Die große Gauklerin: Ein Roman aus Venedig. Carry Brachvogel
des Dogen Priuli, während sie die Grabsteine der anderen Dogen, die hier bestattet lagen, nur im Vorübergehen musterten.
Ettore trat in die Kirche ein. Der Gegensatz zwischen der flimmernden Helle draußen und dem Halbdunkel hier war so groß, daß er eine Minute lang geblendet dastand und erst allmählich das Innere der Kirche, ihre Altäre, Säulen und Denkmäler unterscheiden konnte. Er ging auf seinen großen Ahnherrn zu, ließ sich auf einen kleinen, zerrissenen Strohsessel nieder, der da stand, und betrachtete das Denkmal aufmerksam, als sähe er's heute zum erstenmal. Es war ganz in der Art der übrigen Dogendenkmäler gehalten: ein hoher, länglicher Stein, auf dem, von einem Giebelfelde überragt, die ruhende Gestalt des Dogen sichtbar wurde. Eine fast verlöschte Inschrift verkündete auf lateinisch, daß die dankbare Republik ihrem großen Sohne dies Denkmal gestiftet habe zum ewigen Gedenken seiner Heldentaten und seines Ruhmes. Während Ettore dasaß, kamen etliche Fremde, ließen sich vom Kirchendiener die Geschichte des großen Priuli erzählen und die künstlerischen Schönheiten des alten Bildwerks preisen, und Ettore gab sich Mühe, bei diesem Vorgang den edlen Hochmut zu empfinden, den die Erinnerung an die Größe des eigenen Blutes wachruft. Er stellte sich vor, was die Fremden wohl sagen würden, wenn sie erführen, daß sie mit ihrem Aermel einen Nachkommen des großen Dogen streiften, wollte sich einreden, daß Blut von diesem Blut mehr wert sei als alle Millionen der Miß Beaufort, und daß er also darum über das amerikanische Fräulein nur verächtlich die Achseln zucken könne. Wie sehr er sich aber auch mühte, einen Zusammenhang zwischen sich und dem Ahnherrn herzustellen, – es gelang ihm nicht. Er fand keine Beziehung, die sie miteinander verband, denn schließlich hatte ihn auch aller Heldenmut und aller Ruhm des großen Dogen nicht vor der Niederlage bei der Amerikanerin schützen können. Er stand auf und ging wieder hinaus auf die Straße. Als ein Priuli fühlte er sich zwar immer noch erhaben über ganz Venedig, aber warum er sich so erhaben vorkam, wußte er im Augenblick nicht.
Er ging wieder zurück zur Riva und wartete noch ein paar Augenblicke auf seine Gondel. Da fiel ihm ein, daß er ja auch eine Mietgondel nehmen könnte, und dieser Gedanke war ihm so angenehm, daß sein Aerger fast völlig geschwunden war, als er mit einem fremden Gondoliere über die Fahrt nach dem Lido verhandelte. O, das tat gut, jetzt geraume Weile mit sich allein, nicht beobachtet von Domestikengesichtern, auf den Wellen dahinzugleiten und Ordnung in die wirren Gedanken zu bringen. Er merkte jetzt mit Staunen, daß es vor allem der Gedanke an das neugierige, forschende Gesicht des eigenen Gondoliere gewesen war, der ihm diese letzte Stunde so peinlich gemacht hatte. Nun sprang er behend in die Mietgondel, deren Kissen freilich nicht so weich waren wie die der Priulischen Barke, deren schwarze Tuchverkleidung etwas fettig und deren Gondoliere sehr banal aussah, die ihm aber ein ungestörtes, von keinem Dienerauge begucktes Nachdenken gewährte, dessen er so dringend bedurfte, ehe er mit den Freunden oder besser gesagt mit seiner Gesellschaft auf der Kurhausterrasse des Lido zusammentraf. Um keinen Preis wollte er vor sie mit der blanken Wahrheit hintreten. Er mußte irgendeine Form finden, die zwar nicht gerade eine Lüge umschloß, aber doch die Szene im Hotel Danieli merklich zu seinen Gunsten verschob. Er wollte sie erst langsam darauf vorbereiten, daß er Miß Beaufort nicht heiraten würde, weil – – ja, den angeblichen Grund dieses Entschlusses wollte er ausfindig machen, während er dem Lido entgegenfuhr. Er war ja nicht dumm, in allen gesellschaftlichen Dingen und Listen wohlerfahren; es konnte ihm also nicht schwer werden, seine Niederlage so zu verhüllen, daß sie wie ein freiwilliger Rückzug aussah.
Solange sie noch umringt von Barken und Vaporetti waren, gelang es Ettore nicht, seine Gedanken zu sammeln, aber als das bunte und lärmende Treiben der Lagune immer weiter hinter ihm zurückblieb, versank er ganz in sich und in die Einsamkeit, die sich immer blauender um ihn her dehnte, und in der er mit seinen abgewandten Sinnen auch seinen Gondoliere kaum mehr sah, die Ruderschläge kaum mehr hörte. In der weicheren Nachmittagsbeleuchtung, die jetzt anhub, sah die entfernte Stadt rosenfarben aus, aber Ettore, der sie vorhin gehaßt hatte, warf nun keinen Blick nach ihr zurück. Er durchlebte wieder die Szene im Hotel Danieli und alles, was ihr vorangegangen war.
Vor einigen Wochen war Miß Beaufort mit ihrer Mutter in Venedig eingetroffen, umstrahlt vom Glanz ihrer Millionen, von denen die ganze vornehme Jugend Venedigs alsbald wußte. All diese jungen, adeligen Venezianer, diese Fabrianis, Tassinis, Orseolos und wie sie sonst noch heißen mochten, kannten ja, genau so wie Priuli, nur das eine, große Lebensziel, – die reiche Partie. Sie verfolgten es ganz naiv, ganz selbstverständlich, denn man hatte sie zu nichts anderem erzogen, sie von Jugend auf gelehrt, daß der Klang ihrer alten Namen dazu da sei, um ihnen eine Millionenbraut oder wenigstens ein sehr reiches Mädchen anzulocken. Man hatte sie alle so erzogen, wie die romanischen Aristokraten ihre Söhne zu erziehen pflegen, hatte sie mit wenig Wissen, sehr gefälligen Manieren und einer Portion selbstbewußten, lächelnden Leichtsinns ausgerüstet, daß sie, obgleich sie inmitten eines demokratischen Volkes aufwuchsen, in ihren Anschauungen und in ihren Bestrebungen immer noch Herren des Ancien régime darstellten. Keiner von ihnen hatte gelernt, ernsthaft zu arbeiten, denn jeder von ihnen lebte »del suo«, das freilich mitunter gar nicht »das Seinige« war, sondern eine Rente, die man mühselig einem geizigen Onkel oder einer verbissenen Tante abjagte, wenn nicht gar Mutter und Schwestern darbten und Gläubiger schwer geschädigt wurden, nur damit der junge, vornehme Herr immerfort tadellos gekleidet war, bei allen Veranstaltungen seiner Standesgenossen erschien und seine wohlgepflegten Hände nie durch Arbeit entehrte. Sie dachten sich bei dieser Art zu leben gar nichts Böses, sie bemitleideten aufrichtig die Frauen ihrer Familie, die sich für sie opferten, sie wären selber sehr froh gewesen, wenn sie ihre Schulden hätten bezahlen können, und waren darum um so eifriger auf das einzige Rettungsmittel bedacht, das man ihnen gezeigt hatte, und das sie selbst erkannten. Die wenigsten von ihnen hatten freilich so Gewichtiges in die Wagschale zu legen wie Ettore, der als einer der schönsten Männer Venedigs galt und obendrein einen, im Innern allerdings ganz verlotterten und verfallenen Palast besaß, dessen Schiffspilonen jedoch mit den kleinen, goldenen Dogenmützen geziert waren, dem Vorrecht der Geschlechter, die einst als Herren über die Republik geherrscht hatten. Gerade aber weil er mehr besaß als die anderen, vielleicht auch weil er seine Freiheit sehr liebte, war er im allgemeinen lässiger als sie bei der Heiratsjagd, erfuhr immer erst später als sie von den Goldfischen, die aus Amerika, England und Deutschland in die Lagune geschwommen kamen. So hatte er auch erst durch den jungen Fürsten Gaulo, der mit verschiedenen Hotelportiers in indirekten Beziehungen stand, durch die ihm die Ankunft reicher Mädchen oder Witwen gemeldet wurde, von Miß Beaufort erfahren, und es war ihm nicht schwer geworden, die Bekanntschaft der beiden Amerikanerinnen zu machen, die sich natürlich von den Huldigungen eines Conte geschmeichelt fühlten. Ihm wiederum gefiel das Mädchen nicht übel, denn sie war frisch und elegant und innerlich ganz unkompliziert, ganz auf das Leben und die fröhliche Stunde gestellt, so ungefähr wie Priuli selbst. Wochenlang hatte er nun Miß Maud den Hof gemacht und war seines Erfolges so sicher gewesen, daß er heute als Freier mit seinem Antrag hatte hervortreten wollen. Als er sich aber dem Salon der Damen näherte, fiel ihm auf, daß die Jungfer geschäftig Kleider und Hüte auf den Armen trug, als ob sie einpacken wollte, und daß Bedienstete des Hotels die mächtigen Rohrplattenkoffer mit dem aufgemalten Sternenbanner und den Buchstaben M. B. herbeischleppten. Schlimmer Ahnungen voll trat er ein und fand Mrs. Beaufort allein (Maud war im Nebenzimmer mit der Verwahrung ihres Schmuckes beschäftigt), die ihm ein bißchen weinerlich, aber doch geschwellt von Stolz erzählte, daß sie sich plötzlich entschlossen hätten, zur season nach London zu fahren. Eine Freundin Mauds war in London an einen Earl verheiratet, einen Earl, der Peer von England war und also nebst seiner Lady bei der Königskrönung in Westminster-Abtei mit dem Krönchen auf dem Haupte und dem hermelinverbrämten, roten Samtmantel erscheinen durfte und vom neugekrönten König geküßt wurde! Nie zuvor in seinem Leben war Ettore sich so albern vorgekommen wie jetzt, da er mit seinem wertlos gewordenen Antrag der alten Amerikanerin gegenübersaß (denn es war ja sicher, daß die Freundin auch für Maud schon einen Peer ausfindig gemacht hatte!) und das Loblied auf den Earl mit anhören mußte. Aber zornig, wirklich zornig war er erst geworden, als Maud eintrat, ihm ganz wie sonst die Hand reichte, ganz wie sonst lächelte, daß die großen Raffzähne im Oberkiefer allzusehr sichtbar wurden, und ganz unbefangen sagte: »Ja, dear Conte, wir haben nun genug von Venedig; es ist ja quite interesting, aber schließlich kann man sein Leben hier nicht verbringen!«
Das war