Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


Скачать книгу
Therese wie eine alte Freundin, und ohne auch nur fragen zu müssen, erfuhr Therese allerlei aus ihrem Leben, unter anderm, daß sie an einer Operettenbühne für ältere Rollen engagiert sei, wo sie zufällig gerade in diesen Wochen unbeschäftigt sei, daß sie dreimal Mutter gewesen war und alle ihre Kinder sich am Leben, jedoch in der Fremde befanden. Ob sie jemals verheiratet gewesen, ob die Kinder alle von demselben Vater stammten, davon sprach sie nichts, so wenig es Theresen einfiel, von dem Vater ihres eigenen Kindes und den Begleitumständen ihres traurigen Abenteuers zu erzählen; und soviel auch von Mutterschaft und Mutterglück die Rede war, von Liebesglück und -leid hatten die beiden Frauen einander so wenig mitzuteilen, als hätten diese Dinge mit Mutterleid und Mutterglück überhaupt nicht das geringste zu tun. Der Arzt erschien noch etliche Male zu eher freundschaftlichen Besuchen; es stellte sich heraus, daß er Theaterarzt war und mit Frau Nebling auf gutem Fuße stand; gelegentlich erzählte er mit einem gewissen trockenen Humor spaßhafte Geschichten aus seiner Welt, Anekdoten, auch Zweideutigkeiten, die ihm Therese nicht übel nahm. Ein anderer Besuch stellte sich gleichfalls öfters ein: der einer jungen Frau, die im gleichen Hause wohnte; die kinderlose Gattin eines kleinen Angestellten, der den ganzen Tag auswärts im Amte war. Sie saß am Bette Theresens und starrte mit feuchten Augen auf den Buben, den die Wöchnerin an der Brust liegen hatte.

      146 Nach einer Woche besann sich Therese, daß es nun wohl an der Zeit sei, sich um die Zukunft zu kümmern, und es zeigte sich, daß Frau Nebling auch in dieser Hinsicht nicht untätig gewesen war. Eines Tages meldete sich eine wohlgenährte ländlich gekleidete Frau, die sich bereit erklärte, das Kind gegen einen verhältnismäßig geringen Monatsbetrag in Pflege zu nehmen. Ihr eigenes Kind, ein achtjähriges Mädchen, Agnes, hatte sie mitgebracht, das vertrauenerweckend rotbäckig aussah und unmerklich schielte. Sie hatte schon öfters Kinder in Pflege gehabt, erzählte sie. Das letzte sei erst kürzlich aus ihrem Hause geschieden, da die Eltern geheiratet und das Kleine zu sich genommen hätten. Dies erwähnte sie freundlich lächelnd, als müßte es auch für Therese als gute Vorbedeutung gelten. Und ein paar Tage darauf saß Therese, ihren Kleinen im Arm, mit Frau Nebling in einem Einspänner, der sie zum Bahnhof führte. Bald, nachdem sie das Haus verlassen, an einer Straßenecke, überquerte ein Fußgänger die Fahrbahn und warf einen zufälligen Blick in den Wagen. Therese hatte sich schon früher vorsichtshalber unter das aufgespannte Dach gelehnt, doch ein Aufleuchten in dem Blick des Fußgängers verriet ihr, daß er sie gesehen und erkannt hatte, gerade so wie sie ihn. Es war Alfred, dem nach so langer Zeit zum erstenmal und unter solchen Umständen zu begegnen, Therese im tiefsten berührte. Ein Zufall, der ihr nicht unangenehm war, hatte es gefügt, daß in der Sekunde vorher Frau Nebling das Kind für eine Weile aus Theresens Armen in die ihren genommen hatte. »Das war er«, sagte Therese, wie vor sich hin, mit einem glücklichen Lächeln. Frau Nebling beugte sich aus dem Wagen, sah 147 nach rückwärts, wandte sich zurück zu Therese: »Der junge Mensch mit dem grauen Hut?« Therese nickte. »Er steht noch immer da«, sagte Frau Nebling bedeutungsvoll. Und jetzt erst war es Theresen klar, daß nach ihrem Ausruf Frau Nebling den jungen Menschen mit dem grauen Hut wohl für den Vater des Kindes halten mußte. Therese klärte sie nicht auf. Es war ihr eigentlich ganz recht so, und in lächelndem Schweigen verharrte sie bis zum Bahnhof.

       Inhaltsverzeichnis

      Nach einer Fahrt von kaum zwei Stunden im Bummelzug waren sie an ihrem Bestimmungsort angelangt. Die Bäuerin, Frau Leutner, erwartete sie an der Station, und zwischen freundlichen, meist noch unbewohnten kleinen Villen wanderten sie langsam durch den Ort, bis ein schmalerer Seitenweg gelinde aufwärts zu einem von blühenden Obstbäumen umstandenen, nicht unansehnlichen Gehöft führte, von dem aus, trotz der geringen Höhe, sich eine ausgebreitete Rundsicht bot. Das Dorf, zugleich eine bescheidene Sommerfrische, lag ihnen zu Füßen, das Bahngeleise lief ins Weite; die Landstraße verlor sich zwischen Hügeln in den Wald. Hinter dem Gehöft zog sich die Wiese bis an einen nahen Steinbruch, dessen oberer Rand von Sträuchern überwachsen war. In einem reinlich gehaltenen, etwas muffig riechenden niederen Raum setzte die Bäuerin ihren Besuchern Milch, Brot und Butter vor, fing gleich an, sich mit Theresens Kind zu beschäftigen, erklärte weitläufig, wie sie es mit der Ernährung und Pflege halten wolle; dann, während Frau Nebling bei dem Kleinen blieb, wies sie Theresen das Haus in allen 148 seinen Räumen, den Garten, den Hühnerhof, die Scheune. Der Bauer, hochaufgeschossen, gebeugten Ganges, mit hängendem Schnurrbart, kam vom Felde heim, machte nicht viel Worte, betrachtete das Kind mit glasigen Augen, nickte ein paarmal, schüttelte Theresen die Hand und ging wieder. – Agnes, die Achtjährige, kam aus der Schule, schien erfreut, daß wieder ein Kleines im Hause war, nahm es in die Arme, und ihr ganzes Verhalten zeigte, daß auch sie es schon vortrefflich verstand, mit kleinen Kindern umzugehen. Frau Nebling lag indessen auf ihrem Regenmantel unter einem Ahornbaum, der vereinzelt etwas abseits vom Hause stand und an dessen Stamm unter Glas und Rahmen, von einem welken Kranz umgeben, ein Marienbild befestigt war.

      Die Stunden flogen dahin; erst als der Augenblick des Scheidens nahte, kam es Theresen zu Bewußtsein, daß sie nun von ihrem Kind fort sollte, fort mußte und daß ein merkwürdiger und bei allen Sorgen schöner Abschnitt ihres Lebens ein für allemal abgeschlossen war. Auf der Heimfahrt sprach sie kein Wort mit Frau Nebling, und als sie ihr Zimmer wieder betrat, in dem sie noch alles an den Buben erinnerte, war ihr kaum anders zumute, als käme sie von einem Begräbnis nach Hause.

      Das Erwachen am nächsten Morgen war so traurig, daß sie am liebsten gleich wieder nach Enzbach hinausgefahren wäre. Ein plötzlich einbrechender Regenguß hinderte sie daran; auch am nächsten Tage regnete und stürmte es, und am übernächsten erst konnte sie wieder bei ihrem Kinde sein. Es war mildes Frühlingswetter, man saß im Freien unter einem stillen blaßblauen Himmel, der sich in den Augen des Kindes widerspiegelte. 149 Frau Leutner sprach viel mit Therese, über allerlei häusliche und ländliche Angelegenheiten und allerlei Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahre mit ihren Pflegekindern gemacht hatte; der Bauer gesellte sich diesmal für etwas länger zu ihnen, im übrigen verhielt er sich so schweigsam wie das erstemal. Agnes ließ sich nur beim Mittagessen sehen, kümmerte sich heute wenig um das Kind und tollte gleich wieder davon. Therese nahm beruhigter und minder traurig Abschied als das vorige Mal.

       Inhaltsverzeichnis

      Am Abend dieses Tages bemerkte sie zu Frau Nebling, daß es nun hohe Zeit wäre, sich nach einer neuen Stellung umzusehen. Auch darum hatte sich Frau Nebling in ihrer umsichtigen Weise schon gekümmert und hielt eine ganze Anzahl von geeigneten Adressen bereit. Schon am Tage darauf sprach Therese in einigen Häusern vor, hatte am Abend die Wahl zwischen dreien und entschied sich für eines, wo sie nur ein siebenjähriges Mädchen zu betreuen hatte. Der Vater war ein wohlhabender Kaufmann, die Mutter eine gutmütige, etwas phlegmatische Frau, das Kind lenksam und hübsch, und Therese fühlte sich sofort in ihrer neuen Umgebung ausnehmend wohl. Für jeden zweiten Sonntag und für einen Nachmittag in jeder zweiten Woche hatte sie sich Ausgang bedungen, bis tief in den Sommer hinein bereitete man ihr keinerlei Schwierigkeiten, bis am Morgen eines schönen Julisonntags die Mutter aus irgendeinem Grunde Therese ersuchte, für diesmal auf den Urlaub zu verzichten und sich dafür einen beliebigen Tag der kommenden Woche zu wählen. Therese aber hatte 150 sich so unbändig auf das Wiedersehen mit ihrem Kind gefreut, daß sie ganz gegen ihre sonstige Art, unwirsch beinahe, auf ihrem Recht bestand, das ihr schließlich auch zugebilligt wurde; doch blieb ihr nichts übrig, als nach der üblichen Kündigungsfrist das Haus zu verlassen.

      Rasch fand sie eine neue Stellung als Erzieherin im Haus eines Arztes zu zwei Mädchen und einem Knaben. Die beiden Mädchen, zehn und acht Jahre alt, besuchten die Schule, eine Französin und ein Klavierlehrer erteilten häuslichen Unterricht; der sechsjährige Knabe war völlig Theresens Obhut anvertraut. Es war ein musterhafter Haushalt: Wohlhabenheit ohne Überfluß, das beste Verhältnis zwischen den Ehegatten, die Kinder alle gutartig, wohlerzogen; und trotz der angestrengten Tätigkeit, aus der der Arzt immer heimkam, gab es niemals ein Wort der Ungeduld oder gar der Ungüte, nie Übellaune oder gar Zank, wie sie das von so manchen


Скачать книгу