Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
ich doch kein Geld hatte!«
»Dann hast du wohl großen Hunger?«
»Ja, ja! Hunger!«
»Armes Kind! Armes, verlassenes Kind ... Wie heißest du denn?«
»Maria.«
»Arme, kleine Marietta! Du hast Hunger! In der kalten Nacht mutterseelenallein ... Wie alt bist du?«
»Sechzehn Jahr.«
»Arme, kleine Maria ... Und was willst du hier anfangen, so mutterseelenallein?«
»Weiß nicht.«
Er hatte sie aufgerichtet und war mit ihr weitergegangen. Aber sie war zu Tode erschöpft und konnte nicht mehr. Sie fiel einfach hin.
Da nicht daran zu denken war, zu dieser Stunde in München einen Wagen zu finden, nahm er sie wie ein kleines Kind auf die Arme und trug sie fort. Sie lag ganz still und war nach wenigen Augenblicken bereits fest eingeschlafen.
Joseph Auzinger war zumute, als hielte er die Erfüllung seines Lebens an seinem pochenden Herzen.
*
In der nämlichen Stunde brachte er seinen römischen Fund bei seiner Wirtin unter, einer Münchnerin von altem Schlag, der alles Absonderliche und Fremdartige gegen die Natur war, die dabei aber Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Ihr gescheiter Kopf hieß ihrem Herzen, sich wider den welschen Findling nachdrücklich aufzulehnen; ihr gutes Herz herrschte ihrem Kopf zu, sich zu schämen – einstweilen wenigstens. Fürs erste mußte der Bewußtlosen schleunigst ein Lebenselixier eingeflößt werden. Dieses bestand für Frau Babette Huber in einem braunen, schäumenden Saft, welchen sie jeden Abend in einer dickbauchigen Kanne »frisch angezapft« holen ließ und der Augustinerbräu genannt wurde. Das Augustinerbräu besaß für Frau Babette die wunderbare Wirkung, sich gegen jedes Erdenleid heilsam zu erweisen.
Auch bei dem Findling zeigte der Trank seine Zauberkraft; denn gleich nach dem ersten, mühsam eingeflößten Schluck folgte eine leidenschaftliche Lebensregung der jungen Fremden, die sich vorerst freilich nur darin äußerte, daß sie sich heftig sträubte, die bittere »Medicina« noch weiter einzunehmen. Übrigens verfiel sie sofort wieder in Schlaf.
Am andern Tag erklärte die weise Frau Babette Huber ihrem Mieter mit düsterem Pathos, daß er sich sein Unglück auf den Hals geladen hätte. Welsch wäre welsch! Und dieses Stück Welschland überdies viel zu bildsauber, als daß solch ein Halbnarr, wie der Herr Joseph Auzinger nun einmal einer sei, sich nicht mir nichts dir nichts in das gelbe Gesicht und die kohlschwarzen Augen vergaffen sollte. Das vortreffliche Herz entschied jedoch in einem Atem mit dem Haupt: sie, Babette Huber, würde nie und nimmer dulden, daß der braune Fratz von irgendeinem Mannsbild der Welt auch nur angerührt werde.
Für das letztere hätte übrigens Marietta schon selbst Sorge getragen. Sie war scheu wie eine wilde Katze und dabei von so herber und trotziger Art, daß es sogar einem erfahrenen Frauenjäger schwer gefallen wäre, an dieses seltene Wild nur heranzukommen, geschweige denn es zu erbeuten. Vollends für Joseph Auzinger, der mit seinen gelben Haaren und blauen Augen zum Don Juan ebenso kläglich wenig Talent besaß wie zum Bankdirektor, war die sechzehnjährige Römerin ein Sanktuarium, nach dem nur ein Frevler und Heiligenschänder eine ruchlose Hand ausstrecken konnte. Da er jedoch mit jedem Tage mehr vor brennender Verliebtheit aus einem Halbnarren zu einem ganzen Narren wurde, blieb ihm nichts andres übrig, als die sechzehnjährige Marietta von Rocca di Papa zu Frau Joseph Auzinger zu machen und zwar so rasch als möglich. Das heißt, so bald als alle nötigen Papiere herbeigeschafft waren, die Staat und Kirche bösartigerweise von jungen verliebten Leuten verlangen.
Was der gute Joseph Auzinger an Onkeln und Tanten, Vettern und Basen nur irgend besah, erhob ein lautes Zetergeschrei gegen die Zumutung, das braune welsche Gewächs als jungen grünen Ast ihrem soliden deutschen Stammbaum aufzupfropfen; sie nannten die Heirat eine himmelschreiende Undankbarkeit gegen sämtliche Auzinger, die jemals gelebt hatten, und bedrohten den Übeltäter mit Ausstoßung und Fluch, wenn er das römische Subjekt nicht sogleich wieder laufen ließe.
Joseph Auzinger besaß die Stirn, sich an niemand von seiner ganzen lieben Sippe auch nur im mindesten zu kehren. Die Verstoßung in aller Form erfolgte, zugleich aber auch die Heirat, gleichfalls in aller Form, in der staatlich gebotenen sowohl wie in der kirchlich üblichen.
Während alle diese interessanten Dinge vor sich gingen, befand sich das würdige Haupt der Frau Babette Huber in beständigem heftigem Streit mit ihrem nicht minder respektabeln Herzen. Je mehr das Haupt der verständigen Sippe der Auzinger recht gab, um so kläglicher und sentimentaler gebürdete sich das Herz. Schließlich gelangten die beiden großen Mächte zu folgendem Kompromiß: das gefühlvolle Herz sorgte für einen christlichen Hochzeitskranz, zugleich aber auch für einen saftigen Hochzeitsbraten – es war gerade die Zeit der ersten zarten jungen Hühner – und das praktische Haupt kündigte dem jungen Paare drei Tage nach gemeinsamer Verspeisung der Backhähndeln die Wohnung; denn das Elend, welches aus der Geschichte noch einmal entstehen würde, wollte Babette Huber nicht mitansehen; und von der Herde kleiner brauner Mariettas und Seppels, die gewiß in welscher Sprache schreiend auf die Welt kamen, wollte sie auch nichts wissen.
So nahm denn der gute Joseph Auzinger sein schönes Schicksal bei der Hand, verließ traurig das vortreffliche Herz der Frau Babette und zog in eine andre Vorstadtwohnung, die noch entlegener, dafür aber noch billiger war.
Frau Babette Hubers gutes Herz weinte dem allerliebsten Pärlein eine Träne nach, deren Wehmut durch ein triumphierendes Schütteln des weisen Hauptes bedeutend gemildert wurde. Dann wanderte das dickbäuchige Krüglein zum Augustinerbräu, und dieses Allheilmittel half das weiche Herz völlig beschwichtigen.
In ihrem ganzen langen, christlichen Leben hat sich Frau Babette Huber nie wieder um die beiden gekümmert.
*
In den Kreisen, in denen Joseph Auzinger oberflächlich bekannt war, wunderte man sich nicht sonderlich über diese bizarre Tat des Karikaturenzeichners. Einige lachten ihn einfach aus, andre beneideten ihn heimlich – nicht um die angetraute Frau, sondern um das schöne Weib, und wiederum andre sagten ihm ins Gesicht hinein: er wolle sich fortan selbst zu einer Karikatur machen.
Joseph Auzinger ließ sich auslachen und verspotten, zog sich nunmehr gänzlich von jedem Verkehr zurück und lebte ausschließlich für seine junge Albanerin, die ihm alle die Pracht und Schönheit verkörperte, nach der er sich Zeit seines Lebens verzehrend gesehnt und mit deren leuchtenden Bildern er die Seele angefüllt hatte. Jetzt besaß er leibhaftig ein solches Urbild und zwar für Zeit seines Lebens.
In der kahlen Dachkammer eines entlegenen Hinterhauses, weit draußen in jener entlegenen Vorstadt, gab es eine wunderliche Häuslichkeit. Die junge Frau sprach keine deutsche Silbe, der junge Gatte ein paar Dutzend italienische Worte. Sie verständigten sich am leichtesten durch Gebärden, Zeichen, Blicke. In der Wirtschaft konnte die Fremde nur wenig tun. Auch hatte sie dazu nicht die mindeste Lust. Sie hatte zu ganz anderm Lust. Zum Beispiel: möglichst lange im Bett liegen zu bleiben, möglichst lange halb angekleidet herumzulungern, sich dann möglichst bunt herauszuputzen, am liebsten als »Signora«. Da sie das nicht konnte, trug sie ihr heimisches Kostüm wenigstens mit allerlei fremden Zutaten von bunter Seide, grellfarbigem Bandwerk und anderm schimmernden Tand. Später am Tage wollte sie ihre »Minestra« verspeisen, und nach diesem Genuß verlangte sie von ihrem »Giusé« spazieren geführt zu werden.
Der gute Auzinger führte sie also spazieren. Er wollte die einsamsten Wege weit draußen hinter der Vorstadt gehen, sie die belebtesten Straßen im Innern der Stadt.
Er ging also mit ihr in die Kaufingerstraße und weiter, bis in die vornehme Maximilianstraße.
Wie die beiden angegafft wurden!
Bei seiner Menschenscheu wagte er gar nicht aufzublicken, während sie ihre finsteren, mächtigen Augen leuchten und lodern ließ.
Einmal wurde sie von einem Fremden angesprochen, im reinsten Italienisch.
Sie antwortete sogleich in ihrem Albanerdialekt, wollte ganz vergnüglich einen kleinen Diskurs