Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Rudolf Virchow

Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre - Rudolf Virchow


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entsprechend dem niedrigen Stande der mikroskopischen Technik, die zelligen Elemente höchstens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr verschiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John Hunter die Vergleichung der pathologischen Neubildung mit der Entwickelung des Hühnchens im Ei in die allgemeine Vorstellung eingeführt und zu zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch in pathologischen Bildungen Blut und Gefäss das Erste sei. Nach diesem Vorbilde beschrieben noch Rust und Kluge manche „parasitischen“ Neubildungen als versehen mit einem unabhängigen Gefässsystem, welches, ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich, wie im Hühnchen, ganz selbständig bilden sollte. Freilich hatte man schon vor dieser Zeit vielfach versucht, die scheinbar so abweichenden Formen der Neubildungen auf physiologische Paradigmen zurückzuführen; namentlich ist dies ein wesentliches Verdienst der Naturphilosophen gewesen. In jener Zeit, wo die Theromorphie eine grosse Rolle spielte und man in den pathologischen Dingen vielfache Analogien mit den Zuständen niederer Thiere fand, hat man auch angefangen, Vergleichungen zwischen den krankhaften Neubildungen und bekannten Theilen des gesunden Körpers zu machen. So sprach der alte J. F. Meckel von dem brustdrüsenartigen, dem pancreasartigen Sarkom. Die Heteradenie, die heterologe Bildung von Drüsensubstanz, welche in der neuesten Zeit von Paris aus als eine Neuigkeit beschrieben worden ist, war in der deutschen naturphilosophischen Schule vor einem halben Jahrhundert eine ziemlich allgemein angenommene Thatsache.

      Erst seitdem man die histologische Seite der Entwickelungsgeschichte zu bebauen begonnen hat, hat man sich mehr und mehr davon überzeugt, dass die meisten Neubildungen Theile enthalten, welche irgend einem physiologischen Gewebe entsprechen. Selbst in den mikrographischen Schulen des Westens hat man sich theilweise begnügt anzunehmen, dass es in der ganzen Reihe der Neubildungen nur ein besonderes Gebilde gäbe, welches specifisch abweichend sei von allen natürlichen Bildungen, nämlich den Krebs. Von ihm nahm man an, dass er ganz und gar von den physiologischen Geweben abweiche, Elemente sui generis enthalte, während man eigenthümlicher Weise das zweite Gebilde, das die Aelteren dem Krebsgewebe anzunähern pflegten, nämlich den Tuberkel, vielfach bei Seite liess, obwohl man doch auch für ihn kein Analogon fand. Aber man deutete ihn als ein unvollständiges, mehr rohes (crudes) Product, als ein nicht recht zur Organisation gekommenes, gewissermaassen unfertiges Gebilde, und glaubte ihn daher mehr den blossen Exsudationen anreihen zu dürfen.

      Wenn man jedoch den Krebs oder den Tuberkel sorgfältiger betrachtet, so kommt es auch bei ihnen nur darauf an, dasjenige Stadium ihrer Entwickelung aufzusuchen, in welchem sie die Höhe ihrer Gestaltung erreicht haben. Man darf weder zu früh untersuchen, wo die Entwickelung unvollendet, noch zu spät, wo sie über ihr Höhenstadium hinausgerückt ist. Hält man sich an die Zeit der Entwickelungshöhe (Acme, Florescenz), so lässt sich für jedes pathologische Gewebe auch ein physiologisches Vorbild finden, und es ist eben so gut möglich, für die Elemente des Krebses solche Vorbilder zu entdecken, wie es möglich ist, dieselben für den Eiter zu finden, der, wenn man einmal specifische Gesichtspunkte festhalten will, ebenso im Rechte ist, als etwas Besonderes betrachtet zu werden, wie der Krebs. Beide stehen sich darin vollkommen parallel, und wenn die Alten von Krebseiter gesprochen haben, so haben sie in gewissem Sinne Recht gehabt, da der Eiter vom Krebssafte sich nur durch die Entwickelungshöhe der einzelnen Elemente unterscheidet.

      Eine Classification auch der pathologischen Gebilde lässt sich ganz in der Weise aufstellen, die wir vorher für die physiologischen Gewebe versucht haben. Zunächst gibt es auch hier Gebilde, welche, wie die epithelialen, wesentlich aus zelligen Theilen zusammengesetzt sind, ohne dass zu diesen etwas Erhebliches hinzukommt (epitheliale Neubildungen). In zweiter Linie treffen wir Gewebe, welche sich denen der Bindesubstanz anschliessen, indem regelmässig neben zelligen Theilen eine gewisse Menge von Zwischensubstanz vorhanden ist (bindegewebige Neubildungen). Endlich in dritter Linie kommen diejenigen Bildungen, welche sich den höher organisirten Theilen, Blut, Muskeln, Nerven u. s. w. anschliessen. Es ist jedoch von vorn herein hervorzuheben, dass in den pathologischen Bildungen diejenigen Elemente häufiger vorhanden sind, ja entschieden vorwalten, welche nur den niederen Graden der eigentlich thierischen Entwickelung entsprechen, dass dagegen im Ganzen diejenigen Elemente am seltensten nachgebildet werden, welche den höher organisirten, namentlich den Muskel- und Nervenapparaten angehören. Ausgeschlossen sind jedoch auch diese Bildungen keineswegs; vielmehr kennen wir jede Art von pathologischer Neubildung, sie mag auf ein Gewebe bezüglich sein, auf welches sie will, wenn es nur überhaupt einen erkennbaren Habitus hat. Nur in Beziehung auf die Häufigkeit und die Wichtigkeit der einzelnen neu gebildeten Gewebe besteht eine Verschiedenheit in der Art, dass die grösste Mehrzahl der pathologischen Producte überwiegend epitheliale oder Elemente der Bindesubstanz führen, und dass von denjenigen Gebilden, welche wir in der letzten Klasse der normalen Gewebe zusammenfassten, am häufigsten Gefässe und Theile, welche mit der Lymphe und den Lymphdrüsen verglichen werden können, neu entstehen, am seltensten aber wirkliches Blut, Muskeln und Nerven.

      Dass man diesen so einfachen Standpunkt noch jetzt vielfach leugnet, erklärt sich nicht bloss daraus, dass das Verständniss der pathologischen Histologie überall die genaueste Kenntniss der physiologischen voraussetzt und ohne diese ganz und gar in die Irre geht, sondern vielleicht noch mehr daraus, dass es sich hier nicht bloss um einfache Gewebe, sondern häufig um besondere und grössere Zusammenordnungen von Geweben handelt, welche sich zu einer Art von pathologischen Organen zusammenfügen. Ein Dermoid besteht nicht bloss aus Epidermis oder aus Bindegewebe, sondern es stellt eine pathologische Reproduction des Derma in seiner ganzen Zusammensetzung als Hautorgan dar, in welche Zusammensetzung Epidermis und Bindegewebe, Haare, Talg- und Schweissdrüsen, Fettgewebe und glatte Muskeln, Gefässe und Nerven eintreten können. Ein Osteom besteht nicht bloss aus Knochengewebe (tela ossea), sondern es kann ausserdem Mark, Knorpel und Bindegewebe enthalten. Und so entspricht auch der Krebs nicht einem einzigen physiologischen Gewebe, sondern er enthält, ähnlich wie eine Drüse, zellige Elemente in besonderen Hohlräumen oder Kanälen, welche getragen werden durch ein Stroma von Bindegewebe mit Gefässen. Alle diese Arten von Neubildungen entsprechen also den Gegenständen der speciellen Histologie, der Organenlehre, und ihre gesammte Lebensgeschichte, ihre Entwickelung und Rückbildung lässt sich nicht nach dem Maassstabe einfacher Gewebe beurtheilen, sondern nur nach dem Vorbilde zusammengesetzter Organe des Körpers, grösserer anatomischer Gruppen von Theilen des Organismus, welche bekanntlich gerade durch ihre Zusammenlegung aus verschiedenen Geweben eine weit grössere Mannichfaltigkeit des Lebens und Erkrankens darbieten, als dies an einfachen Geweben möglich ist.

      Wenn man diesen rein physiologischen Gesichtspunkt festhält, so wirft sich sofort die Frage auf, was aus der Lehre von der Heterologie der krankhaften Producte wird, einer Lehre, welche aufrecht zu erhalten man sich seit langer Zeit bemüht hat, und auf welche die natürliche Anschauung scheinbar mit einer gewissen Nothwendigkeit hinführt. Hierauf kann ich nicht anders antworten, als dass es keine andere Art von Heterologie in den krankhaften Gebilden gibt, als die ungehörige Art ihrer Entstehung oder ihres Vorkommens, und dass diese Ungehörigkeit sich entweder darauf bezieht, dass ein Gebilde erzeugt wird an einem Punkte, wo es nicht hingehört, oder zu einer Zeit, wo es nicht erzeugt werden soll, oder in einem Grade, welcher von der typischen Norm des Körpers abweicht. Jede Heterologie ist also, genauer bezeichnet, entweder eine Heterotopie, eine Aberratio loci, oder eine Aberratio temporis, eine Heterochronie,


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