GEFAHR IN DER TIEFE. Jonathan Green
seinem rostigen Deck und den vom Wetter gekrümmten Planken, stemmte sich das dreckige und laute Schiff gegen die Wogen des Meeres. Der Horizont war wolkenverhangen, darunter lag der Pazifik wie eine wogende Masse brodelnder Dunkelheit. Seevögel, weiße Flecken auf dem Grau des Himmels, erhoben sich weit über der einsamen Venture. Ihre misstönenden Schreie verloren sich im heulenden Wind und dem Krachen der Wellen gegen den Bug des Schiffes. Der Dampfer wirkte wie ein rostiger Fleck im trägen Steigen und Fallen des schwarzen Wassers.
Das Schiff schlug in einen weiteren Wellenkamm und das dröhnende Scheppern des Aufpralls schallte durch den Rumpf und ließ die Kielräume erzittern. Captain Engelhard – ein Deutscher bayrischer Abstammung – blickte durch das salzverkrustete Glas vor sich auf die wellenförmigen Berge aus Wasser, welche die Venture umschlossen. Soweit das Auge reichte, war kein Land in Sicht. Nach Engelhards Erfahrung gehörte das wilde Wasser des südchinesischen Meeres zu den rauesten und unberechenbarsten Gewässern der ganzen Welt – nicht unähnlich dem abgebrühten Captain selbst. Mager wie eine Seeschlange und potenziell doppelt so giftig, verlangte Engelhard den Respekt seiner Crew – und deren Furcht. Es war genau wie beim alten Runcorn, unter welchem er seine erste Anstellung als Schiffsjunge auf den Handelsrouten zwischen dem Imperium von Magna Britannia und China innehatte, und nach welchem Vorbild er seinen eigenen Führungsstil modellierte, nachdem er das Kommando über die Venture aufgrund Runcorns vorzeitigem Ableben übernommen hatte.
Nach seiner Erfahrung lief es so: Ein Seemann, der seinen Captain respektierte, seinem Urteil vertraute und seine Entscheidungen ehrte, würde ihm über die sieben Weltmeere bis zum Ende der Welt folgen. Aber einen Mann, der einen fürchtet, den konnte man hinab in Davy Jones Reich oder gar in den Schlund der Hölle selbst führen. Und das war die Sorte Mann, die Engelhard auf seinem Schiff haben wollte.
Einer dieser Männer war sein Erster Offizier, Mr. Hayes. Die Crew der Venture war eine weltbürgerliche Gemeinschaft, Hayes selbst kam aus Rhodesien. Der cremefarbene Wollpullover, den er trug, stand im scharfen Kontrast zu seiner wie poliert wirkenden ebenholzfarbenen Haut. Er war ein Riese von einem Mann, größer und breiter als Engelhard; seine Loyalität erkauft mit dem Versprechen auf Reichtum, seine Grausamkeit hingegen mit dem, was auch immer ihm in seiner Jugend widerfahren war und dafür gesorgt hatte, dass er aus seiner Heimat aufs offene Meer geflüchtet war.
Eine volle Ladung des besten Opiums von den Mohnblumenfeldern der Provinz Sichuan, gebündelt für die Räucherhöhlen von Magna Britannia, befand sich im Bauch des Schiffes. Engelhard brauchte eine Crew, auf die er sich blind verlassen konnte. Er kannte die Risiken solcher Unternehmungen gut genug. Die Risiken, die man für einen gesteigerten Profit und die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben auf sich nahm – für willige Ladys und eine nie versiegende Menge Rum. Deshalb brauchte er Männer, die nicht zu zittern anfingen, sobald sie einem Beamten der königlichen Finanzbehörden gegenüberstanden. Auch das Risiko, auf einen Konkurrenten auf hoher See zu treffen, war jederzeit gegeben; ein anderer Captain, der mit einer Lieferung Opium für den Westen das große Ding drehen wollte.
Seit jeher gab es alte Seefahrerlegenden über diese Gewässer. Die meisten handelten vom mysteriösen Verschwinden verschiedener Schiffe während der letzten Jahrhunderte. Es wurde behauptet, dass die unergründlichen Tiefen des südchinesischen Meeres zu den tiefsten Tiefen der Welt gehörten. Der Boden des Ozeans sei angeblich so zerklüftet, dass niemand – noch nicht einmal unbemannte Sonden – jemals in der Lage sein würden, den endgültigen Grund zu erreichen. Und wenn man die bekannten Monster in der Weite des Meeres berücksichtigte, traute man sich gar nicht erst zu fragen, was in diesen zerklüfteten Tiefen hausen mochte.
Allerdings gab es solche Geschichten über jedes Meer der Welt. Geschichten, die das Unerklärliche erklären wollten. Gerüchte über Killerwellen und das spurlose Verschwinden von Schiffen wurden besonders gern von Sklavenhändlern in die unterschiedlichsten Winkel der Welt getragen. Die Tatsache, dass sich die Berichte über das unerklärliche Verschwinden von Schiffen in den letzten Jahren vervielfacht hatten, bedeutete für Captain Engelhard nichts anderes, als das der Opiumhandel und der Wettbewerb zwischen den entsprechenden Captains mit ihren Mannschaften vermehrt einen tödlichen Ausgang gefunden hatte.
Nicht, dass Engelhard häufig im Wettbewerb zu einer anderen Mannschaft stand. Dafür war er zu umsichtig. Außerdem hatte er in Vorsichtsmaßnahmen investiert. Eine davon war die alte Walkanone, welche am Bug des Schiffes befestigt war.
Trotz der feucht-kalten Gischt und des kühlen Windes war es in der Kabine ungemütlich warm, dank der überschüssigen Hitze des verrauchten Maschinenraums darunter. Die Luft war dick und voll vom Aroma des Opiums. Die Stahlhülle des Dampfschiffes schlug erneut lautstark gegen die schwarze Wand des Wassers. Das Schiff kämpfte sich durch und schon hob sich der Bug wieder, während die Welle in einem Vorhang aus weißem Schaum zerbarst. Wasser prasselte auf die verschmierte Glasscheibe vor Engelhard und wurde vom Wind davongetrieben. Die Venture senkte sich erneut in das nächste Wellental hinein.
Die Kraft einer Kollision stoppte das Schiff abrupt in seinen Bewegungen. Der heftige Aufprall krachte durch jedes Deck und jede Kabine des alten Dampfschiffes. Das Schiff bockte und Engelhard flog über das Steuerrad genau gegen die Glasscheibe. Das Steuerrad schlug ihm in den Magen und presste ihm die Luft aus der Lunge. Engelhard keuchte und fluchte.
Das wogende Meer zerrte an der Venture, doch aufgrund seiner Erfahrung eines Lebens auf dem Meer wusste Engelhard, dass das Schiff nirgendwo mehr hinfahren würde. Unglaublicherweise war es irgendwie komplett zum Halten gekommen! Das normale Heben und Senken des Schiffes auf dem Meer, welches es wie einen Korken schwimmen lassen sollte, war kaum noch zu spüren.
Tausende Gedanken rasten durch seinen Kopf. Was hatten sie gerammt? Er hatte doch draußen nichts entdecken können. Die Instrumente der Venture hatten auch nicht vor einem anderen Schiff auf Kollisionskurs gewarnt. Was könnte ein Dampfschiff zu solch einem abrupten Halt zwingen, weit entfernt vom Land und mit nichts als der Tiefe des Marianengrabens unter sich? Waren sie mit einem Unterseeboot kollidiert? Doch wäre das der Fall, wie war dann der komplette Stopp des Schiffes zu erklären? Die Maschinen arbeiteten gleichmäßig weiter, die Schiffsschraube drehte sich und doch bewegte sich das Schiff keinen Millimeter. Es war fast, als wären sie auf Grund gelaufen, was hier draußen jedoch vollkommen unmöglich war.
Die Kabine füllte sich mit der aufgeregten Mannschaft. Alle kamen herauf, um zu erfahren, was geschehen war.
»Was war das, Captain?«, fragte Hayes.
Das Schiff schwankte erneut und Engelhard griff nach dem Steuerrad, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Andere Männer griffen nach Handläufen oder fielen auf dem Kabinenboden auf die Knie.
»Wir sitzen irgendwo drauf«, zischte er. »Mr. Hayes, übernehmen Sie das Steuer!«
Engelhard lief aus der Kabine. Die Hälfte seiner Crew folgte ihm. Er schaute über die Reling, dabei hielt er sich an der Walkanone fest. Zuerst sah er lediglich schwarzes Wasser und weißen Schaum, welcher gegen die Hülle des Schiffes schlug. Doch dann erblickte er es! Irgendetwas Graues und Unklares. Eine pockennarbige Fläche unter dem Schiff, in welcher sich der Kiel verfangen hatte. Etwas Gewaltiges!
Das Schiff hob sich plötzlich gefährlich nach Backbord. Der Captain und seine Männer wurden zurück in Richtung der Kabine geschleudert und krachten gegen die Wand. Engelhard zog sich zurück an die Reling und sah, wie der graue Schatten langsam unter dem Schiff vorbeiglitt.
Dann setzte sich die Venture ebenfalls in Bewegung. Hayes verkrampfte, als sich das Steuerrad mit einem Mal bewegte und er versuchte, das torkelnde Dampfschiff wieder auf den alten Kurs zu bringen. Was immer dieses Ding gewesen war, es entfernte sich nun von dem Schiff. Captain Engelhard starrte auf den großen stromlinienförmigen Schatten, als dieser unter den Wellen davon glitt. Der Dampfer nahm wieder Fahrt auf, als wenn nichts geschehen wäre. Das war mal eine Geschichte, die er nach seiner Rückkehr nach Plymouth im The Smuggler's Rest von sich geben konnte.
Sein Blick verblieb nach wie vor auf dem … was immer es war … und Engelhards verwundertes Gehirn benötigte etwas länger, bis er realisierte, dass das Ding gewendet hatte und nun erneut auf die Venture zusteuerte. Die große Gestalt erhob sich aus den stygischen