Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг

Gesammelte Werke von Stefan Zweig - Стефан Цвейг


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wie niemand in Europa«, er verlangt die Unterwürfigkeit unter das Popentum. Um die Menschen vor der Gottesqual zu behüten, die er wie keiner im eigenen Fleische erlebt, verkündet er die Gottesliebe. Denn er weiß: »Das Schwanken, die Unruhe des Glaubens – das ist für einen gewissenhaften Menschen eine solche Qual, daß es besser ist, sich zu erhängen.« Er selbst ist ihr nicht ausgewichen, als Märtyrer hat er den Zweifel auf sich genommen, aber der Menschheit, der unendlich geliebten, will er ihn ersparen. So schafft er, statt hochmütig die Wahrheit seines Wissens zu verkünden, die demütige Lüge eines Glaubens. Er verschiebt das religiöse Problem ins Nationale, dem er den Fanatismus des göttlichen gibt. Und wie sein getreuester Knecht antwortet er auf die Frage: »Glauben Sie an Gott?« in der aufrichtigsten Konfession seines Lebens: »Ich glaube an Rußland.«

      Denn das ist seine Flucht, seine Ausflucht, seine Rettung: Rußland. Hier ist sein Wort nicht mehr Zwiespalt, hier wird es Dogma. Gott hat ihm geschwiegen: so schafft er sich als Mittler zwischen sich und dem Gewissen selbst einen Christus, den neuen Verkünder einer neuen Menschheit, den russischen Christus. Aus der Wirklichkeit, aus der Zeit stürzt er sein ungeheures Glaubensbedürfnis einem Unbestimmten entgegen – denn nur einem Unbestimmten, einem Grenzenlosen kann dieser Maßlose sich ganz hingeben – in die ungeheuere Idee Rußland, in dieses Wort, das er anfüllt mit allem Unmaß seiner Gläubigkeit. Ein anderer Johannes, verkündigt er diesen neuen Christus, ohne ihn geschaut zu haben. Aber er spricht in seinem Namen, in Rußlands Namen für die Welt.

      Diese seine messianischen Schriften – es sind die politischen Aufsätze und manche Ausbrüche der Karamasow – sind dunkel. Verworren enttaucht ihnen dieses neue Christusantlitz, der neue Erlösungs-und Allversöhnungsgedanke, ein byzantinisches Antlitz mit harten Zügen, strengen Falten. Wie von den alten rauchgeschwärzten Ikonen starren fremde stechende Augen uns an, Inbrunst, unendliche Inbrunst in sich, aber auch Haß und Härte. Und furchtbar ist Dostojewski selbst, wenn er diese russische Erlösungsbotschaft uns Europäern wie verlorenen Heiden kündet. Ein böser, fanatischer, mittelalterlicher Mönch, das byzantinische Kreuz wie eine Geißel in der Hand, so steht der Politiker, der religiöse Fanatiker uns gegenüber. Wie ein Delirant, ein Heimgesuchter in mystischen Krämpfen, nicht in sanfter Predigt kündet er seine Lehre, in dämonischen Zornausbrüchen entlädt sich seine maßlose Leidenschaft. Mit Keulen schlägt er jeden Einwand nieder, ein Fiebernder, gegürtet mit Hochmut, funkelnd von Haß, stürmt er die Tribüne der Zeit. Schaum steht vor seinem Munde, und mit zitternden Händen schleudert er den Exorzismus über unsere Welt.

      Ein Bilderstürmer, ein rasender Ikonokiast, fällt er her über die Heiligtümer der europäischen Kultur. Alles stampft er nieder, der große Tobsüchtige, von unseren Idealen, um seinem neuen, dem russischen Christus den Weg zu bereiten. Bis zum Irrwitz schäumt seine moskowitische Unduldsamkeit. Europa, was ist es? Ein Kirchhof, mit teuern Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von Fäulnis, nicht einmal Dünger mehr für die neue Saat. Die blüht einzig aus russischer Erde. Die Franzosen – eitle Laffen, die Deutschen – ein niedriges Wurstmachervolk, die Engländer – Krämer der Vernünftelei, die Juden – stinkender Hochmut. Der Katholizismus – eine Teufelslehre, eine Verhöhnung Christi, der Protestantismus – ein vernünftlerischer Staatsglaube, alles Hohnbilder des einzig wahren Gottesglaubens: der russischen Kirche. Der Papst – der Satan in der Tiara, unsere Städte – Babylon, die große Hure der Apokalypse, unsere Wissenschaft – ein eitles Blendwerk, Demokratie – die dünne Brühe weicher Gehirne, Revolution – ein loses Bubenstück von Narren und Genarrten, Pazifismus – ein Altweibergeschwätz. Alle Ideen Europas ein verblühter, verwelkter Blumenstrauß, gut genug, in die Jauche geschmissen zu werden. Nur die russische Idee ist die einzig wahre, einzig große, einzig richtige. Im Amoklauf stürmt der rasende Übertreiber weiter, jeden Einwand mit dem Dolche niederstoßend: »Wir verstehen euch, aber ihr versteht nicht uns« – schon bricht jede Diskussion blutend zusammen. »Wir Russen sind die Allverstehenden, ihr seid die Begrenzten«, dekretiert er. Rußland allein ist richtig und alles in Rußland, der Zar und die Knute, der Pope und der Bauer, die Troika und die Ikone, und um so richtiger, je mehr es antieuropäisch, asiatisch, mongolisch, tatarisch, um so richtiger, als es konservativ, rückständig, unfortschrittlich, ungeistig, byzantinisch ist. O wie tobt er sich hier aus, der große Übertreiber! »Seien wir Asiaten, seien wir Sarmaten«, jauchzt er auf. »Weg von Petersburg, dem europäischen, zurück zu Moskau, hinüber nach Sibirien, das neue Rußland ist das Dritte Reich.« Diskussion darüber duldet dieser gotttrunkene mittelalterliche Mönch nicht. Nieder die Vernunft! Rußland ist das Dogma, das widerspruchslos zu bekennen ist. »Man versteht Rußland nicht mit der Vernunft, sondern mit dem Glauben.« Wer ihm nicht in die Knie stürzt, ist der Feind, der Antichrist: Kreuzzug wider ihn! Hell schmettert er in die Fanfare des Krieges. Zerstampft muß Österreich werden, der Halbmond von der Hagia Sofia Konstantinopels gerissen, Deutschland gedemütigt, England besiegt – ein wahnwitziger Imperialismus hüllt seinen Hochmut in mönchische Kutte und ruft: »Dieu le veut.« Um des Gottesreiches willen die ganze Welt für Rußland.

      Rußland also ist Christus, der neue Erlöser, und wir sind die Heiden. Nichts errettet uns Verworfene aus dem Fegefeuer unserer Schuld: wir haben die Erbsünde begangen, keine Russen zu sein. Unserer Welt ist kein Raum in diesem neuen Dritten Reich: erst muß unsere europäische Welt untergehen im russischen Weltreiche, im neuen Gottesreiche, dann erst kann sie erlöst werden. Wörtlich sagt er: »Jeder Mensch muß vorerst Russe werden.« Dann erst beginnt die neue Welt. Rußland ist das Gottträgervolk: erst muß es noch mit dem Schwerte die Erde erobern, dann erst wird es sein »letztes Wort« der Menschheit sagen. Und dieses letzte Wort heißt für Dostojewski: Versöhnung. Für ihn besteht das russische Genie in der Fähigkeit, alles zu verstehen, alle Gegensätze zu lösen. Der Russe ist der Allversteher und darum der Nachgiebige im höchsten Sinn. Und sein Staat, der Zukunftsstaat, wird die Kirche sein, die Form der brüderlichen Gemeinschaft, der Durchdringung statt der Unterordnung. Und es klingt wie ein Prolog zu den Ereignissen dieses Krieges (der in seinem Anbeginn so genährt war von seinen Ideen, wie in seinem Ende von jenen Tolstois), wenn er sagt: »Wir werden die ersten sein, die der Welt verkünden, daß wir nicht durch Unterdrückung der Persönlichkeit und fremder Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen wollen, sondern im Gegenteil letzteres nur in der freiesten und selbständigsten Entwicklung aller Nationen und in der brüderlichen Vereinigung suchen.« Über die Berge des Ural wird das ewige Licht aufsteigen und das schlichte Volk, nicht der wissende Geist, nicht die europäische Kultur, mit seinen dunklen Geheimnissen der Erde verbundenen Kräften unsere Welt erlösen. Statt der Macht wird die werktätige Liebe sein, statt des Widerstreits der Persönlichkeiten das allmenschliche Gefühl, der neue, der russische Christus wird die Allversöhnung bringen, die Auflösung der Gegensätze. Und der Tiger wird neben dem Lamme weiden und der Rehbock neben dem Löwen – wie zittert Dostojewskis Stimme, wenn er vom Dritten Reich spricht, vom Allrußland der Erde, wie bebt er selbst in der Ekstase der Gläubigkeit, wie wunderbar ist er, der Wissendste aller Wirklichkeiten, in seinem messianischen Traum.

      Denn in das Wort Rußland, in die Idee Rußland hinein träumt Dostojewski diesen Christustraum, die Idee der Versöhnung der Gegensätze, die er in seinem Leben, in der Kunst und selbst in Gott durch sechzig Jahre vergeblich gesucht. Aber dieses Rußland, welches ist es, das reale oder das mystische, das politische oder das prophetische? Wie immer bei Dostojewski: beides zugleich. Vergeblich, von einem Leidenschaftlichen Logik zu verlangen und von einem Dogma seine Begründung. In den messianischen Schriften Dostojewskis, den politischen, den literarischen Werken, taumeln die Begriffe wie rasend durcheinander. Bald ist Rußland Christus, bald Gott, bald das Reich Peters des Großen, bald das neue Rom, die Vereinigung des Geistes und der Macht, Tiara und Kaiserkrone, seine Hauptstadt bald Moskau, bald Konstantinopel, bald das neue Jerusalem. Die demütigsten allmenschlichsten Ideale wechseln brüsk mit machtgierigen slawophilen Eroberungsgelüsten, politische Horoskope von verblüffender Treffsicherheit mit phantastischen apokalyptischen Verheißungen. Bald jagt er den Begriff Rußland in die Enge der politischen Stunde, bald schnellt er ihn in das Grenzenlose empor – auch hier wie im Kunstwerk die gleiche zischende Mischung von Wasser und Feuer, von Realismus und Phantastik offenbarend. Der Dämonische in ihm, der rasende Übertreiber, in ein Maß gezwungen sonst in seinen Romanen, hier lebt er sich aus in pythischen Krämpfen: mit der ganzen Inbrunst seiner glühenden Leidenschaft predigt er Rußland als das Heil der Welt, die alleinmachende Seligkeit. Nie ward eine


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