Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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auch für normale Verhältnisse ein geschärftes Auge zu bekommen. Es war nicht mehr als Übung, verbunden mit jener Hingabe und Geduld, die jeder Beruf von uns verlangt. Die erste Erkenntnis, die sich uns bot, war die, daß die stärksten Anregungen für den Ausbau des menschlichen Seelenlebens aus der frühesten Kindheit stammen. An sich war das wohl keine besonders verwegene Entdeckung, denn ähnliche Erörterungen finden sich bei Forschern aller Zeiten vor. Das Neue hierbei war aber der Umstand, daß wir die kindlichen Erlebnisse, Eindrücke und Stellungsnahmen, soweit sie noch nachweisbar waren, mit späteren Erscheinungen des Seelenlebens dadurch in einen bindenden Zusammenhang zu bringen suchten, daß wir Erlebnisse der frühesten Kindheit mit späteren Situationen und mit der Haltung des Individuums in seiner späteren Zeit in Vergleich zogen. Und da erwies sich nun als besonders wichtig, daß man Einzelerscheinungen im Seelenleben nie als ein für sich abgeschlossenes Ganzes betrachten dürfe, sondern nur dann für sie ein Verständnis gewinnen konnte, wenn man alle Erscheinungen eines Seelenlebens als Teile eines untrennbaren Ganzen versteht und sodann versucht die Bewegungslinie, die Lebensschablone, den Lebensstil eines Menschen aufzudecken und sich klar zu machen, daß das geheime Ziel der kindlichen Haltung mit dem der Haltung eines Menschen in späteren Jahren identisch ist. Kurz, es zeigte sich in überraschender Klarheit, daß vom Standpunkt der seelischen Bewegung aus keine Veränderungen vor sich gegangen waren, daß sich wohl die äußere Form, die Konkretisierung, die Verbalisierung der seelischen Erscheinungen, das Phänomenale ändern konnte, daß aber die Grundlagen, das Ziel und die Dynamik, alles, was das Seelenleben in der Richtung auf das Ziel hin bewegt, unverändert blieb. Wenn z. B. ein Patient einen ängstlichen Charakter aufwies, immer von Mißtrauen erfüllt und bestrebt, sich von den andern abzusondern, so war leicht nachzuweisen, daß ihm dieselben Bewegungen schon im dritten oder vierten Lebensjahre angehaftet hatten, nur in kindlicher Einfachheit und leichter zu durchschauen. Wir haben uns daher zur Regel gemacht das Schwergewicht unserer Aufmerksamkeit immer zuerst in die Kindheit des Patienten zu verlegen. Wir kamen so weit bei einem Menschen vieles aus seiner Kindheit voraussetzen zu können, es zu wissen, ohne daß es uns jemand gesagt hätte. Wir betrachteten das, was wir an ihm sahen, als die Abdrücke seiner ersten Kindheitserlebnisse, die ihm bis in das hohe Alter anhaften. — Und wenn wir andererseits von einem Menschen hören, an welche Begebenheiten aus seiner Kindheit er sich erinnert, so gibt uns das, richtig verstanden, ein Bild davon, was für eine Art Mensch wir vor uns haben. Hierbei benutzen wir auch die weitere Erkenntnis, daß die Menschen so schwer von der Schablone, in die sie in den ersten Lebensjahren hineingewachsen sind, loskommen. Es gibt nur wenig Menschen, die sie abzustreifen vermocht haben, wenn auch das Seelenleben im erwachsenen Alter in anderen Situationen anders in Erscheinung tritt und dadurch einen anderen Eindruck vermittelt. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Änderung der Lebensschablone; das Seelenleben ruht noch immer auf demselben Fundament, der Mensch zeigt die gleiche Bewegungslinie und läßt uns in beiden Altersstufen, in der Kindheit wie im Alter, das gleiche Ziel erraten. Auch deshalb mußte das Schwergewicht unserer Aufmerksamkeit in die Kindheit fallen, weil wir erkannten, daß es, wenn wir eine Änderung planen, doch nicht angehe, gleichsam von oben her, all die unzähligen Erlebnisse und Eindrücke eines Menschen abtragen zu wollen, sondern daß wir zuerst seine Schablone finden und aufdecken müßten, aus der uns das Verständnis für seine Eigenart und damit zugleich für seine auffallenden Krankheitserscheinungen erwuchs.

      So wurde für uns die Betrachtung des kindlichen Seelenlebens der Angelpunkt unserer Wissenschaft, und das war Erquickung und Belehrung genug. Eine Fülle von Arbeiten war dem Studium dieser ersten Lebensjahre gewidmet. Hier ist ein so ungeheures, noch nicht durchgearbeitetes Material angehäuft, daß noch für lange Zeiten vorgesorgt und jeder in der Lage ist, Neues, Wichtiges und Interessantes zu finden.

      Diese Wissenschaft ist uns gleichzeitig ein Mittel Fehlern vorzubeugen; denn eine Wissenschaft, die nur um ihrer selbst willen da wäre, ist die Menschenkenntnis nicht. Auf Grund unserer Erkenntnisse kamen wir ganz von selbst in die Erziehungsarbeit hinein, der wir nun seit Jahren dienen. Erziehungsarbeit ist aber eine Fundgrube für jeden, der Menschenkenntnis als eine wichtige Wissenschaft erkannt hat, der sie erleben und sich erarbeiten will; denn sie ist keine Buchweisheit, sondern will praktisch gelernt sein. Man muß jede Erscheinung im Seelenleben sozusagen miterlebt und in sich aufgenommen, den Menschen durch seine Freuden und Ängste begleitet haben, wie etwa ein guter Maler in die Züge eines Menschen, den er porträtieren will, nur das hineinlegen kann, was er von ihm erfühlt. So ist Menschenkenntnis zu denken als eine Kunst, für die genügend Werkzeuge zur Verfügung stehen, aber auch als eine Kunst, die sich allen andern Künsten in gleichem Rang anreiht und von der eine bestimmte Klasse von Menschen, die Dichter, einen sehr wertvollen Gebrauch gemacht haben. Sie soll uns in erster Linie dazu dienen unsere Kenntnisse zu vermehren, was auf nichts weniger abzielt, als uns allen die Möglichkeit einer besseren und reiferen seelischen Entwicklung zu verschaffen.

      Eine Schwierigkeit, die man bei dieser Arbeit häufig vorfindet, besteht darin, daß wir Menschen in diesem Punkt außerordentlich empfindlich sind. Es gibt wenig Menschen, die sich, obwohl sie keine Studien angestellt haben, nicht für Menschenkenner hielten, und noch weniger solche, die nicht im ersten Augenblick ein Gefühl der Verletztheit hätten, wenn man sie etwa in ihrer Menschenkenntnis fördern wollte. Unter allen diesen sind die wirklich Wollenden nur jene, die den Wert der Menschen durch das Erleben eigener oder durch Mitempfinden fremder seelischer Not schon irgendwie erkannt haben. Aus diesem Umstand erwächst uns bei unserer Beschäftigung auch die Notwendigkeit einer bestimmten Taktik. Denn nichts wird gehässiger und mit kritischerem Blick betrachtet, als wenn man einem Menschen die von seinem Seelenleben gewonnenen Erkenntnisse brüsk vor Augen führt. Wer sich nicht gern unbeliebt machen will, dem ist zu raten, in dieser Beziehung vorsichtig zu sein. Es ist das beste Mittel, um sich in schlechten Ruf zu bringen, wenn man mit dieser Wissenschaft unvorsichtig umgeht und sie mißbraucht, etwa bei einer Tischgesellschaft zeigen wollte, wieviel man von dem Seelenleben seiner Nachbarn verstehe oder errate. Ebenso gefährlich ist es, wenn man Grundanschauungen dieser Lehre einem Fremden als fertiges Produkt entgegenhält. Selbst jene, die schon etwas davon wissen, würden sich dadurch mit Recht verletzt fühlen. Damit wiederholen wir, was anfangs gesagt wurde, daß diese Wissenschaft zur Selbstbescheidung zwingt, indem sie nicht gestattet, voreilig oder überflüssigerweise Erkenntnisse vorzutragen, was übrigens nur dem alten Stolz der Kindheit entsprechen würde, zu prahlen und zu zeigen, was man schon alles kann. Für Erwachsene ist das viel bedenklicher. Deshalb wollen wir hiermit vorschlagen zu warten, sich selbst zu prüfen und niemand mit Erkenntnissen in den Weg zu treten, die man irgendwo im Dienste der Menschenkenntnis erworben hat. Wir würden für die werdende Wissenschaft und ihren Zweck nur neue Schwierigkeiten schaffen, weil wir dadurch genötigt wären Fehler auf uns zu nehmen, die nur dem Unbedacht des — allerdings enthusiastischen — Jüngers entsprungen sind. Es ist besser vorsichtig zu bleiben und dessen eingedenk, daß wir zuerst wenigstens ein abgerundetes Ganzes vor uns haben müssen, bevor wir ein Urteil fällen, und daß wir das nur dann tun sollen, wenn wir sicher sind, daß wir jemand damit einen Vorteil verschaffen. Denn man kann dadurch, daß man ein, wenn auch richtiges Urteil in schlechter Weise und an unrichtiger Stelle ausspricht, viel Schaden stiften.

      Bevor wir diese Betrachtungen fortsetzen, müssen wir einem Einwand begegnen, der sich sicherlich schon manchem aufgedrängt hat. Die obige Behauptung nämlich, daß die Lebenslinie eines Menschen unverändert bleibt, wird manchem unverständlich erscheinen, weil doch der Mensch so viel Erfahrungen im Leben mache, die eine Änderung seiner Haltung bewirken. Man bedenke aber, daß eine Erfahrung vieldeutig ist. Man wird finden, daß es kaum zwei Menschen gibt, die aus einer und derselben Erfahrung die gleiche Nutzanwendung ziehen. Man wird somit aus seinen Erfahrungen nicht immer klug. Man lernt wohl gewisse Schwierigkeiten zu vermeiden, man bekommt ihnen gegenüber eine gewisse Haltung. Aber die Linie, auf der sich einer bewegt, wird dadurch nicht geändert. Wir werden im Verlauf unserer Erörterungen sehen, daß der Mensch aus der Fülle seiner Erfahrungen immer nur ganz bestimmte Nutzanwendungen macht, die sich bei näherer Untersuchung stets als solche nachweisen lassen, die irgendwie zu seiner Lebenslinie passen, ihn in seiner Lebensschablone bestärken. Die Sprache sagt mit dem ihr eigenen Gefühl, daß man seine Erfahrungen macht, womit sie andeutet, daß jeder darüber Herr ist, wie er seine Erfahrungen verwertet. Man kann in der Tat täglich beobachten, wie die Menschen die verschiedensten Folgerungen aus ihren Erfahrungen ziehen. Man stößt z.


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