmen Sie den Affen auf, bis ich ihn selbst wieder hinnehmen kann.«
»Er möchte mich beißen, Herr Doctor«, sagte der Mann zögernd.
»Nehmen Sie ihn auf!« wiederholte der Doctor, »er kann nach dem, was ich mit ihm gemacht, überhaupt Niemanden beißen.«
Der Affe befand sich wirklich in einem Zustande der Erstarrung, und der Wärter, der ihn, dem Befehle gehorchend, aufnahm, schien sich nun mehr vor dem Doctor als vor dem Affen zu fürchten.
»Haltet Ihr mich für den Teufel?« fragte Benjulia, da der Wärter ihn verblüfft anstarrte, und das Aussehen des Mannes bejahte die Frage jedenfalls, wenn es der Mund auch nicht wagte.
Als Carmina mit dem Branntwein eiligst zurückkam, roch der Doctor erst an diesem, ehe er ihr Beachtung schenkte.
»Außer Athem?« fragte er dann.
»Warum geben Sie ihm nicht den Branntwein?« gab sie ungeduldig zur Antwort.
»Starke Lungen«, fuhr Benjulia fort, sich neben Ovid setzend und das Reizmittel anwendend, ohne sich dabei besonders zu beeilen. »Manche Mädchen würden nach einer solchen Strapaze nicht im Stande gewesen sein zu sprechen. Als Sie noch klein waren, hielt ich nicht viel von Ihren Lungen.«
»Komm er wieder zu sich?« fragte Carmina.
»Wissen Sie, was eine Pumpe ist?« gab Benjulia wieder zurück. »Nun, eine Pumpe kommt manchmal in Unordnung, aber der Zimmermann wird sie schon wieder in Stand setzen, wenn man ihm Zeit läßt. Diese Pumpe ist in Unordnung«, und damit ließ er seine mächtige Hand auf des Daliegenden Brust fallen; »und ich bin der Zimmermann, der sie wieder in Stand setzen wird. Sie gleichen Ihrer Mutter durchaus nicht«
Carmina, die Ovid’s Gesicht eifrig beobachtete, war durch eine schwache Wiederkehr von Farbe auf demselben so erfreut, daß sie fähig war, dem seltsamen Gespräch des Doctors zuzuhören und sogar darauf einzugehen. »Verschiedene von unseren Bekannten meinten, daß ich meinem Vater ähnlich wäre«, antwortete sie.
»So?« äußerte Benjulia und schloß die dünnen Lippen, als ob er den Gegenstand fallen lassen wollte. Als dann Ovid sich schwach rührte und die Augen halb öffnete, erhob er sich und sagte: »Jetzt brauchen Sie mich nicht mehr.« Darauf ließ er sich von dem Wärter den Affen wieder geben, nahm denselben wie ein Bündel unter den Arm, deutete dann nach dem Ende des Weges und sagte: »Da sind Ihre Begleiter. Adieu.«
Carmina aber hielt ihn an, legte, in ihrer Besorgniß das Ceremoniell vergessend, die Hand auf seinen Arm und fragte schüchtern:
»Was bedeutet dieser Anfall; ist er der Vorgänger einer Krankheit?«
»Sogar einer ernstlichen – wenn Sie nicht das Richtige thun, und zwar auf der Stelle«, antwortete er, ihre Hand nicht ärgerlich, sondern so abschüttelnd, wie er sich vielleicht einen Fleck von Cigarrenasche oder Straßenstaub abgeschüttelt haben würde, und dann ging er. Bescheiden aber doch entschlossen folgte sie ihm mit den Worten: »Sagen Sie mir, bitte, was wir zu thun haben.«
Er sah über die Schulter zurück: »Schicken Sie ihn fort.« Dann ging sie zurück, kniete neben Ovid, der sich langsam erholte, nieder und wischte ihm zärtlich und sanft die feuchte. Stirn, dabei mit einem traurigen Seufzer zu sich sagend: »Gerade als wir anfingen uns zu verstehen!«
Capitel XV
Zwei Tage vergingen und Ovid blieb trotz der empfangenen Warnung in London. Die unbestreitbare Autorität Benjula’s wirkte bei ihm eben sowenig als die unwiderleglichen Gründe seiner Mutter. Neuerliche Umstände hatten, wie diese es erklärte, seinen verblendeten Widerstand gegen die Vernunft verstärkt. Der gefürchtete Augenblick der Abreise Teresa’s war durch ein Telegramm aus Italien beschleunigt worden, und das Mitgefühl, welches Ovid mit dem Kummer Carmina’s empfand, machte sie ihm theurer als je. Ihre Seelenstärke war an dem zweiten Morgen nach dem Vesuche im zoologischen Garten auf eine harte Probe gestellt worden, als sie unter ihrem Kissen das Telegramm, in einen Abschiedsbrief eingeschlossen, gefunden hatte – Teresa war fort.
»Meine Carmina«, schrieb dieselbe, »ich habe Dich geküßt und nehme nun schriftlich Abschied von Dir, so gut es meine vermeinten alten Augen zulassen. O Du Liebling meines Herzens, ich kann es nicht über mich gewinnen, Dich zu wecken und Deinen Schmerz zu sehen. Vergieb mir, daß ich nur mit diesem stummen Lebewohl fortgehe; meine Liebe zu Dir ist meine einzige Entschuldigung. Solange mein hilfloser alter Mann noch lebt, hat derselbe ein Anrecht auf mich. Schreibe mit jeder Post und sei überzeugt, daß ich antworte – und denke an das, was ich von Ovid gesagt habe. Liebe den guten Mann, der Dich liebt, und suche so gut wie möglich mit den Anderen auszukommen. Sie können ja nicht schlecht gegen den armen Engel sein, der von ihrer Güte abhängt. O, wie hart ist das Leben —« Das Uebrige war von Thränen ausgelöscht und unleserlich.
Carmina verbrachte diesen unglücklichen Tags in der Einsamkeit ihres Zimmers und weigerte sich sanft, aber fest, irgend Jemand zu sehen, was Mrs. Gallilee’s Besorgnisse vermehrte. So schon ganz von Ovid’s Hartnäckigkeit und den Mitteln, dieselbe zu überwinden, in Anspruch genommen, sah sie sich nun noch einer Entschlossenheit im Charakter ihrer Nichte gegenüber, die sie des Höchsten überraschte, denn es konnten sich bei der Behandlung Carmina’s vielleicht unvorhergesehene Schwierigkeiten erheben. Mittlerweile war sie, was die ernste Angelegenheit in Betreff des drohenden Gesundheitszustandes ihres Sohnes anbetraf, ganz auf ihre eigene Klugheit angewiesen, da Benjulia zu sehr von seinen Experimenten im Laboratorium in Anspruch genommen war und es abgelehnt hatte, sie zu unterstützen. »Ich habe meinen Rath bereits abgegeben«, schrieb er. »Schicken Sie ihn fort. Lassen Sie mich dann nach einem Monate seine Briefe sehen, so werde ich Ihnen meine Meinung über ihn sagen, wenn ich dann noch etwas zu sagen habe«
So also auf sich selbst angewiesen, blieb der Selbstverleugnung Mrs. Gallilees nur ein gesunder Schluß übrig. Der einzige Einfluß, den sie jetzt noch mit irgendwelcher Aussicht auf Erfolg bei ihrem Sohn gebrauchen konnte, war der ihrer Nichte. Sie ließ