Gesammelte Werke. Alfred Adler

Gesammelte Werke - Alfred  Adler


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kommt in diesem Augenblick in eine ganz neue Welt, es empfindet irgendwie eine feindliche Atmosphäre. Es kann in der Kraft, mit der es sich auf die Füße stellt, eine verstärkte Hoffnung für seine Zukunft empfinden, bei seinen ersten Bewegungsversuchen, besonders beim Gehenlernen, verschieden große oder gar keine Schwierigkeiten haben. Solche Eindrücke, Ereignisse, die uns Erwachsenen oft als unbedeutende Kleinigkeiten erscheinen, nehmen einen ungeheuren Einfluß auf das kindliche Seelenleben und damit vor allem auf die Entstehung seines Weltbildes. So werden Kinder, die in der Bewegung Schwierigkeiten hatten, gewöhnlich ein Idealbild vor Augen haben, das stark mit raschen Bewegungen durchsetzt ist, was sich leicht erkennen läßt, wenn man sie nach ihren Lieblingsspielen oder nach ihrer Berufswahl fragt. Die Antwort (Kutscher, Schaffner u. dgl.) wird bedeuten, daß in ihnen die Sehnsucht lebt, über alle Schwierigkeiten mangelnder Bewegungsfreiheit hinwegzukommen, an einen Punkt zu gelangen, wo sie kein Gefühl der Minderwertigkeit, der Zurückgesetztheit haben, welches Gefühl ja besonders genährt werden kann, wenn sich Kinder langsam oder krankhaft entwickeln. Ebenso oft wird man finden, daß Kinder, die infolge fehlerhafter Augen die Welt nur mangelhaft wahrnehmen können, das Bestreben haben, das Sehbare der Welt stärker und intensiver zu erfassen, und daß Kinder mit Empfindlichkeiten der Ohren oft nur für gewisse Töne, die lieblicher klingen, Interesse, Verständnis und Vorliebe haben, kurz, daß sie musikalisch sind (Beethoven).

      Von den Organen, mittels deren sich das Kind der Umwelt zu bemächtigen sucht, sind es hauptsächlich die Sinnesorgane, welche Beziehungen unlösbarer Art zur Außenwelt herstellen. Sie sind es, die ein Weltbild aufbauen helfen. Vor allem ist hier das Auge zu nennen, dem sich die Umwelt entgegenstellt. Es ist vorwiegend die sehbare Welt, die sich dem Menschen besonders aufdrängt und die Hauptstütze für seine Erfahrung abgibt. So entsteht das visuelle Weltbild, dessen unvergleichliche Bedeutung darin liegt, daß es dauernde, stets unveränderliche Objekte zur Verfügung hat gegenüber den andern Sinnesorganen, die zumeist auf vergängliche Reizquellen angewiesen sind, wie das Ohr, die Nase, die Zunge und zum großen Teil die Haut. In anderen Fällen tritt wieder das Gehörorgan stärker hervor und schafft ein Seelenvermögen, das mehr mit dem Hörbaren der Welt rechnet (akustische Psyche). Seltener sind die Motoriker, Menschen, die auf Bewegungsvorgänge eingestellt sind. Eine Überbetonung des Geruchs- und Geschmacksvermögens bringt wieder andere Typen hervor, von denen insbesondere der erstere Typus durch seine Geruchsbegabung in unserer Kultur schlecht gestellt ist. Dann gibt es eine große Anzahl Kinder, bei denen die Bewegungsorgane eine große Rolle spielen. Die einen kommen mit einer größeren Regsamkeit zur Welt, sie sind immer in Bewegung und später immer zur Tätigkeit gedrängt; ihr Sinn ist vorwiegend auf Leistungen gerichtet, zu deren Vollbringung die Muskulatur in Bewegung gesetzt werden muß. Selbst im Schlaf wird dieser Tätigkeitsdrang nicht ruhen und man wird oft beobachten können, wie sie sich unruhig im Bett herumwälzen. Hierher gehören auch die »zappeligen« Kinder, deren Ruhelosigkeit ihnen oft als Fehler angerechnet wird. — Im allgemeinen gibt es fast keine Kinder, die sich nicht sowohl mit Augen und Ohren, wie auch mit ihren Bewegungsorganen dem Leben gegenüberstellen, um aus den Eindrücken und aus den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, ihr Weltbild aufzubauen, und wir können einen Menschen nur verstehen, wenn wir auch wissen, mit welchem Organ er dem Leben am unvermittelsten gegenübersteht. Denn alle Beziehungen gewinnen hier an Bedeutung und gewinnen Einfluß auf die Gestaltung des Weltbildes und damit auf die spätere Entwicklung des Kindes.

      2. Elemente der Entwicklung des Weltbildes

       Inhaltsverzeichnis

      Jene besonderen Fähigkeiten des seelischen Organs, die beim Zustandekommen des Weltbildes in erster Linie mitwirken, haben miteinander gemeinsam, daß ihre Auswahl, Schärfe und Wirkung durch das Ziel bestimmt wird, das einem Menschen vorschwebt. Das erklärt die Tatsache, daß jeder nur einen bestimmten Teil des Lebens, der Umwelt, eines Ereignisses u. dgl. besonders wahrnimmt. Der Mensch verwertet nur, was und wie es von seinem Ziel verlangt wird. Man kann daher auch diese Seite des menschlichen Seelenlebens erst begreifen, wenn man sich von dem geheimen Ziel eines Menschen ein Bild gemacht und alles an ihm als von diesem Ziel beeinflußt verstanden hat.

       a) Wahrnehmungen.

      a) Wahrnehmungen. Die durch die Sinnesorgane von außen her vermittelten Eindrücke und Erregungen geben im Gehirn ein Signal, von dem irgendwelche Spuren aufbewahrt werden können. Aus diesen Spuren baut sich die Vorstellungswelt auf, sowie die Welt der Erinnerung. Nun ist aber die Wahrnehmung nie mit einem photographischen Apparat vergleichbar, sondern sie enthält immer auch etwas von der Eigenart des Menschen. Nicht alles, was man sieht, nimmt man auch wahr und wenn man zwei Menschen, die dasselbe Bild erblickt haben, nach ihrer Wahrnehmung fragt, kann man die verschiedensten Antworten erhalten. Das Kind nimmt also aus seiner Umgebung nur das wahr, was aus irgendeinem Grund zu seiner bisher geformten Eigenart paßt. So sind die Wahrnehmungen von Kindern, deren Sehlust besonders entwickelt ist, vorwiegend visueller Natur, was bei den meisten Menschen der Fall ist. Andere werden wieder mit Gehörswahrnehmungen ihr Weltbild füllen. Wie erwähnt, sind diese Wahrnehmungen mit der Wirklichkeit nicht streng identisch. Der Mensch ist fähig, seine Berührungen mit der Außenwelt so umzugestalten, wie es von seiner Eigenart verlangt wird. Was also ein Mensch wahrnimmt und wie er es tut, darin liegt seine besondere Eigenart. Wahrnehmung ist mehr als ein bloßer physikalischer Vorgang, sie ist eine seelische Funktion, und aus der Art und Weise, aus dem Umstand, wie und was ein Mensch wahrnimmt, kann man tiefe Schlüsse auf sein Inneres ziehen.

       b) Erinnerungen.

      b) Erinnerungen. Wir konnten feststellen, daß das in seinen Grundlagen angeborene seelische Organ hinsichtlich seiner Entwicklungsfähigkeit mit dem Zwang zur Tätigkeit und den Tatsachen der Wahrnehmung zusammenhängt. Getragen von der Tendenz, zweckmäßig auf ein Ziel gerichtet zu sein, ist das seelische Organ innig mit der Bewegungsfähigkeit des menschlichen Organismus verbunden. Der Mensch muß alle seine Beziehungen zur Außenwelt in seinem seelischen Organ zusammenfassen und ordnen, und dieses ist nun als ein Organ der Anpassung genötigt, auch alle jene Fähigkeiten zu entwickeln, die zur Sicherung des Individuums nötig sind, die zu seiner Existenz gehören.

      Nun ist es klar, daß die individuelle Antwort des seelischen Organs auf die Fragen des Lebens in der seelischen Entwicklung Spuren hinterlassen muß, daß somit auch die Funktionen des Gedächtnisses und der Wertung durch die Anpassungstendenz erzwungen sind. Erst der Bestand von Erinnerungen macht es aus, daß der Mensch für seine Zukunft Vorsorge treffen kann. Wir dürfen schließen, daß alle Erinnerungen eine (unbewußte) Endabsicht in sich tragen, daß sie nicht unbefangen in uns leben, daß sie eine warnende oder aneifernde Sprache sprechen. Harmlose Erinnerungen gibt es nicht. Die Bedeutung einer Erinnerung kann man nur beurteilen, wenn man sich über die Endabsicht klar geworden ist, die ihr zugrunde liegt. Es ist wichtig, warum man sich an gewisse Dinge erinnert und an andere nicht. Und wir erinnern uns an jene Begebenheiten, deren Erinnerung für den Fortbestand einer bestimmten seelischen Richtung wichtig und ersprießlich ist, und wir vergessen jene, deren Vergessen ebenfalls hierfür förderlich ist. Damit ist gesagt, daß auch das Gedächtnis ganz dem Dienst der zweckmäßigen Anpassung an ein vorschwebendes Ziel unterworfen ist. Eine bleibende Erinnerung, mag sie auch irrtümlich sein, und, wie meist in der Kindheit, ein einseitiges Urteil enthalten, kann, wenn es für das angestrebte Ziel förderlich ist, auch aus dem Bereich des Bewußtseins verschwinden und ganz in Haltung, Gefühl und Anschauungsform übergehen.

       c) Vorstellungen.

      c) Vorstellungen. Noch deutlicher zeigt sich die Eigenart des Menschen in seinen Vorstellungen. Unter Vorstellung versteht man die Wiederherstellung einer Wahrnehmung, ohne daß das Objekt derselben gegenwärtig ist. Sie ist also eine reproduzierte, bloß in Gedanken wieder hervorgerufene Wahrnehmung, welcher Umstand wieder auf die Tatsache der schöpferischen Fähigkeit des seelischen Organs hinweist. Es ist nicht so, als ob die einmal erfolgte und von der schöpferischen Kraft der Seele schon beeinflußte Wahrnehmung


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