Der eiserne Gustav. Hans Fallada

Der eiserne Gustav - Hans  Fallada


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des Zuges, ist der immer übersehene Otto die Hauptperson.

      »Mach es gut, Otto!«

      »Schreib auch mal, Otto!«

      »Hier habe ich dir auch ein bißchen zu essen mitgebracht, Ottchen!«

      »Und wenn’s mal Kattun gibt, Otto, denk an deinen Vater! Wenn du das Eiserne Kreuz bekämst, das wäre mir das Schönste! – Hast du schon gehört, ob es in diesem Kriege auch Eiserne Kreuze gibt?«

      Otto steht am Abteilfenster. Er ist sehr blaß, sein Gesicht ist grauer als das Feldgrau der Uniform. Er antwortet mechanisch, er drückt Hände, er legt das Essenpaket auf seinen Sitzplatz, wo schon ihr kleines Paket liegt …

      Und immer suchen seine Augen die andere, die Einzige, die, die er liebt, mit aller Zärtlichkeit seines schwachen Herzens, und die ihn liebt, mit aller verzeihenden Liebe ihres starken Herzens. Sie sieht ihn an, flammend und zärtlich, ohne Klage und Wunsch … Sie steht da an dem gußeisernen Pfeiler, den Jungen an der Hand. »Nicht weinen, Gustäving! Papa kommt ja wieder …«

      Er kann es nicht hören, aber er liest es von ihren Lippen. »… kommt ja wieder.«

      Nein, vielleicht kommt er auch nicht wieder – aber, seltsam, das schreckt ihn nicht. Er zieht in einen Krieg, es wird Kampf geben, Handgemenge, Verwundungen und schmerzhaftes, langsames Sterben – aber das schreckt ihn nicht, das macht ihm keine Angst …

      Ich werde bestimmt nicht feige sein, denkt er. Und doch bin ich zu feige, es Vater zu sagen …

      Er möchte verstehen, warum das so ist, aber er kann es nicht verstehen … Er sieht sie hilflos an, sie alle unter seinem Abteilfenster, die alten bekannten Gesichter, und dann sieht er rasch hinüber zu der gußeisernen Säule, in jenes geliebteste, einzige Menschengesicht … Nein, er kann es nicht verstehen …

      »Otto, du hast ja Blumen!« schreit Bubi. »Woher hast du denn die Blumen? Du hast wohl eine Braut?«

      Alle lachen bei dem Gedanken, daß Otto, der schüchterne Otto, eine Braut haben könnte. Und auch Otto verzieht das Gesicht zu einem kümmerlichen Lächeln.

      »Wo steht sie denn, deine Braut?«

      Und alle sehen sich lachend um, suchen ein Mädchen für Otto. »Ist es die im blauen Kleid, Otto? Die sieht schneidig aus, aber wenn sie man nur nicht zu schneidig für dich ist. Die nimmt dir noch die Butter vom Brot!«

      Otto lächelt wieder kümmerlich.

      »Da steht ja immer noch die Gudde«, flüstert Frau Hackendahl. »Zu wem die wohl gehört? Otto, hast du sie gesehen?«

      »Wer? Wen?«

      »Die Gudde! Unsere Schneiderin! Du weißt doch!«

      »Ja … ich … ich habe nämlich …«

      Sie sehen ihn alle an, er wird rot. Aber sie merken nichts.

      »Hast du nicht gesehen, zu wem sie gehört?«

      »Nein – ich … nein. Ich habe nichts gesehen.«

      »Muß i denn …«, spielt die Kapelle, der Zug ruckt an, fährt … Tücher werden gezogen, Hände werden gereicht, noch einmal …

      Oh, die einsame Gestalt dort an der Säule! Sie hat kein Tuch gezogen, sie winkt nicht. Aber sie steht dort, als würde sie immer dort stehenbleiben, geduldig, ohne Vorwurf auf ihn wartend, bis er zurückkommt. Seine Augen füllen sich mit Tränen …

      »Nicht weinen, Otto!« ruft Vater Hackendahl. »Wir sehen uns ja wieder!« Und sehr laut, denn der Zug hat sein Tempo beschleunigt, und Hackendahl muß zurückbleiben: »Du warst immer ein guter Sohn!«

      Am längsten läuft noch Bubi mit, ganz bis ans Ende des Bahnsteigs. Er sieht den Zug entschwinden, die vielen wehenden Tücher verflattern, eine Kurve, die runde, rote Schlußscheibe am letzten Wagen – fort!

      Heinz kommt zurück zu seiner Familie.

      »Nun aber schnell!« sagt Frau Hackendahl. »Ich muß doch sehen, daß ich die Gudde noch erwische. Das ist doch interessant, was das für ein Kind ist und wen sie zur Bahn gebracht hat …«

      Aber Gertrud Gudde ist schon verschwunden, mit ihrem Gustäving.

      10 Schwester Sophie will auch fort

      Der Oberarzt der chirurgischen Abteilung stand müde in seinem Arztzimmer und wusch sich wie immer, wenn er sehr abgespannt war, die Hände. Ganz gewohnheitsmäßig nahm er die kleine, scharfe Bürste, bürstete die Nägel, wusch mit Sublimatlösung nach, spülte ab und trocknete die Hände.

      Er brannte eine Zigarette an, zog den Rauch tief ein, trat an das Fenster und sah gedankenvoll, nichts sehend, in den Krankenhausgarten. Er war müde, er war abgespannt, seit elf Stunden war er auf den Beinen, und es war noch kein Ende abzusehen …

      Aber, dachte er, dies ist erst der Anfang. – Dies ist erst der Anfang …, dachte er langsam, und ohne besonders erregt oder verzweifelt zu sein. Dies ist erst der Anfang …

      Vier Mobilmachungstage hatten ihm drei Viertel seiner Ärzte fortgeholt: Sie waren gegangen. – »Macht’s gut hier!« hatten sie gesagt und waren gegangen. Drei Viertel der Ärzte fort, von dem Pflegepersonal gar nicht zu reden, und die Belegung war etwas über dem Durchschnitt. Nun ja, dies war also erst der Anfang …

      Der Oberarzt legte die Zigarette in einen Aschenbecher, nach dem ersten Zug hatte er keinen weiteren mehr getan. Gedankenlos trat er wieder an die Wasserleitung und fing von neuem an, sich mit der eingelernten, tausendfach beobachteten Genauigkeit die Hände zu waschen und zu bürsten. Er wußte nicht, daß er es tat. Manchmal machte ihn ein Kollege darauf aufmerksam, oder die Operationsschwester sagte: »Sie waschen sich ja schon wieder, Herr Professor. Erst vor zwei Minuten waren Sie an der Leitung.«

      Aber jetzt war keiner da, der ihn erinnern konnte. Sorgfältig bürstete er die Nägel …

      »Macht’s gut!« sagten sie und gingen. Aber wie konnte man es gut machen, mit knapp einem Viertel des normalen Ärztebestandes? Man mußte es ja schlecht machen, immerzu die Augen zudrücken, über die schrecklichsten Nachlässigkeiten fortsehen …

      Es wird Menschen kosten, denkt er müde, und so lange er schon in seinem Beruf gearbeitet, an so vielen Krankenbetten er auch schon gestanden hat, er hat nie das Gefühl dafür verloren, daß da Menschen lagen, keine Fälle: Mütter, deren Kinder zu Haus weinen; Väter, auf deren Leben Glück und Wohlstand eines kleinen Gemeinwesens beruhen.

      Es wird Menschen kosten, denkt er. Aber in der nächsten Zeit wird nichts so wohlfeil sein wie Menschenleben. Und es werden nicht nur die Kranken, die Verbrauchten, die Alten sterben – grade die Jugend wird fort müssen, die Jugend, die Gesundheit. Die Kraft des Volkes wird systematisch verringert werden, tagelang, wochenlang, vielleicht monatelang … Und ich stehe hier und jammere, daß ich einen vereiterten Blinddarm eine halbe Stunde zu spät operiere?

      Er sieht um sich und horcht. Er steht schon wieder an der Wasserleitung und wäscht sich die Hände. Die Zigarette verschwelt im Aschenbecher, aber das hat ihn nicht aufmerksam gemacht. Langsam kommt ihm zum Bewußtsein, daß es vielleicht geklopft hat, und als er nun »Herein!« sagt, tut sich wirklich die Tür auf, und eine Schwester tritt ein, etwas verlegen.

      »Nun, Schwester, was ist denn?« fragt er zerstreut und trocknet sich die Hände am Handtuch. »Ich gehe gleich noch einmal durch die Station. – Oder ist es eine Neuaufnahme?«

      Die Schwester schüttelt den Kopf und sieht ihn an. Sie hat merkwürdige Augen, ein wenig scheu und doch trotzig; sie hat auch ein unausgeglichenes Gesicht, jung und doch scharf. Sie hat es wohl nicht immer leicht gehabt.

      »Ich habe eine persönliche Bitte, Herr Professor«, sagt die Schwester leise.

      »Damit gehen Sie aber besser zu Ihrer Oberin, Schwester. Sie wissen doch, daß Sie Ihrer Oberin unterstehen.«

      »Ich war schon bei der Oberin«, sagt die Schwester leise. »Aber die Oberin hat es mir abgeschlagen. Und da habe ich gedacht, Herr Professor …«

      »Nein, Schwester, nein«, sagt der Arzt energisch. »Einmal mische ich mich grundsätzlich nicht in


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