Dr. Norden Bestseller Staffel 3 – Arztroman. Patricia Vandenberg
und Carry zugehört. Es war alles wie ein Traum gewesen, und sie hatte an ein Weiterleben doch gar nicht mehr geglaubt. Nur instinktiv hatte sie das Mädchen schützen wollen, das sich so vertrauensvoll an sie klammerte. Und sie hatte über Carry nachgedacht, die von ihrer Nonna sprach, als sei sie eine Hexe.
Ja, ich bin Ärztin, dachte sie, aber was für eine. Plötzlich waren die Depressionen wieder da, die verschwunden gewesen waren, als sie dieses angstvolle Kind trösten musste.
Sie war müde, unsagbar müde. Mechanisch griff sie nach ihrer abgeschabten Reisetasche, während Carry auf ihre Koffer deutete, die Jonas an sich nahm.
»Ist das ihr ganzes Gepäck?«, fragte Jonas leicht erstaunt.
Miriam nickte. Es ist alles, was ich noch besitze, hätte sie erwidern müssen. Sie sagte es nicht.
»Es ist schön, dass du mitkommst und Papi dich auch kennenlernt«, sagte Carry. »Wir sind richtige Freundinnen geworden, nicht wahr, Miriam?«
Sie war so naiv, so kindlich, dass es fast ergreifend war. Miriam hatte Mädchen ihres Alters kennengelernt, die schon eifrig Jagd auf Männer machten, die verdorben waren bis auf den Grund ihrer Seele. Sie hatte eines kennengelernt, das nicht viel älter war als Carry, und ihr den einzigen Mann weggenommen hatte, den sie liebte, zu lieben glaubte. Und nicht dies allein. Jenes Mädchen hatte ihr viel mehr angetan.
Jetzt ging sie an der Seite eines Mädchens, das ihr vor wenigen Stunden noch ganz fremd war, hinter einem Mann her, der zielbewusst auf einen hellen Wagen zusteuerte.
Wohin treibt das Schicksal mich jetzt, fragte sich Miriam. Sie fuhren durch den Nebel, langsam und vorsichtig steuerte Jonas Henneke seinen Wagen. Miriam und Carry saßen auf dem Rücksitz. Unwillkürlich hatte Miriams Hand sich jetzt um das Handgelenk des Mädchens gelegt. Der Puls ging nun beschleunigt. Sie überlegte, an welcher Herzkrankheit Carry leiden könnte, und plötzlich wurde es ihr heiß und kalt, weil sie echte Angst um dieses Mädchen hatte, als würde es zu ihr gehören, als wäre es ihr Kind.
Ein eigentümliches Gefühl war das, da sie doch gemeint hatte, gar nichts mehr empfinden zu können.
»Abscheulich, dieses Wetter«, sagte Jonas. »Ausgerechnet heute.«
Er sprach abgehackt und mehr zu sich selbst und auch so, als denke er dabei an etwas anderes. Und Miriam ging es durch den Sinn, dass sie unter normalen Umständen wohl Carrys Bekanntschaft nie gemacht hätte. Sie wären sich am Ende der Reise so fremd gewesen wie am Anfang, denn Carry hätte ihre Scheu nicht ablegen können, und sie wäre weiter in Erinnerungen versunken geblieben.
»Geht es dir jetzt besser, Liebling?«, fragte Jonas seine Tochter.
»Wir sind ja zusammen«, erwiderte Carry leise. Sie lehnte den Kopf an Miriams Schulter.
»Etwas Gutes hätte alles, habe ich einmal in einem Buch gelesen«, sagte Carry. »Miriam hätte ich nicht anzusprechen gewagt, wenn nicht diese schreckliche Situation eingetreten wäre.«
Nun sprach sie Miriams Gedanken aus.
»Warum eigentlich nicht?«, fragte Jonas.
»Weil sie sich gar nicht rührte. Ich dachte, sie würde schlafen«, sagte Carry. »Sie hatte immer die Augen geschlossen.«
»Ich hatte schon eine weite Reise hinter mir«, sagte Miriam. »Rom war nur Zwischenstation.«
»Woher bist du gekommen?«, fragte Carry zögernd, aber schon viel weniger scheu.
»Aus Beirut.«
»Ist das Leben für eine Europäerin dort nicht ziemlich schwierig?«, fragte Jonas.
»Ich war an einer Klinik tätig. Ich hatte meinen Beruf«, erklärte Miriam. »Eine Europäerin bin ich eigentlich auch nicht. Ich bin in Teheran aufgewachsen und habe nur in Deutschland studiert.«
»In München?«, fragte Jonas.
»Ja, in München«, erwiderte Miriam schleppend.
»Es gefiel Ihnen hier nicht?«, fragte Jonas.
»Doch, es gefiel mir sehr.«
Er spürte an ihrem Tonfall, dass sie nichts mehr sagen wollte. Jonas war ein guter Menschenkenner. Für ihn war Miriam bis jetzt ein unerforschtes Wesen, dem er Sympathie entgegenbrachte, weil sie sich seiner Tochter angenommen hatte. Sie müsste Mitte dreißig sein, dachte er. Jünger bestimmt nicht. Sie sieht auch so aus, als hätte sie eine schwere Zeit hinter sich. Die Bräune täuscht. Aber es konnte auch sein, dass die schwierige Landung nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Er hatte sich ja auch aufgeregt, obgleich er nicht zu jenen Menschen gehörte, die immer gleich das Schlimmste vermuten. Er ließ jetzt den Wagen ausrollen. Von Nebelschwaden verhüllt war auch das Haus, das sie dann betraten, aber er hatte, bevor er wegfuhr, alle Räume erhellt. Wärme hüllte sie ein. Eine gemütliche Diele im bäuerlichen Stil sah Miriam, als sie durch die Tür trat, die er aufgeschlossen hatte. Eine etwa sechzigjährige Frau erschien in der gegenüberliegenden Tür.
»Endlich«, sagte sie erleichtert. »Ich war schon bange.«
»Tante Hanne!«, rief Carry aus und fiel ihr um den Hals.
»Endlich bist du da, mein Kleines«, sagte die Frau zärtlich, und ihr herbes Gesicht wurde weich.
Sie musterte Miriam dann kurz und forschend. Mit übersprudelnder Schnelligkeit wurde sie von Carry aufgeklärt, wie sie Miriam kennenlernt hatte, und Miriam erfuhr, dass Tante Hanne die Schwester von Jonas Hennekes Mutter war, die jetzt in seinem Haus lebte.
»Papi hat nichts davon geschrieben«, sagte Carry.
»Es sollte eine Überraschung für dich sein. Schließlich muss sich doch jemand um dich kümmern«, erwidert Jonas.
»Ich wäre doch besser in ein Hotel gegangen«, sagte Miriam zögernd.
»Aber warum denn? Wir haben genug Platz«, sagte Hanne. Miriam bemerkte, dass Jonas sie darauf erstaunt ansah.
Es ergab sich alles wie von selbst. Ein gedeckter Tisch erwartete sie, und Köstlichkeiten, wie Miriam sie schon lange nicht mehr vorgesetzt bekommen hatte.
Ein silberner Leuchter mit drei Kerzen löste das helle Licht der Deckenlampe ab und ließ alle Gesichter entspannter erscheinen.
Carry sprach von der Angst, die sie ausgestanden und über die ihr Miriam hinweggeholfen hatte. Von der Nonna sprach sie nicht. Sie war müde. Man sah es ihr an. Gegessen hatte sie wie ein Spatz.
»Du musst jetzt mal richtig schlafen«, sagte Tante Hanne.
»Und wir trinken vielleicht noch ein Glas Wein, Frau Dr. Perez?«, schlug Jonas vor.
Miriam ließ sich treiben. Ihre Nerven waren jetzt bis zum Äußersten gespannt. Sie hätte, obgleich sie übermüdet war, nicht einschlafen können, und dann wären wieder die Depressionen gekommen, denen sie entfliehen wollte.
Gern«, erwiderte sie. »Ich möchte mich sehr herzlich für Ihre Gastfreundschaft bedanken.«
»Ich bin froh, dass du mitgekommen bist, Miriam«, sagte Carry. »Wir dürfen uns doch nicht aus den Augen verlieren. Zum ersten Mal habe ich eine Freundin, eine richtige Freundin.« Sie bedachte wohl gar nicht, dass Miriam mehr als doppelt so alt wie sie war.
Heiße Zärtlichkeit durchflutete sie, als Carry ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange drückte.
»Ich bin sehr froh, dass du deinen Papi wieder hast«, sagte sie leise.
»Ich auch, aber auch, dass wir uns kennenlernten, Miriam.« Man merkte, wie gern sie den Namen aussprach.
Dann war Miriam eine Zeit mit Jonas Henneke allein. Er räusperte sich, und auch sie kämpfte gegen verständliche Hemmungen an. Es passierte einem schließlich nicht jeden Tag, dass man sich auf solche Weise kennenlernte.
»Ich habe Ihnen sehr zu danken, Frau Dr. Perez«, sagte Jonas leise. »Ich hatte mir schon die bittersten Vorwürfe gemacht, dass ich meine Tochter nicht abgeholt habe, aber ich hatte gerade sehr wichtigen Auslandsbesuch,