Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad - Джозеф Конрад


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Termin statt, damit dem Gesetz Genüge geschehe, und war, zweifellos um ihres menschlichen Interesses willen, gut besucht. Es herrschte keine Ungewißheit bezüglich der Tatsachen – bezüglich der einen wesentlichen Tatsache, meine ich. Wie die Patna zu der Havarie gekommen, war unmöglich festzustellen; und in dem ganzen Gerichtssaal war niemand, dem daran lag, es zu erfahren. Doch wie ich euch sagte, wer nur etwas mit der See zu tun hatte, war zugegen, und das ganze Küstengewerbe war vollzählig vertreten. Was die Leute hinführte, war, ob sie es wußten oder nicht, rein psychologische Neugier – die Erwartung, die menschlichen Leidenschaften in ihrer ganzen Gewalt und Abgründigkeit enthüllt zu sehen. Natürlich konnte nichts derart enthüllt werden. Das Verhör des einzigen Mannes, der imstande und willens war, sich ihm zu unterziehen, bewegte sich in nutzloser Weise um die eine wohlbekannte Tatsache, und das Fragenspiel, das darauf abzielte, gab nicht mehr Aufschluß, als wollte man mit dem Hammer auf einen eisernen Kasten klopfen, um zu erfahren, was darin ist. Ein amtliches Verhör konnte eben nicht anders sein. Es hatte nicht das grundlegende ›Warum‹, sondern das oberflächliche ›Wie‹ der Angelegenheit zum Gegenstand.

      Der junge Bursche hätte Aufklärung geben können, doch obwohl es gerade das war, worauf die Zuhörer Wert legten, so führten ihn doch alle Fragen, die man ihm stellte, von der einzigen Wahrheit weg, die – mir zum Beispiel – wissenswert schien. Man kann von den bestallten Obrigkeiten nicht erwarten, daß sie nach dem Seelenzustand eines Menschen forschen – oder geht es etwa bloß um den Zustand seiner Leber? Ihre Aufgabe war, die Folgen zu ahnden; und, offen gesagt, irgendein Polizeirichter und zwei nautische Beisitzer taugen kaum zu sonst etwas. Ich will damit nicht sagen, daß diese Leute dumm waren. Der Polizeirichter war sehr geduldig. Einer der Beisitzer war ein Segelschiffskapitän mit einem rötlichen Bart und von gläubiger Gemütsart. Brierly war der andere. Der Große Brierly. Einige von euch müssen doch vom Großen Brierly gehört haben – dem Kapitän des Prachtschiffs von der Blue Star Line. Das ist der Mann.

      Er schien nicht sehr erbaut von der Ehre, die ihm zuteil geworden war. Er hatte niemals in seinem Leben einen Fehler gemacht, nie einen Unfall gehabt, nie Pech, nie war ihm bei seinem stetigen Aufstieg etwas in die Quere gekommen, und er schien einer jener Glückspilze zu sein, die nichts von Unentschiedenheit, geschweige denn von Mißtrauen gegen das eigene Selbst wissen. Mit Zweiunddreißig hatte er eine der besten Kommandostellen in der östlichen Handelsflotte – und was die Hauptsache ist, er tat sich nicht wenig darauf zugute. Er bildete sich Gott weiß was darauf ein, und hätte man ihn, Hand aufs Herz, gefragt, dann hätte er wohl zugegeben, daß es seiner Meinung nach keinen zweiten solchen Kommandanten geben könne. Die Wahl war auf den rechten Mann gefallen. Die übrige Menschheit, die nicht den Stahldampfer Ossa von sechzehn Knoten Geschwindigkeit befehligte, war eigentlich sehr zu bedauern. Er hatte Menschen zur See das Leben gerettet, war Schiffen, die sich in Not befanden, zu Hilfe gekommen und hatte zum Dank für diese Dienste einen goldenen Chronometer von der Versicherungsgesellschaft und ein Marineglas mit passender Inschrift von irgendeiner fremden Regierung zum Geschenk erhalten. Er war sich seiner Verdienste und seiner Belohnungen voll bewußt. Ich konnte ihn recht gut leiden, obwohl ihn manche meiner Bekannten – milde, freundliche Leute sonst – in den Tod nicht ausstehen konnten. Ich habe nicht den leisesten Zweifel, daß er sich mir weitaus überlegen dünkte – ja, der Beherrscher beider Indien hätte sich in seiner Gegenwart klein fühlen müssen – doch ich brachte es nicht fertig, mich ernsthaft beleidigt zu fühlen. Er verachtete mich nicht wegen etwas, was ich tat oder was ich war – versteht ihr? Ich war ein Niemand – aus dem einfachen Grunde, weil ich nicht der bevorzugte Mann der Erde, Montague Brierly, Befehlshaber der Ossa, war und keinen gravierten goldenen Chronometer und kein silberbeschlagenes Marineglas mein eigen nannte, die meine seemännische Tüchtigkeit und meinen unbezähmbaren Mut beglaubigten; weil ich ferner nicht das klare Bewußtsein meines Wertes und auch keinen schwarzen Hühnerhund hatte, der mich liebte und anbetete und der nebenbei das prachtvollste Exemplar seiner Gattung war – ich glaube im Ernst, daß noch nie solch ein Herr so sehr von einem solchen Hund geliebt worden ist. Daß einem all dies fortwährend vor Augen gestellt wurde, konnte einen schließlich aufbringen; wenn ich aber bedachte, daß ich diese leidigen Nachteile mit zwölfhundert Millionen anderer, mehr oder weniger menschlicher Wesen teilte, so ließ ich mir sein gutmütiges, geringschätziges Mitleid um des Gewinnenden und Anziehenden willen, das sonst in seiner Persönlichkeit lag, gern gefallen. Ich habe mir dieses Anziehende in ihm niemals klargemacht, doch gab es Augenblicke, wo ich ihn beneidete. Der Stachel des Lebens konnte seiner selbstzufriedenen Seele nicht mehr anhaben als ein Nadelstich einer glatten Felswand. Dies war beneidenswert. Wie er da so neben dem bescheidenen, blassen Polizeirichter saß, der die Verhandlung leitete, erschien sein Selbstgefühl mir und den Zuschauern hart wie Granit. Bald nachher beging er Selbstmord.

      Kein Wunder, daß Jims Fall ihm zu schaffen machte; und während ich beinah angstvoll die Größe seiner Verachtung für den jungen Mann, der unter Anklage stand, erwog, hielt er wahrscheinlich über seinen eigenen Fall Gericht ab. Das Urteil muß auf Schuldig ohne mildernde Umstände gelautet haben, und er nahm das Geheimnis dieses Schuldspruchs mit sich auf seinem Sprung in die See. Wenn ich etwas von Menschen verstehe, so war die Sache gewiß äußerst schwerwiegend, eine jener Geringfügigkeiten, die Ideen erwecken – einen Gedanken ins Leben rufen, mit dem es einer, der an solche Gesellschaft nicht gewöhnt ist, unmöglich findet, weiterzuleben. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß weder Geld noch Trunksucht noch eine Frau die Ursache war. Er sprang über Bord, knapp eine Woche nach Schluß des Prozesses und nicht ganz drei Tage, nachdem er von jenem Hafen in See gegangen war, als hätte er genau an diesem Punkt inmitten des Meeres die Tore der anderen Welt zu seinem Empfang weit geöffnet gesehen.

      Doch war es kein plötzlicher Entschluß. Sein grauköpfiger Deckoffizier, ein äußerst tüchtiger Seemann und Fremden gegenüber ein netter alter Knabe, doch im Verkehr mit seinem Kommandanten der knurrigste Brummbär, der mir je vorgekommen ist, pflegte die Geschichte mit Tränen in den Augen zu erzählen. Demnach muß Brierly, bevor er morgens auf Deck kam, im Navigationsraum Briefschaften erledigt haben. »Es war zehn Minuten vor vier, und die Mittelwache war natürlich noch nicht abgelöst. Er hörte, wie ich auf der Kommandobrücke mit dem Zweiten Offizier sprach, und rief mich herein. Ich ging ungern, Kapitän Marlow – es ist wahr, ich konnte den armen Kapitän Brierly nicht ausstehen, ich sage es mit Beschämung; wir wissen nie, aus welchem Holz ein Mann gemacht ist. Er war über zu viele Köpfe hinweg, abgesehen von meinem eigenen, befördert worden, und er hatte eine verdammte Art, einen die Untergebenheit fühlen zu lassen, wenn er auch nur ›Guten Morgen‹ sagte. Ich redete ihn nie an, es sei denn in Dienstsachen, und dann mußte ich mir immer Mühe geben, nicht unhöflich zu werden.« (Damit schmeichelte er sich. Ich hatte mich oft gewundert, wie Brierly sich sein Benehmen länger als die halbe Fahrt gefallen lassen konnte.) »Ich habe eine Frau und Kinder«, fuhr er fort, »und war zehn Jahre bei der Gesellschaft gewesen, immer in Erwartung des nächsten Kommandos – Narr, der ich war. Sagt er also, gerade so: ›Kommen Sie hier herein, Herr Jones‹, mit seiner großtuerischen Stimme – ›kommen Sie hier herein, Herr Jones.‹ Ich ging hinein. ›Wir wollen den Schiffsort feststellen‹, sagte er und beugte sich mit einem Zirkel in der Hand über die Karte. Nach der Dienstordnung hätte das der abgehende Wachoffizier zu Ende seiner Wache zu tun gehabt. Ich sagte aber nichts und sah zu, wie er den Schiffsort mit einem winzigen Kreuz bezeichnete und Zeit und Datum dazuschrieb. Ich kann ihn noch jetzt vor mir sehen, wie er seine sauberen Zahlen schrieb: siebzehn, acht, vier a. m. Die Jahreszahl stand mit roter Tinte oben auf der Karte. Er benutzte seine Karten nie länger als ein Jahr, der Kapitän Brierly. Ich habe die Karte jetzt noch. Wie er fertig ist, sieht er das Zeichen an, das er gemacht hat, lächelt vor sich hin und sieht mich dann an. ›Noch dreißig Meilen geradezu‹, sagte er, ›dann sind wir klar, und Sie können den Kurs zwanzig Grad nach Süden ändern.‹

      Wir hielten uns auf dieser Reise im Norden der Hector Bank. Ich sagte: ›Jawohl, Herr Kapitän‹, und wunderte mich, was er hermachte, da ich ja sowieso den Kurs nicht ohne sein Beisein ändern konnte. Gerade da wurden acht Glasen geschlagen: wir traten auf die Brücke hinaus, und der Zweite sagt wie üblich, bevor er abgeht: ›Einundsiebzig auf dem Log.‹ Kapitän Brierly blickt auf den Kompaß und dann ringsumher. Es war dunkel und klar, und der Himmel so voller Sterne wie in einer Frostnacht unter hohen Breiten. Plötzlich sagt er wie mit einem kleinen Seufzer: ›Ich gehe achtern und stelle selbst für euch das Log auf Null,


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