Robert Blum: Ein Zeit- und Charakterbild für das deutsche Volk. Blum Hans

Robert Blum: Ein Zeit- und Charakterbild für das deutsche Volk - Blum Hans


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ist viel für ein so kleines Kind!“ „Brav Gretchen, das hast Du gut gemacht!“ rief es in der Runde. Das Auge des geplagten Kindes haftete gespannter als je auf den Hobelspänen. Da greift denn auch einer der Herren nach dem Teller mit dem Gebäck — und schüttet fast dessen ganzen Inhalt der Cousine des kleinen Gretchen zu. Die brave Tante Agnes aber sagt zu dem Staatskind: „Gretchen, Du kannst nun wieder in die Schule gehen.“ Sie mußte die Aufforderung mehrmals, dringlicher wiederholen.

      Darüber waren mehrere Jahre vergangen. Die Mutter nähte nach wie vor für die Leute und sandte eines Tages ihre kleine Tochter ein fertiges Kleid auszutragen und sechzehn Stüber Arbeitslohn dafür zu verlangen. (Dreizehn Stüber machten fünfzig Pfennig). Das Kind verlangte und erhielt siebzehn Stüber, und lief spornstreichs zum Hofconditor Maus — ich vermuthe beinahe, daß er zeitlebens wenig für den Hof conditort hat — und verlangte hier in der höchsten Aufregung für einen Stüber Hobelspäne. Der „Herr“ am Ladentisch fragte ängstlich, ob das Kind die Hobelspäne essen wolle — sie sah offenbar so aus, als ob sie damit zu jedem anderen Verbrechen fähig gewesen wäre — und als das Kind diese Absicht entschieden bejahte und als glaubhaften Beweggrund hinzufügte, daß sie ein andermal habe zusehen müssen, ohne welche zu kriegen, machte er ihr für den einen Stüber eine ganze Düte voll.

      Aber das Verhängniß schreitet schnell. Die Empfängerin des Kleides beschwert sich bei Robert’s Mutter, daß sie soviel habe bezahlen müssen, und die Mutter stellt die Tochter zur Rede. Sprachlos vor Angst blickt Gretchen die Mutter an und vermag kein Wort herauszubringen. Robert ist zugegen und sagt: „Aber liebe Mutter, wie soll Gretchen nach so langer Zeit noch wissen, was Du ihr damals bestellt und was sie erhalten hat?“ Die Mutter stand von weiterem Forschen ab. Sowie aber Robert ausgehen mußte, sagte er: „Ich möchte Gretchen gerne mitnehmen.“ Er schlug einen ungewöhnlichen Weg mit ihr ein. In einer stillen Straße bleibt er stehen, sieht sie eindringlich an und fragt: „Gretchen, warum hast Du der Frau einen Stüber mehr abverlangt, als die Mutter gesagt?“ Sie erzählte ihm nun die ganze Geschichte. Da ballte er die Hände und knirschte mit den Zähnen. Die Schwester bat ihn, es der Mutter zu sagen, damit sie ihre Strafe bekomme. „Sei ruhig,“ erwiderte er stirnrunzelnd, „ich werde es der Mutter nicht sagen. Aber warum hast Du mir damals nichts gesagt, als man Dich zusehen ließ?“ „Dann hättest Du geweint,“ sagte Gretchen schluchzend. „Jetzt bin ich groß und weine nicht mehr,“ entgegnete Robert. „Du aber sollst mir versprechen und es nie vergessen, daß Du Dich stets an mich wenden willst, wenn Dir etwas fehlt, wenn Du Dir etwas wünschest, wenn Dir bange ist.“ Er hat redlich Wort gehalten.

      Jener Fall mit den Hobelspänen war natürlich nicht der einzige, bei welchem die Tante die armen Kinder zurücksetzte. Als Robert eines Tages trübselig zu Hause saß, äußerte er seiner Mutter den Wunsch, ein wenig zur Tante zu gehen. Er ging, kam aber bald zurück mit der Nachricht, daß er nicht vorgelassen worden sei, weil die Tante Besuch habe. Neugierig, den Besuch zu sehen, hatte er durch das Glasfenster der Besuchsstube geschaut und den Onkel Heinrich nebst Frau bei der Tante sitzen sehen. Tief gekränkt, faßte er seinen Schmerz in die für einen so jungen Knaben höchst überraschende Wendung zusammen: „Die Schwester meines Vaters konnte mich nicht empfangen, weil sie den Bruder meines Vaters zum Besuch da hatte.“

      So war das elfte Jahr seines Lebens herangekommen, in welchem Robert zum ersten Male das heilige Abendmahl empfing. Wohl der Einzige unter den gleichalterigen Genossen, hatte Robert die Festkleidung, die er am Altar des Herrn trug, sich selbst redlich verdient. Aber auch der kindlich tiefe Glaube an das Wunder des Gnadenmahls des Heilandes mochte vielleicht keinem seiner Gefährten so rein und kräftig innewohnen, wie ihm. Diesen schon seit seinem vierten Jahr durch täglichen Messebesuch und Messedienst bethätigten Glauben bezeugte Robert nun auf’s Neue, indem er seine Eltern nach der Communion bat, ihm zu gestatten, daß er in der St. Martinskirche (seiner Pfarrkirche) in die Reihe der Meßdiener eintreten dürfe. Da mit diesem Amte kleine Einnahmen verbunden waren, die Robert seiner Mutter zuzuwenden hoffte, und außerdem das Recht, die Pfarrschule der Kirche zu besuchen, so gaben die Eltern mit Freuden ihre Zustimmung.

      Robert wurde also Meßdiener. Da dieser Dienst die Knaben nur in frühen Morgenstunden und an Sonn- und Feiertagen beschäftigte, so hinderte er nicht am Schulbesuch. Aber aus diesem Dienst, der Alles in sich zu vereinigen schien, was Robert glücklich machte, erwuchsen dem Knaben zum ersten Male in seinem jungen Leben seelische Leiden, die ihn mit tiefem Schmerz erfüllten und in ihrem Verlaufe den festen, treuen Kinderglauben Robert’s zerstörend ergriffen und vernichteten. Den ersten Anlaß hierzu bot folgender Vorgang. Die jungen Meßdiener verweilten in der Kirche schon ehe sie den Gläubigen geöffnet wurde und noch nachdem sie von den Kirchenbesuchern verlassen war. Die Jungen — mindestens aber Robert — beobachteten genau das Benehmen der Geistlichkeit in diesen Momenten, wenn diese unter sich zu sein glaubte. Klagend und weinend berichtete Robert der Mutter: „Er habe die traurige Bemerkung gemacht, daß die stets mit dem Heiligen beschäftigten Leute nicht frömmer als die Anderen seien, ja noch viel weniger fromm. Es falle Keinem derselben ein, vor dem Hochaltar das Knie zu beugen, wenn die Kirche von Menschen leer sei. Sie gingen vielmehr lachend und schwatzend vorbei. Er wolle aber versuchen, durch sein besseres Beispiel auf die Andern zu wirken.“ Bald klagte er der Mutter von Neuem: „Nein, nein, sie Alle sind nicht fromm. Sie haben keine Achtung und Ehrfurcht vor dem im Altar verborgenen Heiland. Es ist nur Scheinheiligkeit, wenn sie in der von Menschen gefüllten Kirche Ehrenbezeugungen an den Tag legen.“ Armes, reines Kinderherz! Du wußtest nicht, daß Jahrhunderte vor dir ein anderes Kind, aus so armem Hause wie du, am zehnten November geboren wie du, denselben Weg zur Erkenntniß gewandelt war, dessen rauhe Bahn du nun betratest. Auch Martin Luther war nicht zuerst irre geworden an der Lehre der römischen Kirche, sondern an ihren geistlichen Dienern. Und als er diese voller Lug und Trug fand, erstreckte sich sein Zweifel auch auf den von solchen Priestern verkündeten Glauben. Denselben Weg der Erkenntniß wandelte Robert Blum.

      Jeder wahrhaftigen treuen Natur ist die erste Berührung mit Lüge und Heuchelei eine überaus peinliche Erfahrung. Hier wurde sie um so peinvoller, als die bisher untrügliche letzte Instanz in allen wichtigen Fragen, die Mutter, in ihrem blinden Glauben an die Heiligkeit und Frömmigkeit der Diener der Kirche, die Zweifel Robert’s nicht lösen konnte oder wollte. Er wurde daher nun auch der Mutter gegenüber einsilbig und verschlossen. Seine letzten Gedanken behielt er für sich. Finster und argwöhnisch ging er seinen kirchlichen Functionen nach. Immer weiter griff sein grübelnder Zweifel um sich. Das Nächste, was ihn aufregte, war zum Glück noch eine rein weltliche Betrachtung. Bei Trauungen, Kindtaufen, Begräbnissen &c. legten die Betheiligten Trinkgelder in eine für die Meßdiener bestimmte Büchse. Robert glaubte bemerkt zu haben, daß der Inhalt der Büchse, wenn er zur Vertheilung kam, mit den Einlagen nicht stimme, und seit der letzten Theilung begann er förmlich Buch zu führen über jeden Stüber, der eingelegt wurde. Bei der nächsten Vertheilung des Büchseninhaltes fand sich nicht einmal die Hälfte der von Robert berechneten Einlagen vor. Er nahm seinen geschmälerten Theil, brachte ihn weinend der Mutter, legte ihr sein Verzeichniß vor und berechnete ihr danach, wie viel jeder der jungen Meßdiener eigentlich hätte erhalten müssen.

      Die Mutter nahm Geld und Verzeichniß ging zum Hülfsküster, der die Büchse in Verwahrung hatte, und beschwerte sich über solchen „Betrug“. Dieser hörte die Klage staunend an; dann lachte er laut auf und rief einmal über das andere: „Also jetzt rechnen die Jungens nach, was in die Büchse kommt!“ Die gute Mutter mochte in diesem Gebahren des Küsters auf die schwere Anklage nur die Bestätigung Alles dessen finden, was Robert ihr bisher aus seinem vollen Herzen geklagt hatte, und war deshalb wenig geneigt, die Sache von der heiteren Seite aufzufassen. Sie nannte daher dem Küster die Namen aller Personen, die Geld in die Büchse eingelegt hatten, und gab genau die Summe an, die ein Jeder gegeben. Da legte sich der Küster auf’s Beruhigen. Er versprach, die Büchse solle in Zukunft besser aufgehoben, Veruntreuung dadurch unmöglich gemacht werden. Und er hielt Wort.

      Für Robert war jedoch dieser Sieg, den sein Scharfsinn für sich selbst und die Kameraden erfochten hatte, mit nichten erfreulich. Bot er ihm doch die traurige Bestätigung, daß er mit seinem Argwohn auf richtiger Fährte gewesen. Da die Mutter nur einen Theil seiner Zweifel zu lösen vermochte und sein Glaube ihm gebot, alles Herzeleid und alle seelische Bedrängniß in der Beichte dem verschwiegenen


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