Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury. Else Ury
zu spät kommen.«
»Ach, Marlenchen, sei kein Frosch, denk’ daran, daß meine Mutter mich dir ans Herz gelegt hat. Wir werden doch am ersten Tage unserer Studentenzeit nicht getrennt einziehen in den Tempel der Weisheit. Gleich bin ich fertig.«
»Wir hören ja doch nicht dasselbe Kolleg.« Ilse war aufgeregt und drängte fortzukommen.
»Aber den gleichen Weg haben wir doch, wenn sich auch unsere geistigen Wege trennen. Außerdem denkt ihr natürlich nicht an das akademische Viertel. Die Professoren fangen stets erst eine Viertelstunde später an. Wir haben noch kolossal viel Zeit«, tröstete Annemarie mit Seelenruhe.
»Ich halte es für pflichtvergessen, gleich den ersten Tag mit dem akademischen Viertel zu rechnen.« Marlene wandte sich zur Tür.
»Quatscht keine Opern, Kinder, ich bin noch eher fertig als ihr.« Den Hut auf das Goldhaar gestülpt, wollte Doktors Nesthäkchen spornstreichs an den beiden vorüber.
»Hiergeblieben, erst frühstückst du!« Marlene erinnerte sich plötzlich daran, daß Doktors Nesthäkchen ihr in der Tat von Frau Doktor Braun ans Herz gelegt worden war. »Soviel Zeit muß sein.«
Annemarie kicherte wie ein Kobold. Denn sie hatte gar nicht die Absicht gehabt, ohne Kakao fortzugehen und nur die Eile vorgetäuscht, um Marlenes Widerspruch hervorzurufen.
In zwei Minuten war der schon abgekühlte Kakao hinuntergegossen. »Mein Brot esse ich unterwegs.«
»Das schickt sich aber nicht, daß du wie ein Kind mit der Stulle in der Hand durch die Straßen gehst. Du bist doch jetzt eine junge Dame.« Ilse hielt viel auf Anstand.
»Junge Dame? In meinem ganzen Leben werde ich keine. Studentin bin ich – ‘s gibt kein schöner Leben, als Studentenleben!« Die Freundin unterärmelnd, schmetterte es Doktors Nesthäkchen in die Morgenluft.
»Nicht doch, Annemie, wenn du dich derart benimmst, gehe ich einen andern Weg lang«, drohte Ilse. Auch Marlene schien die Morgenhymne peinlich.
»Hier im Burggäßle hört uns ja keine Katze!« Mit diesem Ausspruch hatte Annemarie unrecht. Putzerli sonnte sich am Brunnentrog und fiel mauzend in Annemaries Sang ein.
Die Uhr an dem bunten Rathaus, das so lustig in der Frühlingssonne alle seine farbenfreudigen Erker und Gesimse leuchten ließ, zeigte bereits fünf Minuten nach acht. Ob man in zehn Minuten den Weg bis zur Wilhelmsstadt, dem neuen Stadtteil, in dem die Universität und die Kliniken lagen, zurücklegte?
Ilse machte Schritte, als ob sie Siebenmeilenstiefel an den Füßen hätte, Marlene bekam Herzklopfen und Milzstechen. Annemarie aber hatte noch Zeit, die Freundinnen darauf aufmerksam zu machen, daß man in den Häusern auf dem Marktplatz eine Treppe hinaufgehen könnte, um dann in der höhergelegenen nächsten Straße parterre wieder herauszukommen. Am liebsten hätte sie sofort den Beweis dafür angetreten. Aber Marlene und Ilse hörten gar nicht mehr, was sie sprach; die jagten ihr schon voraus.
Der Abschied in der Vorhalle der Universität war hastig.
»Auf Wiedersehen!« – »Laß dich nur ohne deine Kinderfrau nicht vom bösen Wolf fressen, Ilschen.« Trotz der Hetze konnte Annemarie den Scherz nicht unterdrücken. Dann trennten sich die Wege der drei.
Mit heißen Wangen und windgezaustem Haar betrat Doktors Nesthäkchen den Hörsaal. Er schien überfüllt. Damen und Herren bunt durcheinander. Einige Studenten standen sogar als Wanddekoration. Professor Bergholz war der beliebteste Redner. Gott sei’s getrommelt und gepfiffen, er war noch nicht da! Das Kolleg hatte noch nicht begonnen.
Neugierige Augen musterten die Eintretende. Köpfe drehten sich nach ihr. Jede neue Erscheinung fiel hier, wo man sich wenigstens vom Sehen kannte, auf. Und solch liebreizendes Mädel zog die Aufmerksamkeit der leicht entflammbaren Musensöhne noch besonders auf sich.
Annemarie hatte einen guten Kehrmichnichtdran. Ihr blaues Auge überflog die Bankreihen, ob sich nicht irgendwo noch ein Plätzchen für sie bot. Da schnellte es bereits von den Sitzen empor, Krabbe und Neumann winkten der Suchenden.
»Mädle, ruck, ruck an meine grüne Seite, i hoab di goar zu gern, i mag di leide.« Selbst hier an dieser ernsten Stätte brachte der fidele Studio Krabbe Annemarie sein Ständchen.
Dasselbe wurde durch den Eintritt des Professors unterbrochen. Lebhaftes Füßescharren empfing ihn zu Annemaries größter Verwunderung, die diese studentische Kundgebung trotz der beiden Studentenbrüder noch nicht kannte.
Professor Bergholz sprach ein paar einleitende Worte, begrüßte die neuen Hörer und sprach die Hoffnung aus, daß die gemeinsame Arbeit eine erfolgreiche sein möge. Dann begann er das erste anatomische Kolleg über Zellenlehre.
Mit gezücktem Tintenstift, das schwarze Wachstuchheft zum Mitschreiben vor sich, folgte Annemarie den Erörterungen und Auseinandersetzungen. Es war gar nicht so einfach, gleich das erstemal alle medizinischen Fachausdrücke zu begreifen; Annemarie mußte sich grenzenlose Mühe geben, um den Faden nicht zu verlieren und damit den Zusammenhang. Gern hätte sie den neben ihr sitzenden Neumann hin und wieder um Aufklärung gebeten. Aber der schrieb – schrieb – als gelte es ein Wettlaufen mit dem Bleistift auf dem Papier. Lauter Hieroglyphen malte er auf das Blatt. Ach, hätte sie doch auch während ihrer Schulzeit stenographieren gelernt. Marlene, Ilse und Marianne hatten sich an einem Kursus beteiligt; aber Annemarie, Vera und Margot fanden das Tennisspiel, das gerade auf diesen Nachmittag festgesetzt war, unbedingt wichtiger. Nun sah sie neidisch zu, wie die andern die Vorlesung getreulich mitstenographierten, während sie selbst nur zusammenhanglose Worte dem Kollegheft einverleibte.
»Lassen’s nur bleibe«, flüsterte ihr Nachbar Krabbe auf der andern Seite, der ihre vergeblichen Anstrengungen, mitzukommen, beobachtete. »I schreib’ scho’ alles Nötige dahier und mach Ihne davon eine Abschrift.«
»Vielen Dank«, flüsterte Annemarie erleichtert. Es war doch angenehm, wenn man gute Freunde besaß. Aber da hatte sie durch die Unaufmerksamkeit eines Augenblicks die letzte Demonstration des Vortragenden überhört. Nun saß sie wie verraten und verkauft da und fand den Anknüpfungspunkt nicht wieder. Doktors Nesthäkchen lernte in diesem ersten Kolleg mehr als die Zusammensetzung der Zellengewebe. Es lernte, daß es hier notwendig war, die volle Aufmerksamkeit einzusetzen, was aus dem Gymnasium nicht immer der Fall gewesen war. Daß es sich jetzt um ernste, zielbewußte Lebensarbeit handelte.
Als der Professor sein erstes Kolleg schloß, ging es Annemarie wie ein Mühlrad im Kopf herum. Ordentlich blaß sah sie von der ungewohnten Gedankenkonzentrierung aus.
»Kommen’s mit in die Luft, daß nit so vertattert dreinschaue tun«, riet Neumann.
»Ja, gleich.« Annemarie zögerte noch, trotzdem es sie drängte, ihre Schläfen von dem Frühlingswind kühlen zu lassen. »Gleich – – –«, sie stand am Ausgang und musterte die an ihr Vorüberschreitenden. Nur die Kolleginnen, die männlichen Studenten erweckten ihr gar kein Interesse. Sie suchte unter all den hübschen und häßlichen Gesichtern nach einem schmalen Antlitz mit seinen klugen Zügen, braunem Haar und liebblickenden grauen Augen, zu denen man sogleich Vertrauen haben mußte. Aber soviel Annemarie auch musterte, schaute und beobachtete, es wollte sich kein Mädchengesicht, das diese Züge trug, die sie, sobald sie die Augen schloß, deutlich vor sich sah, zeigen. Und daß seine Schwester ganz anders aussehen könnte, kam Annemarie nicht in den Sinn. Sicher war Fräulein Hartenstein nicht unter den Hörern.
Draußen standen wartend Ilse und Marlene, erstere mit hochrotem Kopf.
»Es war gar nicht so schlimm. Denk’ mal, die beiden Studentinnen, denen wir am ersten Tag nachgelaufen sind, haben die gleiche Vorlesung belegt. Da bin ich wenigstens nicht ganz verlassen ohne mein zweites Ich«, teilte Ilse erleichtert mit.
»Und wie war das Kolleg?«
»Genau wie in der Schule, der Professor hätte nur noch Vokabeln abhören und ‘rauf und ‘runter setzen müssen.«
»Bei mir war es riesig interessant. Professor Binder hat die Physik unter mir ganz neuen Gesichtspunkten beleuchtet. Ich hätte ihm den ganzen Vormittag zuhören können!«