Das große Jagen. Ludwig Ganghofer

Das große Jagen - Ludwig  Ganghofer


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Gewimmel zu und konnte beim Schauen seine Gedanken wandern lassen. Sie gingen auch heute den gleichen Weg, wie seit der Schneezeit an jedem Wintermorgen. ‚Der Kirchgang ist lang vorbei. Jetzt muß sie schon wieder daheim sein.‘ Er hat sie noch nie im Haus und bei der Arbeit gesehen; und hätte sich das gerne ausgedacht; doch immer sieht er sie mit dem Federhütl und in dem dunkelgrünen Mantel, aus dem die Rosenkranzperlen hervorgucken. Ihre Augen sind gesenkt. Leupolt sieht in dem feinen Gesichtl nur den roten Mund, das zarte Näschen, die weißen Lider und die Sicheln der Wimpern. Und wenn sie die Augen hebt, so sieht er den Zorn in ihnen funkeln, die Verdammung des Unsichtbaren. Wie wunderlich das ist: so oft er sie in Wirklichkeit so gesehen hat, war's immer ein Schmerz für ihn, eine quälende Hoffnungslosigkeit. Und hier, im weißen Wald, bei diesem stillen Träumen wird alles für ihn zu einem frohen und zärtlichen Glück.

      ‚Ob sie nit spüren muß, wie oft ich denk an sie? Bei Tag und Nacht!‘ Mit dürstender Sehnsucht ist die Frage in seinem Herzen: ‚Denkt sie wohl auch an mich?‘ Ob sie nicht betet für ihn? Für seine Seele, die sie für eine verlorene hält? Gibt es Frömmigkeit, die nicht barmherzig wäre? Frömmigkeit, die nicht beten müßte für jeden, den sie für einen Irrenden hält? Und wenn sie hinaufruft zu einem ihrer vielen Heiligen? Flüstert sie da nicht manchmal ein leises »Bitt für ihn?« Wie eine Süßigkeit klingt es in seinem Ohr, in seiner Seele: »Bitt für ihn – bitt für ihn –« Dabei sieht er sie in der kalten Kirche knien, ein bißchen frierend, mit dem braunen Hütl über dem schönen Haar, in dem dunkelgrünen Mantel, aus dem die Fingerspitzen der gefalteten Hände hervorlugen.

      Tausend Gedanken denkt die Menschenseele in jeder Stunde. Einer ist halbe Wahrheit. Die anderen sind Irrtum.

       Inhaltsverzeichnis

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      Pfarrer Ludwig mußte im Korridor vor dem Fürstenzimmer noch immer auf seine Vorlassung warten, weil der Haarkräusler beim Allergnädigsten war. Die hundert Locken einer fürstlichen Perücke verlangen ihre Zeit. In einer hohen Fensternische an den Kreuzstock gelehnt, zeigte der Hochwürdige ein ruhiges Gesicht. Je heißer in ihm die Sorge wühlte, um so gleichmütiger sah er über die Wände hin, an denen zwischen Hirschgeweihen, Heiligenbildern, großen Jagdgemälden und pröpstlichen Bildnissen zwei weltgeschichtliche Kriegstrophäen hingen: die Eisenhüte, Brustpanzer, Schwerter, Terzerole und Schärpen zweier schwedischer Kürassiere. Was da rostend und verstaubt an der Mauer hing, das war fast die einzige Welle gewesen, die der dreißigjährige Krieg aus dem verwüsteten Deutschen Reich hereingespült hatte in die Stille des Berchtesgadnischen Landes.

      Blut, Hunger, Verarmung, Seuchen und Brandschatzung; die Hälfte der Deutschen erschlagen, versunken und verfault; Handel und Wohlstand vernichtet; alle Bande des Reiches gelockert und zerfetzt; eine Kluft des Mißtrauens und des Hasses zwischen Nord und Süd; ein für ewige Zeiten unlösbar erscheinender Zwiespalt zwischen deutschem Katholizismus und deutschem Lutheranertum; ein entzweigekeiltes, an Sitte und Leben verpestetes, in hilflose Fetzen zerfallenes Volk, das seine nationale Erneuerung wieder beginnen mußte, wie ein Kind nach dem Windelschmutze seine Menschwerdung anfängt in den ersten Schuhen – und als einziges Erinnerungszeichen dieses grauenvollen Geschehens hingen im Fürstenkorridor zu Berchtesgaden zwei schwedische Kürasse. Die hatte man in der Ramsau zwei verirrten und von den Bauern erschlagenen Botschaftsreitern vom blutenden Leib geschält.

      Nur ein einzigesmal in jenen dreißig Jahren hatte Berchtesgaden für wenige Winterwochen eine Einquartierung erlebt. Während die deutsche Welt in Jammer und Elend sank, hätte das ‚Ländl‘ in seiner Abgeschlossenheit gedeihen können, wenn ihm, angesteckt durch Seuchenkeime der Zeit, die Zermürbung nicht im kleinen erwachsen wäre, wie draußen dem Volk der Deutschen im großen.

      Aus dem Fürstenzimmer huschte ein spitznäsiges Männchen heraus, der Perückenmeister, den man aus Paris verschrieben hatte. Ein deutscher Bartscheer brachte doch so was Himmlisches nicht fertig, wie es jetzt die Herren auf ihren Köpfen trugen. Pfarrer Ludwig tat einen tiefen Atemzug und ging zur Tür. Bevor er sie erreichte, vollzog sich ein Ereignis, das störend in den Gang der Berchtesgadnischen Regierung eingriff. Am Pfarrer rannte einer vorüber und ihm voraus, der auf der Schwelle des Fürstenzimmers den Vortritt sogar vor den fremden Gesandten hatte. Der Wildmeister. Er brachte die aufregende Nachricht, daß die Stiftsjägerei bei den Untersteiner Sümpfen drei kapitale hauende Schweine bestätigt hatte. Die Keiler lagen unentrinnbar fest, und die Netze waren schon gezogen, nicht zu einem ‚Großen Jagen‘, nur zu einem kleinen ‚Eingestellten Treiben‘, das flink zu erledigen war. Bei solcher Sachlage hatten die Wildschweine den Vorrang vor dem Landswohl und der Fürsorge für den unverfälschten Glauben. In den Korridoren sprangen Lakaien und Jägerknechte hin und her, im Stiftshofe wurden vier zierliche Schlitten aus den Remisen gezogen, und zwei buntgekleidete Läufer, mit weißen Straußenfedern auf den grünen Samtkappen, surrten unter dem Brausen des Föhnwindes durch die Marktgasse, um die edle Aurore de Neuenstein und den Kanzler von Grusdorf zum Eingestellten Treiben zu laden. Der Onkel Kanzler mußte zur Wahrung der guten Sitte immer den Regierungstisch verlassen, wenn die allergnädigste Nichte sich beteiligte an den winterlichen Weidmannsfreuden ihres maître adoré.

      Pfarrer Ludwig, der sonst auf das neumodische Jagdgepränge nicht gut zu sprechen war, segnete an diesem Tag zum erstenmal den ‚französischen Schwindel‘. Aufatmend um des Zeitgewinnes willen, eilte er heim und brüllte der Schwester ins Ohr: »Kommt der Niklaus, so sag ihm, daß ich vorausgegangen bin zu seinem Haus!« Dann schoß er davon, um zwei nötige Dinge zu erledigen. Er mußte das fromme Klostervögelchen zum Singen bereden, mußte zu erfragen suchen, was Luisa dem Chorkaplan Jesunder gesagt hatte. Und mit Lewitter, den er seit dem gestörten Schachspielabend nicht mehr gesehen, mußte er das gemeinsame Verhalten vor dem Fürsten bereden. Ungeduldig trommelte er mit dem Klöppel an Lewitters Haustür. In dem dunklen Flur, in dem die Gewürze dufteten, kam für den Pfarrer eine schwierige Unterhaltung mit der alten Lena, deren Zeichensprache er nur halb verstand. »Gut sind wir aufgerichtet, der Simmi und ich! Die meine hört nit, und die seine kann nit reden!« Dem wahren Gott zuliebe hatte man der Magd vor fünfzehn Jahren in Salzburg die Zunge kürzer gemacht, weil sie die Obrigkeit belogen hatte, um Weib und Kinder ihres Herrn zu retten. Nur mit den Händen konnte sie noch reden.

      Ungefähr verstand der Pfarrer, daß Simeon nicht daheim wäre; man hätte ihn am verwichenen Abend wieder zu einem kranken Weib geholt, das seit drei Tagen in den Wehen läge und nicht gebären könne; Lewitter wäre wieder die ganze Nacht außer Haus gewesen und auch am Morgen nicht heimgekommen. »Ach, das Leben! Könnt ein Gärtl des lieben Gottes sein und wird ein Saustall des Teufels! Und da plagt sich jetzt der hilfreiche Simmi, um einem neuen Leidgesellen der Menschheit den Eintritt ins Leben zu erleichtern!« Den Kopf gegen den Südwind bohrend, eilte Pfarrer Ludwig dem Haus des Freundes entgegen, immer grübelnd: »Wie muß ich es machen, daß ich das Mädel zu Verstand bring? Zu einem Herzschlag, der menschlich ist?«

      Ein Weiberschrei voll Sorge machte ihn aufblicken. Vom Zauntor kaum die Sus gelaufen: »Wo bleibt der Meister? Ist was geschehen?«

      »Nichts, gute Sus! Wo ist das Luisichen?«

      »Die Haustochter hab ich nimmer gesehen, seit sie heimgekommen ist von der Frühmeß. Der Meister ist ganz von Sinnen gewesen. Und da bin ich allweil beim Zaun gestanden, hab gewartet und bin nur ein paarmal hineingesprungen zum Herd, daß mir das Fleisch nit aus dem Sieden kommt.«

      »Recht so, liebe Sus! Dein Herr und dein Herd!« Der Pfarrer sagte scherzend: »Gelt, Mädel? Dich plagen keine Seelenzweifel und Glaubenskämpf?«

      »Mich nit!« antwortete sie ehrlich. »Ob des lieben Herrgotts Kittel grün oder rot ist, das ist mir eins. Kittel her oder hin, der Herrgott ist drin. Mir ist das Leben recht, so lang der Meister seine Ruh hat und schaffen kann. Und weil man schon nimmer weiß, wie man beten muß, drum bet ich am Morgen katholisch, am Abend evangelisch. Eins muß dem Meister allweil nutzen.«

      »Betest du nit auch für dich?«


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