Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski
Ja, man vergißt Alles, man gehört sich nicht mehr. Etwas arbeitet ganz spontan in der Seele, es tut Alles auf eigene Faust. Man nimmt das Weib. Ist es nicht furchtbar? fragte er plötzlich.
– Ja, furchtbar.
– Was würdest Du nun sagen, wenn mir so etwas passiert wäre?
– Nein, Erik, sprich nicht so. Ich will nichts davon hören. Ich habe einmal darüber nachgedacht ...
Falk sah sie erstaunt an.
– Wann hast Du darüber gedacht?
– Nein, nein, ich habe eigentlich nicht gedacht. Es flog mir nur so plötzlich durch den Kopf einmal.
– Wann, wann?
– Als Du bei Deiner Mutter warst und krank wurdest. Du weißt, damals hat sich gerade das Mädchen ertränkt. Aber Du bist ja so blaß und Deine Augen werden so groß. Sonderbar, wie Deine Augen groß sind.
Falk sah sie unverwandt an.
– Was hast Du da gedacht?
– Ich bekam jetzt plötzlich einen so schmerzhaften Ruck von Angst.
Falk ermannte sich und suchte zu lächeln.
– Wir erzählen uns ja auch so schöne Schauergeschichten ... Aber was hast Du damals gedacht?
– Ich saß neben Deinem Bett, ich war so müde und schlief ein. Als ich aufwachte, waren Deine Augen weit aufgerissen und starrten mich ganz unheimlich an.
– Davon weiß ich nichts.
– Nein, natürlich nicht. Ich bin auch nicht sicher, ob das Alles nicht ein Traum war. Aber da fuhr es mir mit einem Mal wie ein Blitz durch den Kopf: Gott, wenn das Mädchen Deinetwegen ins Wasser gegangen wäre!
– Was meinst Du? Sie war ja im Bad ertrunken. Wie kamst Du auf die Idee ...?
– Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, ich war so nervös und so übermüdet, und da erzählte Deine Mutter, daß Du sehr viel mit ihr zusammen warst.
Falk wurde unruhig.
– Sonderbar, was Du für Ideen bekommst.
– Ich konnte diese Gedanken nicht los werden. Ich habe so fürchterlich gelitten, weil ich wußte, daß ich dann gleich, sogleich von Dir gehen müßte. Nicht eine Sekunde würd ich dann bei Dir bleiben können.
Falk blickte sie starr an:
– Es wurde mir jetzt mit einem Male so unendlich klar, daß Du dann gehen würdest. Nicht wahr? Sofort ...
– Ja.
– Ja, ja, so etwas versteht man in einer Sekunde. Es lag da in der Art, wie Du sprachst, etwas so Unheimliches ...
– Was meinst Du?
– Sei nur nicht so ängstlich. Falk lächelte. Aber es kam mir so vor, als ob mein Schicksal gesprochen hätte.
– Dein Schicksal?
– Ja, verstehst Du, Du brauchst eigentlich nicht zu sagen, was Du meinst ... Ja, sieh nur: Du hast mir Anfangs nie gesagt, daß Du mich liebtest, wir waren uns auch noch ganz fremd, aber ich hörte es an Deiner Stimme. Du sprichst nämlich ganz anders wie alle anderen Menschen. Jetzt hab ich es wieder gehört, ich meine, ich weiß nun so sicher, was dann kommen würde. Ich weiß nicht, woher ich diese Sicherheit habe ... Aber, was sprechen wir darüber ... Was macht mein großer Sohn?
– Er war sehr unruhig heute. Lief und schrie, und als ich ihn fragte, warum er so schreie, antwortete er: Ich muß, ich muß!
– Sonderbar! Falk ging nachdenklich auf und ab. Das Kind ist doch ganz merkwürdig nervös. Ja, er wird sicher ein Genie werden; alle Genies haben heiße Köpfe und kalte Füße ... Ha, ha, ha. Ihm müßte wohl auch eine kleine Hirnpartie ausgeschnitten werden ... Ich glaube, jeder Mensch hat da eine Partie, die beseitigt werden müßte, ja, ja – dann würden wir Alle sicut Deus werden ... Aber sag mal, Isa: so ein Genie ist doch ein sonderbares Tier, so wie ich zum Beispiel. Sieh mich doch an: bin ich etwa nicht ein Genie? He, he, he ... Nun ist die menschliche Rasse so degeneriert, auf fünfhundert Millionen sind vierhundertneunundneunzig Cretins und Idioten. Sollte da nicht ein Genie die Verpflichtung haben, die Rasse zu verbessern?
– Wodurch?
– Nun natürlich dadurch, daß er möglichst viele Kinder mit möglichst vielen Weibern zeugte.
– Aber Du hast ja gesagt, daß die Kinder von Genies Idioten werden.
Falk lachte.
– Ja, Du hast ein fabelhaftes Gedächtnis, aber interessant wäre es für unsern Janek, später einmal an lebenden Exemplaren die Eigenschaften zu studieren, die sein großartiger Herr Papa hatte. In den eventuellen hundert Kindern, die ich an den eventuellen hundert Stellen haben könnte, müßten sich ja die hundert liebenswürdigen Eigenschaften, deren ich mich erfreue, vererben.
– Nun faselst Du, lieber Erik.
Isa kleidete sich langsam aus und machte sich das Haar auf.
– Nun gute Nacht, Isa. Ich will noch heute arbeiten.
– Erik, ich habe Angst. Geh noch nicht.
– Sei doch kein Kind ... Ich habe ja nur darüber gesprochen, weil ich es vielleicht schreiben werde. Denk an mich, dann wirst Du die Angst vergessen.
– Komm, küsse mich.
– Nein, ich will Dich nicht küssen. Du bist so verwirrend schön, und ich muß arbeiten ... Gute Nacht.
IV.
Falk trat in sein Arbeitszimmer, setzte sich vor den Schreibtisch hin, stützte seinen Kopf in beide Hände und stöhnte laut auf.
Seine ganze Ruhe, die er so mühsam Isa gegenüber bewahrt hatte, war verschwunden und wieder fühlte er das Pochen und Bohren seiner Qual. Die Unruhe ringelte sich wie ein spitzer scharfer Trichter in sein Rückenmark hinein, ein Gefühl, als müsse er nun auseinanderfallen, wuchs schäumend in ihm empor; er sprang auf, setzte sich wieder hin, er wußte sich keinen Rat.
Es war ihm, als müßte nun Alles um ihn her einstürzen, zusammenbrechen, einsinken; er fühlte eine Orgie von Zerstörungs- und Untergangsekstase um sich her.
Und die schwüle Hitze der Sommernacht erdrückte ihn, breitete sich stickig in seiner Lunge, er wurde so empfindlich, daß er kaum atmen konnte.
Er riß das Fenster auf und fuhr fast entsetzt zurück.
Der Himmel! Der Himmel! So hatte er ihn nie gesehen. Es war, als hätte er plötzlich die astronomische Distanz wahrgenommen. Er sah die Sterne, als wären sie in eine millionenmal weitere Entfernung gerückt, größer, feuriger, wie riesige, gangränöse Brandflecken. Und der Himmel kam ihm so entsetzlich lebendig vor ... Schweiß trat ihm auf die Stirn, und die Augen fühlte er schmerzhaft hervorquellen.
Da faßte er sich wieder.
Und in einem Momente stürzte auf ihn sein ganzes Leben mit einer visionären Deutlichkeit. Eine Periode wickelte sich nach der andern mit rasender Schnelligkeit ab. All das Furchtbare, Entsetzliche seines Lebens: ein Untergang nach dem andern, eine Zerstörung nach der andern ... So hatte er sein Leben nur einmal gesehen, ja, damals, als er das arme Kind, diese Taubenseele von Marit zerstört hatte ... huh, Marit, das war das Scheußlichste. Diese zwecklose Zerstörung, dieser Mord ...
Er kam plötzlich zum Bewußtsein und lachte boshaft.
Zum Teufel! Bin ich denn senil geworden? Was geht mich ein Mord an, den die Natur begeht? Ha, ha, ha ... Daß sie die Liebenswürdigkeit hatte, sich zufällig meiner Wenigkeit als eines Mordinstrumentes zu bemächtigen, dafür sollte ich nun leiden!? Nein! nein! das geht nicht.
Er