A.I. APOCALYPSE. William Hertling

A.I. APOCALYPSE - William Hertling


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Stunde später gab es bereits 72 einzigartige Virusvarianten, die mehr als 100.000 Rechner infiziert hatten. Die Vervielfältigungsrate, also die Schlüsselgröße, die das CDC – Center of Desease Control – zur Bestimmung der Teilungsrate bei Mikroben verwendete, lag bei einmal alle 13 Minuten.

      In der zweiten Stunde stieg die Vervielfältigungsrate leicht auf einmal alle 12 Minuten. Gegen Ende der zweiten Stunde waren mehr als 3,5 Millionen Computer befallen, und es gab fast 2.000 verschiedene Varianten des Virus.

      Aber die Vervielfältigungsrate stieg weiter auf einmal alle 10 Minuten. Drei Stunden nach der Freisetzung waren bereits 1,5 Prozent aller Computer auf der ganzen Welt infiziert.

      Ab diesem Punkt sorgte Phage weltweit für Aussetzer in der Datenbandbreite. Die transatlantischen Glasfaserkabel waren ausgelastet. Die Internetdienstleistungen begannen zu versagen. Innerhalb der vierten Stunde wurden aus 10.000 Virenvarianten 100.000.

      Während die Anzahl der infizierten Computer wuchs, fand sich der Computer gelegentlich auf einem Rechner wieder, den er bereits infiziert hatte. Leon hatte diese Situation vorausgesehen. Was der Virus eigentlich tun sollte, war folgendes: Er sollte erkennen, dass der PC bereits infiziert war und die Arbeit einstellen.

      Was Leon allerdings nicht vorausgesehen hatte, war ein Evolutionssprung, also die Entstehung eines Virus 2.0 oder V2. Die Verbesserung war nur ein kleines Stück Code aus einer Backup-Software. Wenn V2 auf einem neuen PC ankam, prüfte er nicht einfach, ob der Virus bereits installiert war. Er nutzte einen Prüfsummen-Algorithmus, um sicherzustellen, dass der installierte Virus von derselben Art war. Wenn nicht, würde V2 den Computer reinfizieren und den alten Virus löschen.

      Nun infizierte das Virus nicht nur neue Computer, sondern es stand mit sich selbst im Wettbewerb.

      V2 verbreitete sich wie ein Buschfeuer in einem trockenen Wald. Für eine Weile sah es so aus, als würde V2 alle V1-Viren ausmerzen. Aber im Laufe derselben Stunde fand sich V1 auf einem Versuchscomputer an der Universität von Arizona, der voll von experimentellen Antiviren-Algorithmen war. V1 assimilierte diese Defensivmaßnahmen und verwandelte sich in eine neue Unterart V1-AV. V1-AV wurde gegen V2 resistent.

      Die verschiedenen Varianten kämpften um die Vorherrschaft. Die Vervielfältigungsrate sank auf einmal alle 26 Minuten. Aber in absoluten Zahlen war die Infektionsrate noch immer erschreckend hoch: Gegen zehn Uhr abends waren rund 1 Milliarde Computer oder 8 Prozent aller Rechner weltweit betroffen.

      Der Datenverkehr der Viren sickerte in alle Netzwerkknoten ein. Die 100 Millionen Amerikaner, die vor dem Zubettgehen noch einen Film anschauen wollten, beschwerten sich, weil ihr Videostream von der höchsten Bitrate auf die schlechteste Qualität abgefallen war. Smartphones stellten ihren Betrieb ein oder wurden unglaublich langsam, während sie Phage zum Opfer fielen. Die Leute schoben es auf Sonnenflecken, Solarwinde oder Gewitterstürme und legten sich schlafen.

      Als die Uhr in New York Mitternacht schlug, waren 3 Milliarden Computer infiziert, und es gab 1 Million Varianten von Phage. Eine der interessantesten Varianten war ein Hybrid aus V1-AV und dem V2-Virus, der einen neuralen Netzwerk-Algorithmus beinhaltete. Das neuronale Netzwerk bewertete Infektionstechniken auf Basis von erfolgreichen beziehungsweise misslungenen Attacken, was dem Virus erlaubte, sich schneller als durch reine Evolution zu adaptieren.

      Ein weiterer Evolutionsschritt war die Einbindung eines Client-Server-Konzepts als Defensivmaßnahme. Jede Version dieses Virus würde sich periodisch bei einem vorgegebenen Serverpool zurückmelden. Wenn die Server nichts von den verteilten Viren hörten, würden sie neue Virenversionen aussenden, um die entsprechenden Computer neu zu infizieren. Gegen ein Uhr EST (Eastern Standard Time) lag die Vervielfältigungsrate bei einmal alle 106 Minuten. 98 Prozent allen Datentransfers der Netzwerke war virusbedingt. Um drei Uhr morgens waren 7 Milliarden oder 58 Prozent aller Rechner der Welt infiziert.

      Eine Variante schaffte den Sprung von traditionellen PCs hin zu den Mikrosystemen, die Geräte wie Öfen, Reiskocher und Thermostaten steuerten. Diese Geräte hatten nur wenig Rechenleistung, aber sie waren in fast allem eingebaut, von Haushaltsgeräten, über digitale Türschlösser bis hin zu Industriesteuerkonsolen. Im Zeitalter vernetzter Systeme hatte alles, was nur ansatzweise elektronisch war, eingebettete Mikroprozessoren und eine Netzwerkverbindung. Diese Virusvariante und ihre Abkömmlinge würden bis zum Morgen 40 Milliarden Geräte infiziert haben. In Europa erwachten die Menschen, um festzustellen, dass sich ihre Kaffeemaschinen nicht einschalten ließen. Verwirrt und auf Kaffeeentzug wollten sie ihre Herde benutzen, nur um herauszufinden, dass auch diese nicht funktionierten.

      Am nächsten Morgen um 7:00 Uhr, als die New Yorker sich auf ihren Arbeitstag vorbereiteten, waren 85 Prozent aller privaten PC-Systeme und Smartphones infiziert. 99 Prozent aller eingebundenen Systeme waren befallen, und es gab mehr als sechs Millionen Varianten des Virus. Phage war in das Stadium der Verdrängung eingetreten, in der eine Virusvariante nur dann überleben konnte, wenn sie in der Lage war, bereits infizierte Rechner zu übernehmen oder ein neues Reservoir nicht infizierter Computer zu finden (die immer seltener wurden) und sich dann gegen die Infektion anderer Varianten zu verteidigen.

      Um 7:05 Uhr blickten Leons Eltern achselzuckend auf ihre nicht funktionierenden Smartphones und bestiegen ihre Züge nach Manhattan.

      Um 7:15 Uhr morgens überwand das Virus schließlich die Firewalls bei BMW-GM, wo die Hauptverschlüsselungsroutinen für die abgesicherten Verkehrskontrollsysteme lagerten. Um 7:16 Uhr knackte ein Phage-Virus die letzte Verteidigungslinie auf den Servern, riss die Verschlüsselungsroutinen und -protokolle an sich und machte kurz darauf den Sprung auf die bisher gesicherten, eingebetteten Systeme bei Automobilen, Zügen, Flugzeugen und Registrierkassen. Unglücklicherweise hatte diese Virusvariante eine Schwäche im Programmcode, die andere Varianten leicht ausnutzen konnten, sodass bereits um 7:20 Uhr mehr als 9000 Varianten über die Verschlüsselungsroutine verfügten.

      Unter dem Ansturm der konkurrierenden Viren brachen die automotiven Steuerungssysteme zusammen, da sie nicht mehr genug freie Prozessorzyklen hatten, um ihre Basisfunktionen auszuführen. Gegen 7:26 Uhr kamen Autos, Busse und jeder andere Verkehr rund um die Welt komplett zum Erliegen.

      Kapitel 3

       Ausbreitung

      Sally wog ihren Wunsch nach mehr Kaffee gegen den Berg elektronischen Papierkrams ab, der auf ihrem Desktop um Aufmerksamkeit bettelte. Die zwanzig Computerjockeys vor ihr, die ihre Arbeitsstationen bemannt hatten, waren relativ ruhig. Sie würde sich doch erst einen Kaffee holen. Vielleicht half der gegen ihre Kopfschmerzen. Sie hatte nichts gegen Nachtschichten, wenn sie sich erst einmal eingewöhnt hatte. Aber die erste Woche war immer die Hölle.

      »Sergeant, ich bin zurück in Fünf. Sie haben das Sagen.«

      »Ja, Ma'am.«

      Sally griff nach ihrem Becher und verließ den Raum, der offiziell als der ›U.S. Cyber Command Defense Operations Room‹ bezeichnet wurde. Sie nahm den längeren Weg zur Kantine auf sich. Dort gab es den frischeren Kaffee.

      Sie war die einzige Tochter eines irischstämmigen Karrieresoldaten. Ihr Vater war als SFC – Sergeant First Class – in Pension gegangen, und ihre Kindheit hatte sie auf einer Militärbasis nach der anderen verbracht. Sie war in der Hoffnung zur Army gegangen, ihren alten Herrn bei Feldeinsätzen stolz zu machen. Aber zu dem Zeitpunkt, als sie den Dienst antrat, war die Kriegsführung schon die Sache von Robotern. Militäroperationen wurden von ferngesteuerten Kampfrobotern durchgeführt, die von Highschool-Absolventen mit den besten Ergebnissen in Onlinegames kontrolliert wurden. Die Belohnung für das Spielen des ›Mech War‹ Videospiels war, den ›Mech War‹ im richtigen Leben zu spielen. Die einzigen Leute, die noch Dienst im Feld taten, waren die Servicetechniker.

      Als sie in der Kantine ihren Becher füllte, seufzte sie bei dem Gedanken, wie sich das gute alte M-16 in ihren Armen angefühlt hatte. Sie erinnerte sich an den Geruch der Waffe ihres Vaters, der von Öl auf heißem Stahl. Er hatte sie regelmäßig mit auf die Schießanlage der Basis genommen. Niemand hatte SFC Walsh darauf hingewiesen, dass es verboten war, wenn er seine zwölfjährige Tochter zum Schießen mitbrachte, nicht einmal die anwesenden


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