Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
Mann sein, der solche Sachen geschrieben,« meinte sie in höchster, sittlicher Entrüstung.
Ohne Fernow wäre ich durchaus der allgemeinen Auffassung gefolgt und hätte Gretchen im Kerker wahnsinnig sein lassen. Er belehrte mich eines Bessern.
Der Arzt und Psycholog kann sich keinesfalls mit dem Wahnsinn des armen Kindes einverstanden erklären. Daß unser Publikum sich daran gewöhnt hat, Gretchens Kerker zugleich als die Zelle einer Tollen anzusehen, ist bei unseren Theaterverhältnissen ganz natürlich. Ein wahnsinniges Gretchen gibt ein prächtiges Motiv zu schauspielerischen Effekten aller Art, Überlegen wir uns einmal die Lage des armen Mädchens.
Faust hat Gretchen verführt. An dem Schlaftrunk, den sie der Mutter gegeben, damit sie glücklich sein sollten, ist diese gestorben. Ihr Bruder ist von dem Geliebten erstochen, der Mörder entflohen, Gretchen verlassen. Aus dem unschuldigen Kind ward fast über Nacht ein unseliges Weib, dem in der Kirche ehrbare Frauen ausweichen und von dem die Mädchen am Brunnen eine noch viel schlimmere Geschichte erzählen, als sie das Lieschen dem Gretchen vom Bärbelchen erzählt hat. In ihrem verödeten Häuschen, darin sie allein mit dem bleichen Geist ihrer Mutter und dem blutigen Schatten ihres Bruders lebt, mag sie ein Dasein führen, in dem jeder Augenblick ein Jammer ist, von keiner Menschenseele zu fassen. Schon damals mag es halber Wahnsinn gewesen sein. Von Zeit zu Zeit sieht die Kupplerin nach ihr, dann und wann schleicht sie sich zu der Mutter Gottes in den Zwinger hinaus, dieser ihre Seufzer und Blumen zu bringen, deren Tau ihre Tränen sind.
Während Faust die Blockberg-Bacchanalie begeht, gebiert sie ihr Kind. Mit Tränen und Küssen mag sie es erstickt, an ihrer Brust mag sie es erdrückt haben. Erst nachdem es geschehen, kommt der entsetzliche Gang: Nachts am Bache hinauf, über den Steg, in den Wald hinein, zum Teich!
Die kleine Leiche wird gefunden, zu Gretchen kommt das Gericht – »Kindesmörderin« schreit man sie an. Sie wird vor das Tribunal geschleppt, sie wird verurteilt. Man legt ihr Fesseln an, wirft sie in den Kerker, kleidet sie in ein Sterbehemd. – Das kann auch eine stärkere Vernunft, als das arme Gretchen sie hat, verwirren und zerstückeln.
Aber wahnsinnig ist sie deshalb doch nicht! Sie vermag, wozu keine Wahnsinnige imstande ist, über ihren Zustand zu denken.
Blicke ich auf meine schauspielerische Entwicklung und die Bühnenerfahrungen vieler Jahre zurück, so kann ich diese Lehrmethode: sich ein Drama zu novellisieren, nicht genug empfehlen. Ich habe niemals eine Rolle gespielt, ohne mir dieselbe vorher als ein Begebnis erzählt zu haben. Indem ich mir die hohe Sprache der Dichter auf diese Weise gewissermaßen in meine eigene übersetzte, ward mein Verhältnis zu den Figuren ein weit vertraulicheres. Die Schicksale meiner Gestalten gewannen durch dieses Verfahren derartig für mich an Wirklichkeit, daß ich fähig gewesen, eine Dichtung mit dem vollsten Ausdruck der Überzeugung als etwas wirklich Geschehenes zu berichten. Das Resultat dieser Erfahrungen in einen Satz zusammengefaßt lautet: jede Auffassung einer Rolle beruhe auf einer gründlichen psychologischen Studie; der Schauspieler entwickle sich seine Gestalten, wie dies vor ihm der Dichter getan.
Noch immer war Fernow in der Kerkerszene nicht mit mir zufrieden. Gewisse Töne, die er an manchen Stellen für durchaus nötig hielt, konnte ich nicht finden.
»Es ist nicht das rechte, es ist nicht Natur; übrigens ist es gar nicht von Ihnen zu verlangen. Wie sollen Sie einen komplizierten Seelenzustand darstellen können, von dem Sie keine einzige Erscheinung im Leben beobachtet haben. Ich weiß nicht, wie Sie es herausbringen sollen.«
Darüber verstrichen Wochen.
Zu einer für ihn ganz ungewöhnlichen Zeit (es war vormittags) trat Fernow bei mir ein.
»Ich muß Ihnen heute zumuten, einen seltsamen Gang mit mir zu tun.«
»In Ihre Irrenanstalt, nicht wahr?«
»Ja. Wir können nicht länger damit warten; Gretchen verlangt es.«
»Aber Gretchen ist ja nicht wahnsinnig.«
»Ihr Besuch gilt auch keiner eigentlich Wahnsinnigen. Ich hätte Ihnen von dem traurigen Fall bereits früher gesprochen, wenn mir Ihre Gemütsverfassung dazu geeignet erschienen wäre. Sie sind jetzt um vieles ruhiger, so daß ich Ihnen die Geschichte der armen Anna nicht nur erzählen, sondern Sie auch zu ihr bringen kann. Können Sie gleich mit mir gehen?«
Ich machte mich sofort zurecht.
Fernow fuhr fort: »Jeder Schauspieler sollte in einer Irrenanstalt lernen und wäre es auch nur um dort zu sehen, wie er Wahnsinnige – nicht spielen soll. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, daß ich Sie dahin führe. Solche Studien nach dem Leben können für Sie nur von Nutzen sein. Ganz abgesehen von dem Vorteil, den die Künstlerin aus solchen Besuchen zieht, schadet es auch Ihrem Menschen nicht, einmal zu erfahren, was es auf der Welt für Elend gibt:
›Des Lebens ganzer Jammer faßt mich an.‹
Manchen Zug werden Sie überdies, wie Sie noch heute erfahren sollen, aus dem Irrenhause geradeswegs auf die Bühne bringen können. Sie bekommen Trauriges zu sehen; also wenn Sie sich fürchten – –«
Ich stand bereits in Hut und Mantel vor ihm.
»Kommen Sie.«
Wir gingen.
Nach einer Weile begann Fernow: »Wissen Sie, daß wir zu einem wirklichen Gretchen gehen?«
»Sie meinen, zu einem verlassenen Mädchen, das ihr Unglück verstört hat.«
»Ich meine viel Schlimmeres. – – Anna ist eine Kindesmörderin und zwar eine, welche die schreckliche Tat mit vollem Bewußtsein beging.«
»Nein, nein!« rief ich aus, so daß die Menschen stehenblieben und mich anstarrten.
»Wollen Sie fahren?«
»Wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich lieber zu Fuß gehen; wir wären zu schnell dort. – – Bitte, sagen Sie mir alles.«
»Das ist bald geschehen. – – Anna ist eine Waise; sie war Putzmamsell in einem vornehmen Modegeschäft, merkwürdig hübsch und überaus tugendhaft. Wie Heinrichs Gretchen von ihrem Kammerfenster aus über die hohe Stadtmauer hinweg die Wolken ziehen sieht und dabei seufzt, so mag auch dieses Gretchen in ihrem Dachstübchen getan haben. Wenn sie aus Spitzen und Blumen allerlei hübsche Sachen machte, saßen die Gefährtinnen um sie her, einander ihre Liebhaber rühmend. Die eine konnte einen neuen Hut beneiden lassen, die andere sogar eine goldene Kette. Anna hörte still zu; auch dann, wenn sie verspottet wurde, daß sie – ein anständiges Mädchen sei.
Sah sie dann des Abends in ihrer Dachkammer, so mochte sie ihre langen, goldblonden Haare geflochten – es ist das schönste Frauenhaar, das ich jemals gesehen – und dabei auch ihr Thulelied gesungen haben.
Unter dem Hohn ihrer Gefährtinnen, das Herz voller sehnsüchtiger Gesänge, ward Anna bei ihren Bändern, Blumen und Spitzen dreißig Jahre alt. Mutterseelenallein auf der Welt, sah sie, während sie der eleganten Damenwelt einen unverwelklichen Frühling auf die Hüte steckte, die eigene Jugend verblühen.
Ich muß sie mir immer vorstellen, wie sie an Sonntagabenden, während die Bärbelchen des Putzgeschäftes die Heldinnen gewisser Bälle waren, auf der Galerie des Schauspielhauses ihr großes Fest der Woche feierte. Vielleicht wurde gerade Faust gegeben, und sie weinte über das Gretchen im Kerker heiße Tränen.
Nun, sie wurde selber zum Gretchen. Bis zum dreißigsten Jahre tugendhaft, war sie es im einunddreißigsten nicht mehr. Ein Schmuck war nicht nötig gewesen, allerdings auch keine Frau Marthe.
Still war sie immer gewesen, aber wie sie jetzt stumm und blaß wurde, steckten ihre Gefährtinnen die Köpfe zusammen: ›So ist ihr's endlich recht ergangen.‹
›– – Das ist das Vornehmtun!
Plötzlich war sie fort.
Da eines Tages gerieten die Sibyllen, die Lieschen und Bärbelchen des Putzgeschäftes in große Aufregung. Die Besitzerin mußte sogar vor Gericht. Was die Dame dort aussagte, half jedoch nichts. Dreißig Jahre tugendhaft und im einunddreißigsten