Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky

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Zeit stärker als die Liebe. »Gelesen … gelesen …«, sagte ich. »Karlchen, was liest du jetzt eigentlich für eine Zeitung?« – Er nannte den Namen. »Man soll nicht nur eine lesen«, lehrte ich weise. »Das ist gar nichts. Man muß mindestens vier Zeitungen lesen und eine große englische oder französische dazu; von draußen sieht das alles ganz anders aus.« – »Ich muß mich immer wundern«, sagte die Prinzessin, »was unsereiner da so vorgesetzt bekommt. Seht mal – Zeitungen für uns gibt es eigentlich gar nicht. Sie tun immer alle so, als ob wir wer weiß wieviel Geld hätten – nein, als ob es gar kein Geld auf der Welt gäbe … dabei wissen sie genau: wir haben nur wenig – aber sie tun so. Was sie uns da alles erzählen … und was sie alles abbilden!« – »Geronnene Wunschträume. Du sollst schlafen, du sollst schlafen, du sollst schlafen, liebes Kind!« – »Nein, das meine ich nicht«, sagte die Prinzessin. »Ich meine, sie sind alle so furchtbar fein. Noch wenn sie den Dalles schildern, ist es ein feiner Dalles. Sie schweben eine Handbreit über dem Boden. Ob mal ein Blatt sagt, wie es nun wirklich ist: daß man am Zwanzigsten zu knapsen anfängt, und daß es mitunter recht jämmerlich und klein ist, und daß man sich gar nicht so oft ein Auto leisten kann, von Autos kaufen überhaupt nicht zu reden, und mit ihrer lächerlichen Wohnungskultur … haben wir vielleicht anständige Wohnungen?«

      »Die Leute fressen einen auf«, sagte ich. »Das Schlimmste ist: sie stellen die Fragen und sie ziehen die Kreise und sie spannen die Schnüre – und du hast zu antworten, du hast nachzuziehen, du hast zu springen … du kannst dir nichts aussuchen. Wir sind nicht hienieden, um auszusuchen, sondern um vorliebzunehmen – ich weiß schon. Aber daß man lauter Kreuzworträtsel aufbekommt: Rom gibt dir eins auf und Rußland eins und Amerika und die Mode und die Gesellschaft und die Literatur – es ist ein bißchen viel für einen einzelnen Herrn. Finde ich.«

      »Wenn man sich das recht überlegt«, sagte Karlchen, »sind wir eigentlich seit Neunzehnhundertundvierzehn nicht mehr zur Ruhe gekommen. Spießerwunsch? Ich weiß nicht. Man gedeiht besser, wenn man seinen Frieden hat. Und es kommt alles nach – es wirkt so nach … Weißt du noch: der allgemeine Irrsinn in den Augen, als uns das Geld zerrann und man ganz Deutschland für tausend Dollar kaufen konnte? Damals wollten wir alle Cowboys werden. Eine schöne Zeit!«

      »Lieber Mann, wir haben das Pech, nicht an das zu glauben, was die Kaffern Proppleme nennen – damit trösten sie sich. Es ist ein Gesellschaftsspiel.«

      »Arbeiten. Arbeit hilft«, sagte die Prinzessin.

      »Liebe Prinzessin«, sagte Karlchen, »ihr Frauen nehmt das ja ernst, was ihr tut – das ist euer unbestrittener Vorzug vor uns andern. Wenn man das aber nicht kann … Immerhin: eine so schöne junge Frau …«

      »Sie werden ausgewiesen, wenn Sie so reden«, sagte die Prinzessin. »Vestahn Sei Plattdütsch?« – Karlchen strahlte: er sprach Platt wie ein hannöverscher Bauer, und jetzt schnackten sie eine ganze Weile in fremden Zungen. Was sagte sie da? Ich horchte auf. »Das hast du mir doch noch gar nicht erzählt?«

      »Nein …? Habe ich das nicht?« Die Prinzessin tat furchtbar unschuldig. Sie log sonst gut – aber jetzt log sie ganz miserabel. »Also?«

      Der Generalkonsul hatte es mit ihr treiben wollen. Wann? Vor zwei Monaten. »Bitte erzähl.«

      »Er hat gewollt. Na, ihr wollt doch alle. Verzeihen Sie, Karlchen, außer Ihnen natürlich. Er hat eines Abends … also das war so. Eines Abends hat er mich gefragt, ob ich länger bleiben könnte, er hätte noch ein langes Exposé zu diktieren. Das kommt manchmal vor – ich habe mir nichts dabei gedacht; natürlich bin ich geblieben.« – »Natürlich …«, sagte ich. »Ihr habt ja sonst den Achtstundentag.« – »Quackel nicht, Daddy – wir haben ihn natürlich nicht, ich habe ihn nicht. Das ist eben in meiner Position …« – »Darüber werden wir uns nie einigen, Alte. Ihr habt ihn nicht, weil ihr ihn euch nicht erkämpft. Und ihr kämpft nicht – ach, ich habe jetzt Ferien.« – »Gibt es dafür Ferien?« fragte Karlchen. »Also«, fuhr die Prinzessin fort, »Exposé. Wie das fertig ist, bleibt er mitten im Zimmer stehn – wissen Sie, Karlchen, mein Chef ist nämlich furchtbar dick – bleibt mitten im Zimmer stehn, sieht mich mit so ganz komischen Augen an und sagt: Haben Sie eigentlich einen Freund? Ja, sage ich. Ach, sagt er, sehn Sie mal an – und ich hatte gedacht, Sie hätten gar keinen. Warum nicht? sage ich. Sie sehn nicht so aus, also ich meine … Na, und dann kam er langsam damit heraus. Er wäre doch so allein, das sähe ich doch … zur Zeit hätte er überhaupt keinen Menschen, und er hätte mal eine langjährige Freundin gehabt, die hätte ihn aber betrogen –«. Karlchen schüttelte bekümmert den Kopf, wie so etwas wohl möglich wäre. »Na, und was hast du gesagt?«– »Du alter Affe – ich habe nein gesagt.« – »Ach?« – »Ach! Hätte ich vielleicht ja sagen sollen?« – »Na, wer weiß! Eine gute Position … Hör mal, ich habe da einen Film gesehn.« – »Da bezieht er nämlich seine Bildung her, Karlchen. Würden Sie mit Ihrem Chef was anfangen?« – Karlchen sagte, er würde mit seinem Chef nie etwas anfangen. »Das ist ja alles Unsinn«, sagte die Prinzessin. »Männer verstehen das nicht. Was hat man denn davon? Ich müßte seine Sorgen teilen wie seine Frau, arbeiten wie seine Sekretärin, und wenn die Börse fest ist, dann bleibt er eines Abends bei einer andern mitten im Zimmer stehn und fragt die, ob sie vielleicht einen Freund … Ach, geht mir doch los!« – »Und an mich hast du gar nicht gedacht?« sagte ich. »Nein«, sagte die Prinzessin. »An dich denke ich erst, wenn der Mann in Frage kommt.« Und dann standen wir auf und gingen an das Seeufer.

      Das Schloß schlief dick und still; überall roch es nach Wasser und nach Holz, das lange in der Sonne gelegen hatte, nach Fischen und nach Enten. Wir gingen am See entlang.

      Und ich genoß diese beiden; dies war ein Freund, nein, es waren zwei Freunde – und ich verriet die Frau nicht an den Mann, wie ich es fast immer getan hatte; denn wenn da ein Mann war, mit dem es etwas zu erzählen gab, dann ließ ich die Frau liegen, als ob ich nicht noch eben mit ihr geschlafen hätte; ich gab sie auf, kümmerte mich nicht mehr um sie und verriet sie voller Feigheit an den ersten besten. Dann ließ sie los. Und dann wunderte ich mich.

      Die zwei sprachen sich in ihren Dialekten über ihre Heimat aus. Sie sagten, wo man das r aussprechen müsse und wo nicht; sie ergänzten ihre Schimpfwörterverzeichnisse; sie wußten beide, was das ist: niederdeutsch. Es ist jener Weg, den die deutsche Sprache leider nicht gegangen ist, wieviel kraftvoller ist da alles, wieviel bildhafter, einfacher, klarer – und die schönsten Liebesgedichte, die der Deutsche hat, stehen auf diesen Blättern. Und die Menschen … was es da im alten Niederdeutschland, besonders an der Ostsee, für Häuser gegeben hat, eine Traumwelt von Absonderlichkeit, Güte und Musik, eine Käfersammlung von Leuten, die alle nur einmal vorkommen … Vieles davon ist nun in die Hände dummer Heimatdichter gefallen, die der Teufel holen möge – scheinbar gutmütige Bürger, unter deren rauchgeschwängerten Bärten der Grog dampft und die die kraftvolle Männlichkeit ihrer alten Sprache in einen fatalen Brei von Gemütlichkeit umgelogen haben –: Oberförster des Meeres. Manche haben sich den Bart abrasieren lassen und glauben nun, wie alte Holzschnitte auszusehen – aber es hilft ihnen nichts; kein Wald rauscht ihnen, kein Meer rauscht ihnen, ihnen rauscht der Bart. Ihre Gutmütigkeit verschwindet im Augenblick, wo sie etwas verwirrt in die neue Zeit starren und auf den politischen Gegner stoßen; dann krabbelt aus ihnen ans Licht, was in ihnen ist: der Kleinbürger. Unter ihren Netzhemden schlägt ein Herz, im Parademarsch.

      Das ist nicht unser Plattdeutsch, das nicht.

      Niederdeutschland aber geht nicht ein – es lebt und wird ewig leben, solange dieses Land steht. Dergleichen hat es außerhalb Deutschlands nur noch einmal gegeben, aber da auf dem Rücken einer dienenden, nicht gut behandelten Kaste: in Kurland. Doch der Niederdeutsche ist anders. Seine Worte setzt er bedächtig, und sie sind gut. Und darüber sprachen die beiden. Und ich wußte: das Beste an der Prinzessin stammte aus diesem Boden. Und ich liebte in ihr einen Teil dieses Landes, das einem so sehr schwer macht, es zu lieben. Dessen ratlose Seelen es für eine Auszeichnung halten, gehaßt zu werden. Da war die Zeit, da war sie wieder. Nein, für uns gibt es wohl keine Ferien.

      Die beiden aber schnackten unentwegt. Jeder pries sein Plattdeutsch als das allein wahre und schöne, das des andern wäre ganz falsch. Jetzt waren sie bei den Geschichten angelangt.

      Die Prinzessin erzählte die vom Schuster Hagen, dem der


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