Der Sozialismus einst und jetzt Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart. Bernstein Eduard
Geschichtschreiber der Verschwörung. Es ist das aber der Ausfluß einer ganz naiven Auffassung. Sie hatte gar keine Aussichten des Erfolges für sich. Die Form der Organisation war eine solche, daß sie über die Möglichkeiten täuschen konnte; aber beim ersten Versuch, den ausgeklügelten Plan in die Praxis umzusetzen, schlug er ganz jämmerlich fehl. Das hat indes natürlich noch nichts zu tun mit der Würdigung der dem Kommunismus Babeufs zugrunde liegenden Idee. Babeuf hat sie in verschiedenen Artikeln seiner Zeitschrift entwickelt, und in einem seiner berühmten Artikel, der im „Volkstribun“ vom 30. November 1795 erschien, wird die absolute Gleichheit kategorisch als Naturrecht aufgestellt. Es heißt da:
„Wir haben den Satz aufgestellt, daß die volle Gleichheit ein natürliches Recht ist, und daß der gesellschaftliche Vertrag (die Idee des „Contrat social“, die von Rousseau aufgestellt war und eine so große Rolle in der Französischen Revolution gespielt hat), weit entfernt, dieses Naturrecht zu beeinträchtigen, lediglich jedem einzelnen die Garantie gewähren wird,“ usw. usw.
Später finden wir im April 1796 im Manifest der Gleichen, das von Sylvain Maréchal verfaßt war und den wunderlichen Satz enthält: „Möge alle Kultur zugrunde gehen, wenn nur die Gleichheit hergestellt ist“, als Einleitung den Satz:
„Die Gleichheit, der erste Wunsch der Natur ...“
Die Natur hat also nicht nur einen Willen, sondern auch Wünsche. In einem andern Manifest, das die Erklärung der Lehren Gracchus Babeufs gibt, lautet der erste Satz:
„Die Natur hat allen Menschen ein gleiches Recht auf den Genuß aller Güter gegeben.“
Aber die Natur ist nicht imstande, dieses Recht selbst zu verwirklichen. Daher lautet der zweite Satz:
„Der Zweck der Gesellschaft ist es, diese Gleichheit, die im rohen Naturzustande oft durch die Starken und Schwachen gefährdet wird, zu verteidigen und durch tätige Mitwirkung aller die gemeinsamen Lebensgenüsse zu vermehren.“
Und der dritte Satz sagt:
„Die Natur hat jedem die Pflicht zur Arbeit auferlegt. Keiner hat sich ohne Verbrechen je dieser Pflicht entziehen können.“
Von neuem wird die Natur angerufen, die Natur mit ihrem Willen. Zu erwähnen ist noch der Satz Nr. 10:
„Zweck der Revolution ist die Beseitigung der Ungleichheit und die Wiederherstellung des allgemeinen Wohlstandes.“
Alles wird zurückgeführt auf den Willen und die Absichten der Natur und einen vorgestellten Naturzustand, auf dem allgemeiner Wohlstand geherrscht habe. In bezug auf letzteren verrät aber Babeuf doch schon Zweifel, wenn er sagt, im rohen Naturzustande haben Schwache und Starke die natürliche Gleichheit gefährdet.
Die Verschwörung der Gleichen war die letzte große Regung in der Französischen Revolution, die ausging vom Naturrecht. Es finden nach ihr noch kleinere Aufstände und Attentate demokratisch gesinnter Elemente statt, aber die Bewegung selbst geht rückläufig. Auf die Epoche des Direktoriums folgt die des Konsulats, und dann führen die imperialistischen Kriege Bonapartes – die ersten Jakobinerkriege waren ja Verteidigungskriege – dazu, daß Verteidigungskrieg und Eroberungskrieg sich vermischten, daß Kriege, die in der Vorstellung der Nation der Befreiung galten, zu neuer Beherrschung führten. Erst gegen Ende der Restauration, zwei Jahre bevor im Juli 1830 auch die Legitimisten gestürzt waren, veröffentlichte Buonarotti in Brüssel die Geschichte der Verschwörung der Gleichen, die einen sehr tiefen Eindruck machte und bald neue Verschwörungen von Sozialisten zur Folge hatte. Buonarotti war ohnehin Carbonari, und unter seinem Einfluß entstand eine Verschwörersekte, die den Namen „die Babouvisten“ bekam und deren Anhänger sich später „Partei der Blanquisten“ nannten, nach ihrem hervorragenden Führer Auguste Blanqui. Neben dieser Bewegung zeitigte der sozialistische Gedanke eine Reihe Abarten in Frankreich, und man kann sagen, daß der ganze französische Sozialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn man ihn schärfer untersucht, zuletzt naturrechtlich begründet ist. Das ist z. B. auch der Fall bei Charles Fourier, dessen Lehre im Grundgedanken zurückgeht auf Morelly, der, wie wir gesehen haben, Naturanlagen maßgebend sein läßt für die Struktur des sozialistischen Systems. Bei Morelly schon findet man den Gedanken, daß die natürlichen Anlagen und Neigungen die Möglichkeit geben, einen Gesellschaftszustand zu errichten, der auf voller Freiheit und Gleichheit beruht. Alle natürlichen Neigungen und Leidenschaften seien von Hause aus berechtigt und keine Laster, sofern man ihnen nur die Möglichkeit gebe, sich richtig zu betätigen. Fourier läßt auch Neigungen als gleichberechtigt gelten, die gemeinhin für unschön erachtet werden, so die Abwechslungssucht, den Ehrgeiz, die Streitsucht usw., und hat ein ganzes System aufgestellt, wie diese Neigungen zum Besten der Gesellschaft geleitet werden können. Er hat nach Newton ein zweites Gesetz der Attraktion zu formulieren geglaubt.
Auch in anderen Ländern, auch in Deutschland, finden wir die Gleichheitsidee in den verschiedensten Formen von Sozialisten verfochten und naturrechtlich begründet, in England bei Robert Owen und seiner Schule, in Deutschland beim „Bund der Gerechten“ und dessen zeitweise hauptsächlichsten Vertreter Wilhelm Weitling, dessen Buch „Garantien der Harmonie und Freiheit“ in hohem Grade beruht auf babouvistischen Ideen, die er in Paris kennengelernt hatte. Dadurch aber, daß diese Systeme, soviel richtige Gedanken sie sonst enthalten, sich bewußt oder unbewußt auf die naturrechtliche Betrachtungsweise stützen, sind sie doch ihrem Wesen nach utopistisch. Denn es wird bei ihnen vergessen, daß der Mensch nicht nur ein Produkt der Natur, sondern im Laufe der Zeit auch ein Produkt der Geschichte und der gesellschaftlichen Zustände geworden ist, die in ihm vielfach erst Neigungen und Bedürfnisse entwickelt haben, die er von Natur aus nicht hat. Als Produkte der Natur haben alle Menschen allerdings gewisse gleiche Bedürfnisse mit auf den Weg bekommen. Alle Menschen haben von Natur aus gleichermaßen, wenn auch nicht in gleicher Beschaffenheit Nahrungsbedürfnisse, das Bedürfnis nach Obdach usw.; eine Reihe grober Bedürfnisse sind allen gemeinsam. Aber wenn man eine Gesellschaft konstruieren will von Menschen, die man vorfindet, dann muß man auch prüfen: was sind ihre sozialen, ihre geschichtlich gewordenen Bedürfnisse, welche Zustände hat die geschichtliche Entwicklung geschaffen, und was ist unter diesen Verhältnissen zu ändern notwendig und möglich?
Mit diesem Einwand soll nun durchaus nicht etwa die Bedeutung naturrechtlicher oder vernunftrechtlicher Erwägungen irgendwie unterschätzt und herabgesetzt werden. Wollte man das tun, so liefe es darauf hinaus, das sogenannte positive Recht, die geschichtlichen Zustände, die in einer Epoche eingetreten sind und sich fortgepflanzt haben, schon bloß weil sie geschichtlich sind, für gut erklären und ihnen eine Ewigkeitsdauer, eine Art Heiligkeit zusprechen. Das würde natürlich vollständig falsch sein. Die Idee eines Naturrechts hat in der Geschichte und Wissenschaft zu den verschiedenen Zeiten eine ungeheuer große Bedeutung gehabt.
Die Idee eines Rechtes, das über dem geschriebenen Recht steht, das unabhängig ist von gegebener geschichtlicher Entwicklung und positiven Machtverhältnissen, war unter Umständen der Protest des vorwärtsstrebenden Geistes gegen die Fortdauer überlebter, Unrecht gewordener Einrichtungen, Zustände und Anschauungen, sie war die Auflehnung sozusagen des jeweiligen Zeitgeistes gegen die Herrschaft der Tradition, gegen die Herrschaft des Unrecht gewordenen Rechtes, der Gedanke an sie die Zuflucht der jeweilig Unterdrückten und in der Gesellschaft Zurückgesetzten. Es fällt mir also gar nicht ein, etwa zu bestreiten, daß das Nachdenken über eine Rechtstheorie, die höher steht als das geschichtlich gewordene positive Recht, seine Berechtigung habe. Die rechtstheoretische Betrachtung, die Forschung nach einem richtigen Recht, wie man es nun nennt, ist ein sehr bedeutsames Streben, das durch die ganze Geschichte namentlich der liberalen Rechtsschule geht, wobei ich das Wort „liberal“ hier nicht im Parteisinne, sondern im weiten geschichtlichen Sinne anwende, als den großen Freiheitsgedanken, der in der Französischen Revolution seine rechtliche Formulierung gefunden hat und in sich die Grundidee aller Fortschrittsbewegungen einschließt, die sich weiterhin im Laufe der Geschichte vollziehen, nämlich das Recht des werdenden Neuen gegen das überlebte Alte. Der Gedanke dieses Rechts ist der liberale Rechtsgedanke – nicht im Parteisinne, sondern im großen geschichtlichen Sinne. Man kann ihn auch den revolutionären Rechtsgedanken nennen.
Es gibt eine ganze Literatur des Vernunftrechts.