Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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      Was die abendlichen Kunstgenüsse anbelangt, so tat er nun seinem etwas bequemen Geschmack keinen Zwang mehr an. Eines Abends besuchten sie gemeinsam ein Varieté in der Vorstadt, ein Tingeltangel von 336 der geringsten Sorte, wo so Armseliges dargeboten wurde, daß es beinahe schon wie Parodie wirkte. Eine Sängerin trat auf, nahe den Fünfzig, lächerlich geschminkt, in kurzem Tüllröckchen, die mit zerbrochener Stimme ein neckisches Liedchen von einem feschen Leutnant zum besten gab und am Schluß jeder Strophe militärisch salutierte. Ein Clown vollführte Kunststücke, zu denen die kleinen Zauberkästen ausgereicht hätten, die man in Spielwarenhandlungen für Kinder zu kaufen bekam. Ein ältlicher Herr mit Zylinder führte zwei dressierte Pudel vor; ein Tiroler Quartett, bestehend aus einem robusten Mann mit Andreas-Hofer-Bart, einem unnatürlich mageren Greis mit stechenden Augen und zwei dicken, bleichen Bauerndirnen mit Kreuzbandschuhen, sang G’stanzeln und jodelte; eine Akrobatentruppe mit dem Namen »The three Windsors« präsentierte sich: ein dicker Mann in schmutzigem rosa Trikot, der zwei Kinder von ungefähr zehn Jahren mit den Händen in die Höhe stemmte und voltigieren ließ, worauf nach magerem Applaus die drei vortraten und Kußhändchen ins Publikum warfen. Therese wurde immer trauriger, Herr Wohlschein aber schien sich ganz in seinem Element zu fühlen. Es fiel Theresen auf, daß dieses Tingeltangel sich ein kleines Orchester vergönnen konnte, das aus einem Pianino, einer Violine, einem Cello und einer Klarinette bestand. Auf dem Deckel des Klaviers stand ein Glas Bier, das aber nicht für den Spieler allein bestimmt schien. Von Zeit zu Zeit griff auch einer der anderen Musiker darnach und nahm einen Schluck. Eben rauschte ein lächerlicher Papiervorhang herunter oder knitterte vielmehr herab, auf den eine Muse in blauer Gewandung mit purpurrotem 337 Gürtel, eine Lyra im Arm, sowie ein lauschender Hirtenknabe mit Sandalen und einer roten Schwimmhose gemalt war, – als Theresens Auge ganz zufällig dem Bierglas folgte, das sich eben wieder vom Klavier entfernte. Ihr Blick fiel auf die Hand, die das Glas ergriffen hatte, eine magere, etwas behaarte Hand, die aus einem manschettenlosen, grünweiß gestreiften Hemdärmel hervorkam, es war die Hand des Cellisten, der für eine Weile den andern Musikern die Mühe des Musizierens überließ. Er setzte das Glas an die Lippen, trank, und auf seinem grauen Schnurrbart blieb ein wenig Schaum stehen. Er erhob sich leicht von seinem Stuhl, um das Glas wieder auf den Pianinodeckel zu stellen, und während er seinen Bogen ergriff, beugte er sich zu dem Klarinettisten hin und flüsterte ihm angelegentlich etwas zu. Der Klarinettist, ohne sich darum zu kümmern, blies weiter, der andere aber wiegte nun, völlig sinnlos, den Kopf hin und her und leckte sich den Bierschaum vom Schnurrbart ab. Seine Stirn war unnatürlich hoch; das dunkle, graumelierte, kurzgeschorene Haar stand borstenartig in die Höhe, und er kniff das eine Auge zusammen, als er wieder mit den übrigen zu spielen begann. Es war ein ärmliches Instrument, überdies spielte er offenbar ganz falsch, und ein böser Blick des Pianisten traf ihn. Der Vorhang hob sich, ein Neger in schmierigem Frack, mit grauem Zylinder, trat auf, wurde vom Publikum mit Gejohl begrüßt; der Cellospieler hob den Bogen und winkte dem Neger einen Gruß hinauf, der von niemandem, nicht einmal von dem Neger, sondern ausschließlich von Therese bemerkt wurde. Und nun hatte sie keinen Zweifel mehr: es war Kasimir Tobisch, der 338 in diesem Tingeltangel Cello spielte. Sie saß mit Wohlschein ganz nahe der Rampe, er füllte ihr eben von neuem das Weinglas, sie setzte es an die Lippen und starrte immer noch Kasimir an, bis sie endlich seinen Blick zu sich herangezwungen hatte. Er betrachtete sie, dann ihren Begleiter, dann andere Leute, die im Zuschauerraum saßen, ließ die Augen zu ihr zurück schweifen, sah wieder weg, und es war ganz offenbar, daß er sie nicht erkannte. Die Vorstellung ging weiter, ein schmieriger Pierrot, eine brustkranke Pierrette und ein betrunkener Harlekin stellten mit einer Art von verzweifeltem Humor eine Pantomime dar, und Therese lachte viel, ja, sie vergaß für eine Weile, daß dort im Orchester Kasimir Tobisch Cello spielte, vergaß, daß das der Vater ihres Sohnes, daß dieser Sohn ein Dieb und Zuhälter war und im Gefängnis saß, vergaß auch Herrn Wohlschein, der neben ihr behaglich seine Zigarre aus einem weißen Spitz rauchte, und lachte mit ihm laut auf, als der Harlekin bei dem Versuch, die Pierrette zu umarmen, der Länge nach hinfiel.

      Ein paar Stunden später aber, in ihrem Bett an der Seite des schnarchenden Wohlschein, lag sie ohne Schlaf, weinte still, und das Herz tat ihr weh.

       Inhaltsverzeichnis

      Einmal in früher Vormittagsstunde – Therese hielt eben ihren Kurs ab – erschien zu ihrer Überraschung Karl bei ihr. Seine Miene, schon die Art, wie er eintrat, ließen sie Böses ahnen. Da sie ihn fragte, ob er sich nicht eine Viertelstunde gedulden wolle, bis die Stunde zu Ende sei, ersuchte er sie brüsk, ihre »jungen 339 Damen« – auch dies war wie mit Hohn vorgebracht – wegzuschicken. Was er ihr mitzuteilen habe, dulde keinen Aufschub. Therese konnte nicht anders, als ihm willfahren. Er wandte den Blick ab, als die jungen Mädchen an ihm vorüber das Zimmer verließen, wie um sie nicht grüßen zu müssen, und kaum mit der Schwester allein, ohne jede Einleitung, begann er: »Dein Sohn, der Lumpenkerl, hat die unerhörte Frechheit, mir aus dem Landesgericht diesen Brief zu schicken«, und er reichte ihn Theresen.

      Sie las für sich: »Werter Herr Onkel. Da ich in wenigen Tagen nach unverschuldeter, wegen widriger Umstände verbüßter Haft das Gericht verlasse und ferne von der Heimat eine neue Existenz gründen will, ersuche Euer Hochwohlgeboren in Anbetracht näherer Verwandtschaft um Beitrag zu Reisekosten im Betrag von zweihundert Gulden österreichischer Währung, die von morgen an bereit zu halten bitte. Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich, sehr werter Herr Onkel, Ihr –«

      Therese ließ den Brief sinken, zuckte die Achseln.

      »Nun,« schrie Karl, »möchtest du so freundlich sein, dich zu äußern.«

      Therese unbeweglich: »Ich habe mit diesem Brief nicht das geringste zu tun, und ich weiß nicht, was du von mir willst.«

      »Ausgezeichnet. Dein Sohn schreibt mir aus dem Landesgericht einen Erpresserbrief – jawohl, einen Erpresserbrief.« Er riß ihr den Brief aus der Hand und wies auf die Stellen: »in Anbetracht naher Verwandtschaft« – »von morgen an bereit zu halten bitte«. – »Dieser Lump weiß, daß ich mich in öffentlicher Stellung befinde. Er wird zu anderen Leuten gehen, sie 340 anbetteln, sich dort als mein Neffe ausgeben, als der Neffe des Abgeordneten Faber …«

      »Von einer solchen Absicht kann ich in dem Brief nichts entdecken, und dein Neffe ist er ja wirklich.«

      Die abweisende, spöttische Haltung Theresens machte Karl völlig rasend. »Du wagst es, dieses Subjekt noch in Schutz zu nehmen? Meinst du, ich weiß nicht, daß er ein paarmal zu uns um Geld geschickt hat? Marie, gutmütig, aber blöd wie immer, hat es mir verheimlichen wollen. Glaubt ihr, mir kann man etwas verheimlichen? Meinst du vielleicht, ich hab’ nicht immer gewußt, was du für eine Existenz führst, unter dem Deckmantel deines sogenannten Berufes? Ja, schau’ mich nur an mit deinen großen Kuhaugen. Glaubst du, ich fall’ dir darauf hinein? Ich bin dir nie hineingefallen. Du wirst noch auf dem Mist krepieren, genau so wie dein Herr Sohn. Du willst ‘s ja nicht anders. Wenn man dir schon einmal einen Ausweg gezeigt und wenn sich schon ein Esel gefunden hat, der dich beinahe geheiratet hätte – nein, lieber in Freiheit weiterleben, Liebhaber wechseln wie ‘s Hemd, das ist bequemer und lustiger. Und mit den Mäderln da, was machst du denn mit denen? Lektionen –? Haha! Werden wahrscheinlich herangebildet zum Gebrauch für semitische Wüstlinge –?«

      »Hinaus«, sagte Therese. Sie hob nicht den Arm, streckte die Hand nicht aus, unhörbar beinahe sagte sie: »Hinaus!«

      Karl aber ließ sich nicht beirren. Er sprach weiter, ungehemmt, wie es ihm über die Lippen kam. Ja, so, wie Therese es in der Jugend getrieben, sagte er, so treibe sie es jetzt weiter, – in einem Alter, wo andere 341 Frauenzimmer doch allmählich zur Besinnung zu kommen pflegen, schon aus Angst, sich lächerlich zu machen. Ob sie sich denn einbilde, daß sie ihm je etwas habe vormachen können? Als junges Mädel schon habe sie mit seinem Freund und Kollegen angebandelt, dann war die Geschichte mit dem lumpigen Leutnant gekommen, – und von wem der saubere Sohn sei, an dem sich nun ihr Schicksal erfülle, das werde sie wohl selbst schwerlich mit Sicherheit sagen können. Was


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