Mörderischer Galopp. Heide-Marie Lauterer
Marga ritt im versammelten Galopp durch die ganze Bahn. Kurz vor dem Wechselpunkt zögerte der Wallach.
„Genug für heute“, sagte Kraus, der mich am Eingang warten sah.
„Kann man denn hier überhaupt nicht mehr in Ruhe arbeiten – dauernd kommt jemand dazwischen!“ Damit war ich gemeint. „Wo ist eigentlich Karlchen?“, schrie sie und stieß einen Pfiff aus, der mir im Trommelfell schmerzte.
„Der Eingang ist frei“, rief der Reitlehrer mir zu.
Marga, die ihre Runden trabte und erfolglos nach ihrem Hund Karlchen rief, warf mir giftige Blicke zu und ignorierte beharrlich mein ‚Guten Morgen’. Roberto Kraus begrüßte mich mit Handschlag und tätschelte Nine den Hals. Er sieht unverschämt gut aus, durchfuhr es mich, als ich ihm in die braunen Augen sah. Es fehlte gerade noch, dass ich rot wurde, aber glücklicherweise hatte ich dazu gar keine Zeit.
„Alles wieder in Ordnung, hoffe ich?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, begann er mit dem Unterricht.
Nine setzte sich richtig in Szene – sie machte ihren Hals krumm, warf die Vorderbeine, dass es eine Freude war und trat mindestens zwei Handbreit unter. Roberto Kraus war begeistert.
„Eine Nerwa-Tocher, ohne Zweifel“, sagte er anerkennend. Natürlich bezog ich das Lob auf mich – ich war darüber so froh, dass ich mich gar nicht fragte, woher der Reitlehrer eigentlich die Abstammung meiner Stute kannte – außer mit Carmen hatte ich doch mit niemandem sonst darüber gesprochen. Aber warum sollte ich mir unnötig den Kopf zerbrechen – wichtiger war doch, dass ich nach unserer ersten Vorstellung von ihm als Reitschülerin akzeptiert war.
„Mittwochs um neun Uhr – wenn es Ihnen passt. Oder wollen wir nicht lieber „Du“ sagen? Komme bitte fünf Minuten später, du solltest es dir nicht mit Marga verderben!“
Natürlich sagte ich sofort zu allem ‚Ja“’. Ich kam mir richtig geschmeichelt vor. Der Mann war ein richtiger Profi, der etwas von Pferden verstand, aber noch während ich so dachte, hörte ich eine mir wohlbekannte innere Stimme, die mich mit der Frage nervte – vielleicht versteht er nicht nur was von Pferden, sondern auch von Frauen? Glücklicherweise gelang es mir auffällig schnell, diese Stimme abzustellen. Doch dann bildete sich sofort eine neue Frage: Was hatte Kraus eigentlich mit ‚alles wieder in Ordnung’ gemeint?
„Na, ob sich Nine wieder von ihrer Kolik erholt hat!“
„Von welcher Kolik?“
Roberto schüttelte ungläubig den Kopf: „Das weißt du nicht?“
„Ich war auf Dienstreise.“ Ich spürte ein schlechtes Gewissen, obwohl ich gar nicht wusste, warum eigentlich, aber aus Robertos Tonfall hatte ich jede Menge unausgesprochener Vorwürfe herausgehört.
„Warum hat Carmen mir nichts davon erzählt?“, sagte ich ärgerlich. Roberto Kraus zuckte die Achseln: „Es ist doch alles noch mal gut gegangen“, sagte er. Auf einmal schien der Reitlehrer den Vorfall nicht mehr besonders ernst zu nehmen. Nine also auch, dachte ich. Jetzt fängt es bei Nine an. Was dieses ‚es“’ bedeutete, wusste ich nicht, ich fühlte nur, wie meine anfängliche Wut einer mir unbekannten Bangigkeit wich. Ich hatte doch selbst miterlebt, wie Windspell an einer Kolik zugrunde gegangen war, es war mir, als sähe ich das große Pferd wieder in seiner Box auf dem nassen, zerwühlten Stroh liegen und röcheln. Ich musste mich schütteln, um die schrecklichen Bilder loszuwerden. Doch dann sagte ich mir: Nine lebt doch und Koliken waren anscheinend gar nicht so selten wie ich bisher geglaubt hatte.
In der Sattelkammer traf ich Marga.
„Willkommen auf dem Leierhof“, sagte sie mit einem frostigen Lächeln. „Sie nehmen Unterricht bei Roberto?“
„Ja“, antwortete ich freudig. „Nine hat ihm gefallen, glaube ich.“
Marga sah mich spöttisch an. „So? – Glauben Sie? Sie haben Glück, dass es Ihrer Stute wieder gut geht und noch mehr Glück, dass Roberto Sie als Schülerin angenommen hat. Normalerweise gibt er keinen Anfängerunterricht.“
Ich schluckte, meine gute Stimmung war jetzt vollends verflogen. Ich hatte den Eindruck, dass jede X-Beliebige auf dem Leierhof über Nine besser Bescheid wusste als ich und, was noch schlimmer war, – sie hielten mich für unverantwortlich – ich war sozusagen eine Rabenmutter! Und dass Marga ‚Anfängerin’ zu mir gesagt hatte, machte mich richtig wütend. Sie kannte mich doch überhaupt nicht! Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, pfiff Marga nach ihrem Hund. Sie winkte mir kurz zu: „Ich hab’s eilig – wir reden ein anderes Mal miteinander!“
Carmen hatte die ganze Zeit draußen am Putzplatz gestanden und unser Gespräch mitangehört. Mein Zorn auf sie war plötzlich verflogen, ich war froh, dass ich mit ihr ein paar Worte wechseln konnte.
„Carmen, habe ich vielleicht was falsch gemacht – hätte ich Nine wirklich nicht alleine lassen sollen?“
Carmen beruhigte mich: „Vergiss es“, sagte sie. Sie zeigte abwechselnd auf ihr rechtes Ohr: „Da rein“ – und auf ihr linkes: Da raus“, sagte sie grinsend. „Und überhaupt – Marga sollte lieber ihren Mund halten.“
Ich verstand ihre Anspielung nicht und schaute sie fragend an. Darauf hatte Carmen nur gewartet.
„Hast du eigentlich mitbekommen, dass Karlchen wie von der Bildfläche verschwunden ist?“
„Nein“, sagte ich. Aber dann fiel mir ein, dass Marga mehrmals erfolglos nach ihm gerufen und ich seinen Ungehorsam insgeheim auf Margas inkonsequente Erziehung geschoben hatte.
„Im Stall gibt es die wildesten Gerüchte“, fuhr Carmen fort. „Es geht um Iwan. Nichts gegen Russen, aber Iwan kann Hunde nicht leiden – irgendwie verständlich, denn schließlich muss er die Anlage sauber halten und Hundekot stinkt. Er soll Kontakte zu der Hundefängermafia haben. Sie fangen Rassehunde, betäuben sie und verkaufen sie dann für teures Geld übers Internet. Oder – noch schlimmer – wenn sie sich nicht verkaufen lassen, kommen sie in den Fleischwolf – Tierfutter!“
Carmen redete so schnell, dass ich überhaupt nicht dazu kam, mein eigentliches Anliegen zur Sprache zu bringen – warum Nine eigentlich diese Kolik bekommen hatte, wollte ich sie fragen – da gab es doch sicherlich einen Grund? Oder war ich doch die Schuldige, vielleicht hätte ich wirklich nicht so lange wegfahren dürfen? Gerade als ich meinen Mund aufmachen wollte, sagte Carmen: „Vera, ich muss los – wir sehen uns später“, und verschwand in Richtung Reiterstübchen.
Für mich wurde es auch höchste Zeit, dass ich fort kam. Ich wollte nur noch einmal bei Nine vorbeischauen, um mich von ihr zu verabschieden. Als ich gerade die Boxentür zurückschieben wollte, hörte ich auf der Stallgasse ein Geräusch, als ob jemand ein Gitter aufgemacht und schnell wieder zugeschoben hätte. Ich drehte mich um, konnte aber niemanden entdecken, das kam mir irgendwie merkwürdig vor. Ich ging zu Taxos Box hinüber und blieb abrupt stehen. Mitten in der Box stand Iwan. Offensichtlich hatte ich ihn daran gehindert, die Box zu verlassen. Doch er wirkte überhaupt nicht verlegen. Wie eine Art Trophäe hielt er ein paar Schlaufzügel und einen Gurt in die Höhe: „Unglaublich, was die Leute alles in ihrer Box vergessen!“, sagte er. „Sogar sogenannte Turnierreiterinnen“, fügte er mit einem unverschämten Lächeln hinzu und verschwand in Richtung Sattelkammer.
Er meinte Marga, das war mir klar, aber ich hatte sie immer als ausgesprochen ordentlich empfunden. Sie achtete auf ihr Sattelzeug wie auf ihren Augapfel, es kam mir merkwürdig vor, dass sie ihre Hilfszügel im Stall liegen ließ. Und seit wann ritt Marga überhaupt mit Schlaufzügeln? Ob ihr Roberto empfohlen hatte, sie einzuschnallen? Nachdenklich ging ich zu Nine zurück. Sie brummelte mir freundlich zu, mit ihr schien alles in Ordnung zu sein. Ich atmete auf, jetzt aber durfte ich wirklich keine Zeit mehr verlieren und musste mich schnell auf den Heimweg machen.
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