Im Sonnenwinkel Staffel 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
erklärte Anschi. »Mach es doch auf.«
»Wenn du es sagst. Hat er dir auch geschrieben, dass er mich mitnehmen will?«
»Nein, davon hat er nichts geschrieben.«
»Die Blumen sind sehr schön«, meinte Sabine.
Anschi war in einer seltsamen Stimmung. Sie überlegte intensiv, ob das Kind von ihr wohl erwartete, dass sie gegen Otto Behrend Stellung beziehen würde.
»Bambi hat gesagt, dass der Opa um die siebzig sein muss«, erzählte Sabine. »Sie findet ihn nett.«
Ihre Blicke tauchten ineinander, fragend, forschend und ein wenig unsicher.
»Warum schickt er uns was, wo wir doch nicht nett zu ihm waren«, flüsterte Sabine. »Warum hat er uns eingeladen, Anschi?«
»Er will an seinem siebzigsten Geburtstag sicher nicht allein sein.«
Sabine nickte und begann, die Schnur des Paketes aufzuknüpfen. Es waren viele kleine Päckchen darin. Bücher, ein Puzzlespiel, ein Malkasten, Buntstifte und ein Etui mit Füllhalter und Kugelschreiber. Alles hübsch verpackt, und es dauerte eine ganze Zeit, bis Sabine ihre Schätze vor sich ausgebreitet hatte.
»Es ist sehr viel«, bemerkte sie scheu. »Es sind schöne Sachen.«
»Er möchte dir eine Freude machen«, äußerte Anschi beklommen.
Sabine saß da und blickte vor sich hin.
»Ich wusste doch nicht, dass er wirklich mein Opa ist«, sagte sie flüsternd.
*
Stefan kam um eine ganze Stunde später, aber in einer richtig aufgekratzten Stimmung nach Hause.
»Nanu! Hast du einen heimlichen Verehrer?«, fragte er, als sein Blick auf die Blumenschale fiel.
»Herr Behrend hat sie geschickt«, erklärte Anschi verlegen.
»Soso, der Herr Behrend!«, lächelte er.
Anschi sah ihn irritiert an. Was hatte Stefan nur? Er war keine Spur befremdet und nahm es ganz selbstverständlich hin.
»Sabine hat von ihm auch ein Paket bekommen«, erzählte sie. »Er scheint gar nicht nach Köln zurückgefahren zu sein. Da, lies mal, Stefan.«
Sie reichte ihm die Einladung, die er nur flüchtig überflog.
»Da können wir ja schlecht nein sagen«, äußerte er beiläufig. »Kriege ich heute nichts zu essen?«
Sehr merkwürdig erschien ihr sein Benehmen. Sie ging in die Küche und hörte, wie er die Treppe hinaufstieg. Unwillkürlich lauschte sie.
»Na, du hast aber schöne Sachen bekommen, Binchen«, hörte sie ihn sagen. »Und gemalt hast du ja auch schon.«
»Ich kann es aber nicht gut«, erwiderte Sabine.
»Oh, ich finde das Bild sehr hübsch. Willst du es dem Opa zum Geburtstag schenken?«
»Meinst du, dass es ihm gefällt, Stefan?«
»Davon bin ich überzeugt.«
Stefan wird es dulden, dass Sabine uns weggenommen wird, dachte Anschi bekümmert. Er scheint schon jetzt damit einverstanden zu sein. Wie leicht er das hinnahm. Dachte er denn gar nicht mehr daran, was er ihr versprochen hatte?
Stumm saß sie bei Tisch, und Sabine war heute auch nicht redselig. Stefans Bemühungen, sie in eine frohere Stimmung zu versetzen, waren vergeblich.
Anschi blieb an diesem Abend nicht lange bei Sabine. Mit einem trotzigen Ausdruck setzte sie sich zu Stefan, der den Fernsehapparat angestellt hatte, um die Tagesschau zu sehen.
»Dir macht es wohl gar nichts aus, Stefan?«, fragte sie.
»Was?«
»Dass Herr Behrend sich so in Erinnerung bringt.«
»Man musste damit rechnen. Ich finde es allerdings recht hübsch, wie er sich in Erinnerung gebracht hat. Wir müssen uns überlegen, was wir ihm zum Geburtstag schenken.«
»Ich habe mir überlegt, dass es besser ist, wenn ich mit Sabine zu meinen Eltern fahre.«
»So, das hast du dir überlegt. Du wirst sie nicht antreffen, mein Liebling. Sie werden dann nämlich hier sein, um den Geburtstag mitzufeiern.«
Anschi richtete sich steil auf.
»Sag mal, hast du was getrunken?«, fragte sie atemlos.
»Wie werde ich denn, Schätzchen! Ich kann doch meine Stellung nicht aufs Spiel setzen, wo ich für eine ganze Familie zu sorgen habe.«
»Du redest so komisch, und du bist überhaupt komisch!«, begehrte Anschi auf. »Wir haben ernste Probleme zu erörtern!«
»So groß brauchen die Probleme gar nicht zu sein, Anschi. Wir werden sie in einer hübschen Familienfeier zu Opas siebzigstem Geburtstag bereinigen.«
»Du tust, als würde er zur Familie gehören«, flüsterte sie.
»Ist es nicht so? Zumindest müssen wir ihm doch zubilligen, dass er Sabines einziger richtiger Verwandter ist. Sei mal ehrlich, ist dir nicht auch ein bisschen ungemütlich gewesen bei dem Gedanken, dass wir ihn einfach abschieben wollten?«
»Mir ist immer noch ungemütlich«, gab sie zu.
»Na, siehst du! Ich glaube, wir werden bei dieser Geburtstagsfeier eine ziemliche Überraschung erleben.«
»Du weißt etwas! Du verschweigst mir etwas!«
»Ich weiß, dass der Opa Hohenborn gar nicht verlassen hat«, erklärte er ausweichend.
»Hast du ihn getroffen? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Hör mal, Anschi, da ist schon wieder ein Flugzeug abgestürzt«, sagte Stefan, auf die Stimme des Nachrichtensprechers lauschend. »Wie schnell kann etwas passieren, was endgültige Trennungsstriche setzt. Ein Mann hat seinen Sohn verloren, und er quält sich mit dem Gedanken, warum er so wenig von ihm wusste. Er fragt sich, was er versäumt hat, dass er nichts von der Frau erfuhr, die er liebte, nichts von der Existenz seines Enkelkindes. Er ist alt geworden, und vielleicht bleiben ihm nur noch ein paar Jahre. Willst du, dass er keine Ruhe mehr findet? Willst du ihm ein bisschen Glück versagen, Anschi? Nur ein bisschen, denn viel beansprucht er nicht. Überleg dir einmal alles genau.«
»Wie viel weißt du über ihn, Stefan?«, fragte sie nach einem langen Schweigen.
»Eine ganze Menge, aber bald wird der Tag kommen, an dem auch du erfahren wirst, wie er wirklich ist, dieser Otto Behrend. Denk daran, dass er uns Sabine hätte wegnehmen können, ohne dass uns auch nur die geringste Möglichkeit geblieben wäre, etwas dagegen zu unternehmen. Er hat es nicht getan. Er weiß nicht, wie er uns zeigen soll, was ihn bewegt. Er schickt dir Blumen und Sabine Geschenke, und wahrscheinlich hat er jetzt schreckliche Angst, dass beides in die Ecke gestellt und nicht beachtet werden könnte.
Wahrscheinlich hat er auch Angst, dass er an seinem Geburtstag allein an einem festlich gedeckten Tisch im Seeblick sitzt. Nein, nicht ganz allein, denn die Auerbachs werden ihn auch diesmal nicht im Stich lassen, aber er wird fürchten, dass die ausbleiben, auf die es ihm ankommt.«
»Und dann würde er uns Sabine mit Gewalt wegnehmen, meinst du?«
»Nein. Er würde gehen. Er würde mit dem Gedanken gehen, dass dies die Strafe dafür sei, dass er versagt hat. Das meine ich.«
Anschi legte die Hände vor ihr Gesicht.
»Du kannst ihm sagen, dass wir kommen werden«, flüsterte sie.
»Ich kann ihn nicht erreichen. Er ist jetzt nicht in Hohenborn. Ich habe es von Dr. Rückert erfahren, dass er erst an seinem Geburtstag wieder hier sein wird.«
*
Sabine schrak in der Nacht aus einem Traum empor. Es war ihr, als hätte eine Stimme ihren Namen gerufen, aber es war still und dunkel um sie.