Karin Bucha Staffel 6 – Liebesroman. Karin Bucha

Karin Bucha Staffel 6 – Liebesroman - Karin Bucha


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      Als der Fernsprecher anschlägt, zucken sie beide zusammen. Emil Weber nimmt den Hörer ab und meldet sich. Er wird noch einen Schein bleicher und wirft einen scheuen Blick auf Hermann, der, den Kopf in der Hand gestützt, Zahlen auf das Papier malt.

      »Du wirst verlangt, Rudolf«, sagt er endlich.

      »Stefanie?« flüstert Hermann.

      »Nein«, preßt Weber hervor, »das Städtische Krankenhaus – es ist – du sollst –«

      Hermann nimmt dem völlig verstörten Mann den Hörer aus der Hand und meldet sich. Eine Frauenstimme, kühl und unpersönlich, spricht zu ihm.

      Ein Schauer überläuft ihn. Sein Mund öffnet sich und zittert hilflos, dann hängt er langsam an.

      »Lothar«, stößt er hervor, »verunglückt – es steht schlimm um ihn. Man erwartet – mich.«

      Wortlos geht Emil Weber zu dem Sessel, wo immer noch Hermanns Mantel liegt, und trägt ihn herbei. »Ich begleite dich selbstverständlich«, sagt er.

      Wenig später verlassen sie das Büro und fahren durch die Nacht. Schweigen herrscht zwischen ihnen. Manchmal kommt ein Laut wie tiefes Stöhnen aus Rudolf Hermanns Brust, dann wieder ist nichts als das Summen des Motors zu hören.

      Nie wird Rudolf Hermann diese Fahrt zum Krankenhaus vergessen. Zu den sonstigen Vorwürfen, die er sich macht, kommt noch die Erkenntnis: Ich habe mich zu wenig um meine Kinder gekümmert! Ich habe sie völlig dem Einfluß ihrer Mutter überlassen. Es mußte ja einmal mit Lothar so kommen. Von einer Party zur anderen, berauscht und in toller Fahrt dann heimwärts. Was hat er auf seine Vorhaltungen zur Antwort bekommen? Nur ein gleichgültiges Achselzucken. »Das verstehst du nicht, Vater«, war der immer wiederkehrende Reim.

      Und nun liegt sein Ältester schwerverletzt im Krankenhaus. Wieder dieses tiefe, qualvolle Stöhnen. Sacht legt Emil Weber seine Hand auf die Hermanns, die das Steuerrad führt, trotz aller Verzweiflung ruhig und sicher.

      »Noch lebt Lothar, und wo Leben ist, ist auch Hoffnung«, raunt er leise.

      Im Krankenhaus ist man auf Hermanns Besuch schon vorbereitet. Eine Schwester geleitet sie über einen schwach erhellten Korridor, an hohen weißen Türen vorbei.

      Der Gang macht eine Biegung. Schon von weitem hört er unbeherrschtes Weinen. Er kennt dieses Weinen, das sich von Minute zu Minute steigern kann. Es ist ein hysterisches Weinen, das auf die Nerven wirkt.

      »Stefanie!« Er legt seine Hand auf die Schulter der Frau, die auf der weißen Bank hockt. Ein Kopf ruckt empor. Die Tränen haben eine verheerende Wirkung auf diesem Frauengesicht angerichtet. Tusche und Schminke haben sich gelöst und das Gesicht verschmiert.

      Die Augen sind dick verquollen. Als sie den Gatten erkennt, fährt sie mit einem schrillen Schrei empor.

      »Psst!« mahnt die Schwester. Sie schüttelt leise den Kopf. Selten hat sie eine so unbeherrschte Frau und Mutter an einem Krankenbett erlebt.

      »Sie lassen mich nicht zu ihm, Rudolf. Nimm mich mit, ich werde sonst verrückt. Ich bin die Mutter, ich gehöre an die Seite meines Sohnes.«

      Ratlos sieht Rudolf Hermann sich nach dem abseits stehenden Arzt um, der wohl auf ihn gewartet hat. Er tritt etwas heran.

      »Es tut mir leid, gnädige Frau«, sagt er bestimmt. »In diesem Zustand kann ich Sie nicht zu dem Kranken lassen. Es sei denn, Sie verhalten sich äußerst ruhig.«

      »Ja, ja, alles was Sie wollen, tue ich«, stammelt die Frau und klammert sich an den Gatten.

      Gemeinsam betreten sie das schmale, stille Zimmer. Seit Jahren erstmals wieder Seite an Seite, aber es schwingt nichts zwischen ihnen, keine Wärme, keine Liebe. Im Augenblick verbindet sie nur die gemeinsame Sorge um den Sohn.

      Rudolf Hermann stutzt, als er das wächserne, von Verbänden umhüllte Gesicht seines Sohnes in den Kissen gewahrt. Eine Schwester erhebt sich und tritt bescheiden seitwärts.

      Stefanie Hermann will wieder in lautes Weinen ausbrechen. Da fühlt sie die Hand des Gatten auf ihrem Mund.

      »Sei still«, herrscht er sie an, mit rauher, ihm selbst fremd vorkommender Stimme. Da sinkt sie auf den Stuhl und jammert. »Mir wird schlecht, Rudolf.«

      Im Nu ist die Schwester neben ihr, nimmt ihren Arm und führt die Wankende hinaus.

      Rudolf Hermann ist mit seinem Sohn allein. Lieber Gott, laß ihn nicht sterben! geht es ihm unaufhörlich durch den Kopf. Seine Hand tastet sich vor, legt sich behutsam auf den Arm, das einzige unverletzte Glied, das nicht in Gips liegt und bandagiert ist.

      »Lothar, mein Junge!« flüstert er. Die breiten Schultern des einsamen Mannes zucken. Wie sehr er ihn liebt, seinen Ältesten. Jetzt erst kommt ihm das richtig zum Bewußtsein, jetzt, da der Todesengel um das Bett schleicht und die Hände nach dem jungen, blühenden Leben ausstreckt.

      Verzeih mir, Lothar, ich war ein Schwächling. Ich habe dich und auch deine Geschwister deiner Mutter überlassen. Sie hat euch zu dem gemacht, was ihr geworden seid.

      Schlag noch einmal die Augen auf, Lothar. Sag mir, daß ich nicht alles falsch gemacht habe. Wenn du willst und wenn du mir erhalten bleibst, dann, mein Junge, will ich dir der beste Freund sein.

      »Sie dürfen hierbleiben!«

      Rudolf Hermann schreckte empor. Tief in den Höhlen liegen seine Augen. Doktor Rauher hat schon oft in so tief verzweifelte Vateraugen geblickt. Aber ihm ist, als liege eine ganz besondere Tragik in diesen Augen.

      »Wie lange?« flüstert Hermann. Der Arzt lächelt gütig.

      »Solange Sie wollen, bis – bis der Kranke aus der Narkose erwacht.«

      Und meine Frau – will Hermann fragen – doch er unterläßt es. Es ist so wundersam, den Sohn einmal ganz für sich allein zu haben, ohne Gezeter, ohne Gekreische und ohne dieses nerventötende, hysterische Weinen. Nur der Anlaß müßte ein anderer sein, nicht so tieftraurig, so hoffnungslos.

      In diesen stillen Nachtstunden am Krankenbett seines Sohnes, das Herz von Vorwürfen und Verzweiflung zerrissen, zieht sein Leben in bunten, immer wechselnden Bildern an seinem geistigen Auge vorüber.

      Er sieht sich als jungen, verliebten Bräutigam an der Seite der schönen blonden lebenslustigen Stefanie wieder. Er hört die Worte seines verehrten Schwiegervaters, der so bald schon nach der Hochzeit starb: »In deinen Händen weiß ich Stefanies Geld gut aufgehoben, mein Junge.« Und er hatte von Stunde an gearbeitet, um sich dieses geschenkten Vertrauens würdig zu erweisen.

      Die Kinder waren gekommen, zuerst Lothar, das schöne dunkelhaarige Kind. Dann kam Cornelia, das anmutige, zarte und bezaubernde Mädchen mit den rotbraunen Locken. Später wurden die Zwillinge geboren, Christian und Christine. Er hat sie selten gesehen, seine Kinder. Selbst nachts, wenn er todmüde in sein Haus zurückkehrte, durfte er den Kleinen nicht über das Haar streichen. »Die Kinder brauchen ihre Nachtruhe«, hatte Stefanie ihn hart angefahren, und er wußte genau, sie nahm am allerwenigsten auf die Kinder Rücksicht, ihr ging es nur darum, ihn zu kränken.

      Immer fremder wurden sie sich, immer kälter ihr Verhältnis zueinander. Um den sich immer mehr zuspitzenden Auseinandersetzungen zu entgehen, war er zu seiner Arbeit geflohen. Seine innerliche Vereinsamung wurde immer größer.

      Liebten seine Kinder ihn eigentlich? Er weiß es nicht! Manchmal hat er sogar das Gefühl gehabt, daß sie ihn haßten, weil er ihre Lebensführung nicht billigte. Hatte Stefanie Haß in den Kindern großgezogen? Haß gegen ihn, den Vater?

      Wie wird es weitergehen, wenn Stefanie erst erfährt, daß er vor dem Nichts steht?

      Er ahnt, daß es eine schreckliche Auseinandersetzung geben wird, denn er wird ihr diesmal schonungslos die Wahrheit sagen. Nach ihrem Verhalten wird er die Entscheidung treffen.

      Während dieser Erwägungen hält er die unverletzte Hand des Sohnes warm umschlossen. Er sieht nicht, daß hinter den hellen Vorhängen ein neuer Tag graut und sein fahles Licht in das schmale Krankenzimmer


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