Kindheit: Autobiographische Novelle. Lew Tolstoi

Kindheit: Autobiographische Novelle - Lew  Tolstoi


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brachte ich das nicht fertig. Bald war mir das Gefühl, das ich mir ausmalte, in der Erinnerung nicht gegenwärtig, bald brachte ich es nicht fertig, daran zu glauben. Fest überzeugt war ich, daß Papa seine Wange hinhielt und Mama ihn küßte, das heißt, er übte stets und in allen Dingen einen großen Einfluß auf sie aus.

      Sie gehörte zu den weiblichen Wesen, deren Lebensaufgabe Selbstaufopferung und das Glück anderer bilden. Deswegen war Papa, obgleich er aufmerksam war und mit einer anderen Frau ein guter Mann gewesen wäre, mit Mama grob. Das konnte man daran merken, daß er sich bisweilen von ihr bedienen, sich ihre kleinen Vergnügen zum Opfer bringen ließ, ihr bisweilen das Wort abschnitt. Ja selbst bei den häuslichen Anordnungen war das zu sehen. Wer hatte im Hause die meisten Fenster? Aus wessen Fenster hatte man die schönste Aussicht? Wessen Dienerschaft war am besten untergebracht? Wer hatte den schönsten und bequemsten Eingang? Wer den Ausgang in den Garten? Auf wessen Hälfte war der Kamin? Wer empfing die gemeinsamen Gäste? Wem brachte der alte Gärtner die Kaktus Grandiflora und erklärte mit ruhiger Wichtigkeit, morgen stände sie in Blüte? Vor wessen Fenstern tanzten Bienen und versammelten sich das Hofgesinde und Kinder? Alle diese Vorteile waren auf Papas Seite.

      Als Wolodja mit Aufsagen innehielt, drangen aus dem Arbeitszimmer deutlich einige Sätze an mein Ohr. Aus diesen Bemerkungen verstand ich den ganzen Inhalt der Unterhaltung. Papa sagte, die Einnahmen seien dieses Jahr so klein und die Ausgaben so groß, daß man nicht daran denken könnte, mit der ganzen Familie nach Moskau zu übersiedeln, daß aber die Kinder, besonders Wolodja, der bald dreizehn Jahre alt würde, endlich etwas anderes lernen müßten als Tiroler Lieder und Karl Iwanowitschs Dialoge, daß er sie im Sommer aufs Land bringen und im nächsten Winter, so Gott wolle, alle nach Moskau überführen würde.

      »Ich weiß, Liebster, daß es zu ihrem Besten dient, es ist aber doch recht traurig,« erwiderte Mama und trat vom Fenster fort.

      Es war dreiviertel ein Uhr; einstweilen schien aber Karl Iwanowitsch nicht die Absicht zu haben, den unerträglichen Unterricht zu schließen. Ich sah das Hofmädchen vorübergehen, um die Teller zu waschen, hörte wie im Eßzimmer am Büfett mit Geschirr geklappert, der Tisch ausgezogen und mit Stühlen geschurrt wurde.

      Wahrscheinlich werden wir bald zum Essen gerufen; nur eins kann es noch verzögern – ich hatte gesehen, daß Mama mit Mimi, Ljubotschka und Katja (das war Mimis zwölfjährige Tochter) in den Garten gegangen, aber nicht zurückgekehrt waren.

      Da schien es, als wenn ihre Schirme auftauchten. Nein, es war Mimi mit dem Mädchen … Ach, und da war auch »sie«. Wie sie langsam ging und wie traurig, das arme Mädchen! Warum fuhr sie nicht mit uns?

      Ich wollte folgendes tun: Wenn »er« sagte, es sei Zeit zur Reise, würde ich zu ihr gehen, sie umarmen und sagen: ich will lieber sterben, aber ohne sie gehe ich nicht. Dann würde man mich sicher bei ihr lassen. Dann würden Mama, ich, Ljubotschka, Katja und Karl Iwanowitsch alle zusammen stets in Petrowskoie bleiben; ich würde zu Hause bei Karl Iwanowitsch lernen und dann, wenn ich groß geworden wäre, ihm ein kleines Haus schenken, da würde er immer wohnen; ich würde dann beim Militär eintreten, wenn ich es bis zum General gebracht, jemanden heiraten, vielleicht Katja, und Karl Iwanowitschs Verwandte aus Sachsen kommen lassen, oder nein, ihm lieber Geld geben, um selbst nach Sachsen zu fahren …

      Ich träumte noch manches von Sachsen, vom Generalsrang und von Mama, die mich, weil ich General wäre und bei ihr bliebe, am meisten liebhaben würde; aber all diese Träume sind schwer wiederzugeben, nicht weil sie zu töricht, sondern weil sie zu schön waren.

      Da lief schon der Haushofmeister Foka mit einer Serviette unterm Arm in den Garten, um zu melden, daß angerichtet sei. Wie war er komisch in seinem langen Rock und der weißen Weste, und wie glänzte seine kahle Platte im Sonnenschein.

      Gott sei Dank, da kam jemand, um auch uns zu rufen; man hörte Schritte auf der Treppe. Ich kannte alle Hausbewohner am Gang und an dem Knarren der Stiefel; aber die Schritte, die sich jetzt näherten, waren mir unbekannt, weshalb ich neugierig auf die Tür blickte.

      Die Tür öffnete sich und es erschien eine mir ganz fremde Gestalt.

       Inhaltsverzeichnis

      Ins Zimmer trat ein Mann, dem Äußeren nach etwa fünfzig Jahre alt, mit blassem, länglichem, von Pockennarben durchfurchtem Gesicht, halb grauem Haar und einem kleinen, dünnen Bärtchen. Er war so groß, daß er nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Oberkörper bücken mußte, um die Tür zu passieren. Auf einem Auge blind, trug er halb bäurische, halb priesterliche Kleidung und hielt in der Hand einen riesigen Stab, mit dem er beim Eintritt ins Zimmer aus Leibeskräften auf den Fußboden stieß.

      »Ach Vögelchen, Vögelchen! Das Weibchen härmt sich und weint, das liebe; aber die Jungen sind flügge, wollen aus dem Nest. Wird das Weibchen seine Jungen nicht wiedersehen. O weh! O weh!« schluchzte er und wischte sich richtige Tränen mit dem Rockärmel ab.

      Seine Stimme klang rauh und heiser; die Bewegungen waren ungleichmäßig und seltsam; seine Rede unzusammenhängend und sinnlos; der Tonfall aber so rührend und das gelbe Gesicht so aufrichtig traurig, daß man sich bei seinem Anblick und dem Anhören eines sonderbaren, aus Mitleid, Furcht und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühls nicht erwehren konnte. Er gebrauchte keine Fürwörter; dadurch bekamen seine einfachsten Bemerkungen einen rätselhaften, geheimnisvollen Sinn.

      Das war der Narr Grischa. Er kam zur Großmutter und hatte Mama schon als kleines Kind bei ihr gesehen; er hatte sie sehr liebgewonnen und kam nun, nachdem er sie hier entdeckt, um sich über ihre »Jungen« zu freuen, so nannte er uns Kinder.

      »Ah, ah!« schrie er plötzlich Karl Iwanowitsch an, der in diesem Augenblick seine blauen, gestrickten Hosenträger anlegte, die ihm in jungen Jahren eine Generalin verehrt hatte. »Du Narr, du Schaf … ziehst Hosenträger an, du Schaf!« Er riß den Mund weit auf und lachte laut.

      Karl Iwanowitsch war in einer peinlichen Lage. Er wollte den Verrückten nicht anfahren; und doch war es ihm schmerzlich, in unserer Gegenwart seine Autorität untergraben zu sehen.

      »Das fehlte noch,« sagte er, »geht hinunter, für euch ist hier kein Platz.«

      Karl Iwanowitsch sagte das mit solchen Fehlern, und die ganze Szene war so komisch, daß wir fast losgeplatzt wären. (Wenn ich seine Worte anführe, verdrehe ich das Russische nicht, weil solche Verdrehungen mich mehr an gewöhnliche Erzählungen erinnern, die ich nicht ausführen kann, als an Karl Iwanowitsch.)

      Endlich erschien der sehnlichst erwartete, pünktliche Foka, sagte: »Das Essen ist fertig«, und wir gingen nach unten. Grischa folgte uns, mit seinem Stock auf die Treppenstufen aufstoßend und allen möglichen Unsinn schwatzend.

      Als wir eintraten, waren schon alle im Gastzimmer versammelt. Papa und Mama gingen Arm in Arm auf und ab und unterhielten sich leise über etwas. Maria Iwanowna saß auf einem genau rechtwinklig zum Sofa stehenden Sessel; neben ihr saß auf der einen Seite Ljubotschka, die bei unserem Anblick sofort aufsprang und uns entgegenlief, auf der anderen Katja, die gern dasselbe getan hätte, wenn es mit Mimis Anstandsregeln vereinbar gewesen wäre. So aber mußten wir erst zu ihr gehen und sagen »Bon jour, Mimi« und dann … – nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich Katja küßte oder nicht. Ich weiß nur, daß Mimi mir bei allem hinderlich und im Wege war. In ihrer Gegenwart sprach ich niemals herzlich mit der reizenden, blonden, sauberen Katja.

      Ach, wie hat diese unerträgliche Mimi mein kindliches Leben vergällt! Man brauchte nur etwas zu sagen, so begann sie auch schon mit ihrem Korrigieren und sah bald Papa, bald Mama an, um zu zeigen, daß sie auf dem Posten sei …

      »Parlez donc français«, wenn man ihr zum Tort gerade gern russisch geplaudert hätte. Oder wenn einem bei Tisch etwas besonders schmeckte und man nicht gestört sein wollte, hieß es sicherlich: »Mangez donc avec du pain« oder »comment est ce que vous tenez votre fourchette?« Ach, wie war sie unerträglich! Und was ging ich


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