In Dingsda. Johannes Schlaf
auf die dunklen Fenster, und mir ist, wie damals immer, als müßte auf einmal von drinnen heraus aus der grabesstillen, feuchtkühlen Finsternis ein weißer Totenschädel durch die blinden, spinnwebüberzogenen Scheiben grinsen. Ich schreite auf das massive Eisengittertor zu. Wie oft, mit einer, war ich da hindurchgeschritten. – Es ist recht rostig geworden. Wie ich auf die Klinke drücke, kreischt ein Ton schrill und scharf in die sonnenheiße Mittagstille. Es ist zugeschlossen. Hier ist kein Eingang mehr. Ich gehe ein Stück die Mauer hin und finde ein neues, sauberes Tor neben einem neuen Leichenhause.
Ich schreite hindurch, und da merk ich erst, daß ich noch immer diese dumme Zigarre im Munde habe. Schnell laß ich sie hinter meinem Rücken zu Boden gleiten. Ein unerklärliches Gefühl von Scham, Angst und Sehnsucht überkommt mich, und zitternd, mit klopfendem Herzen tret ich ein. Mir ist, als sollt ich in den nächsten Augenblicken von jemand, von einer verhört werden, als sollt ich Rechenschaft ablegen über all die Jahre. –
Kein Mensch da. Ich bin ganz allein auf dem weiten, stillen, sonnigen Friedhof.
An dem halbversunkenen, regenverwaschenen Kapellentor schleich ich vorbei, unwillkürlich einen Augenblick auf den Zehen. Es ist hier schattig von Bäumen, und das alte Gemäuer haucht einen kühlen Moderduft aus.
Ich sehe rechts hinüber. Der alte Ahorn. Da ist das Erbbegräbnis. –
Nein! Ich kann noch nicht gleich so hingehen. Es würgt mir in der Kehle, und es ist, als ob mir die Augen feucht würden. Ein so dummes, sonderbares Gefühl. Die ganzen Jahre her: nein, wohl kaum ein einziges Mal ist mir so zumute gewesen. –
Ich gehe vorbei und schreite zwischen den Gräbern entlang die gelbsandigen, buchsbaumumfaßten Wege hin. Die Sonne blinkert auf der Goldschrift eines Marmorsteins. Überall Grabmäler. Hohe, niedrige, breite, schmale. Uralte, sargähnliche; grünübermoost. Eine Säule mit einem goldumfransten, steinernen Mantel drüber. Zwei verschlungene Hände. Zwei umgekehrte Fackeln, gekreuzt. Eine vergoldete Schlange, die sich in den Schwanz beißt. »Das Symbol der Ewigkeit«, hatte sie mich damals belehrt, als sie mich fast täglich mit hierher nahm und ich über die grünen Gräber weg nach den bunten Schmetterlingen haschte, den Admirals, den Trauermänteln, Totenköpfen und den gelben Buttervögeln … Dort eine wetterverwaschene Grabschrift. Naive Verse, die mit dem »Wiedersehen da drüben« trösten. Die alten, dunkelgrünen Lebensbäume und die hellgrünen Trauerweiden. Birken und Tannen. Goldlack und fliegendes Herz. Rosen und Nelken und Jelängerjelieber. Dazwischen verblichener, silbergrauer Flor um einen welken Kranz. Blumen und Grün, überall Blumen und Grün in der bienensummenden, duftschweren Mittagschwüle. –
Hier standen die alte Mauer und die Pflaumenbäume. Wie oft hatte ich in den Ästen gehockt, während sie da drüben auf der grüngestrichenen, sauberen Lattenbank unter dem Ahorn vor einem Grabe saß …
Und hier, an dieser Stelle, muß es gewesen sein, wo einmal eine kleine Schar Leute im Kreise um etwas herumstand. Es war ein Mann, lang und starr über ein Grab hin. In der Hand hatte er eine Pistole, und da, wo der Kopf sein mußte, hatten sie ihm eine blaue, verwaschene Schürze übergedeckt … Es fällt mir wieder ein. – Hier die Mauer, an der er dann eingescharrt wurde. Drüberhin kann man weit über die Felder und Hügel hinsehen. – Alles streicht an mir vorbei wie im Traume; und endlich steh ich unter dem Ahorn und sinke auf einer alten, regenverwaschenen Bank nieder. Sie ist wacklig und hier und da ausgebessert.
Vor mir drei efeuüberwucherte Gräber und ein schlichter Sandstein in Form einer aufgeklappten Bibel. Auf dem einen Blatte ein Bibelspruch, auf dem anderen ein Name und ein paar Daten. Und da drunter liegen ein paar morsche, braungraue, schmutzige Knochen und ein goldenes Ringelchen … Weiter nichts! –
Du?… Das bist du?…
Und doch – Was, »und doch«? – Ja, und doch ist etwas so lebendig in mir: all diese Erinnerungen.
Wie wunderlich das ist!
Alle die Erinnerungen von dem, damals, da unten zwischen den grünen Bäumen und roten Dächern; und von dem hier oben, wenn ich hier neben ihr saß in meinem blauen Kittelchen und an ihrem guten Gesicht hing. –
Eine kommt nach der anderen, und … allmählich werd ich so wunderbar müde von dem einschläfernden Bienengesumme ringsum und der warmen Sonne und dem Blumenduft und dem leisen, wispernden Rauschen über den ganzen Friedhof hin, so wunderbar müde …
Als ich nachher wieder draußen vor der Kapelle stand, fühlt ich mich sehr frisch und heiter. Ich summte sogar vor mich hin. So entschlossen war ich, beinahe übermütig. – Zwei Männer kamen mir entgegen, die Friedhofgasse herauf. Sie bogen um die Ecke und gingen an den Scheunen hinunter. Der eine kam mir so bekannt vor.
Donnerwetter! War das nicht der »lange Hirsch«?!
Jawohl! Aber er hatte recht gemischtes Haar bekommen. So die Couleur »Kümmel und Salz« … Er schlenkerte immer noch so mit den Armen, wenn er sprach.
Ich sah ihm nach und lachte.
Der einzige Bekannte, den ich wiedergetroffen hatte.
Er war ein Allerweltsmacher. Sozusagen der Spaßmacher der ganzen Stadt, mit bei allen dummen Streichen. Oft hatte er schönes Geld; aber dann vertrank er’s bis auf den letzten Pfennig, denn er konnte kein Geld leiden.
Einmal hatte ich ihn, hoch zu Pferde, in einer kakelbunten, phantastischen Uniform, einen dreieckigen Hut mit einem riesigen Federbüschel auf dem Kopfe, vor einer aufgeputzten Schar unter Trommel- und Pfeifengetön über den Markt zum Tore hinaus in die Berge reiten sehen. Es war irgend so ein Frühlingsspiel.
Der lange Hirsch hatte mich damals immer sehr interessiert.
————
Gegen Abend saß ich wieder auf der Bahn. Vor mir, in der Richtung, in welcher der Zug fuhr, lag bereits das Abendrot am Horizont hin über den Feldern.
Ich saß ganz allein im Coupé. Ich lehnte mich zurück, drückte mich in die Ecke und kniff die Lippen und Augen zusammen, um die Empfindungen im Zaum zu halten, die in mir umherrumorten.
Ich sah ein anderes Abendrot. Breit, qualmig von Kohlendunst, sich in den blaßblauen Himmel verlierend, und hohe blaugraue Häusermassen schieben und zacken sich breit hinein, und ich höre ein Rauschen und Brausen, rastlos lockend wie Meeresbrandung. Weiße elektrische Monde seh ich, breite Straßen mit der Pracht zahlloser Schauläden, wie aus Licht gewebt, rollende Wagen und alle die Menschen, diese sonderbaren, unruhigen, hastenden, hoffenden Menschen …
Noch eine Weile will ich mich hier draußen im Lande herumtreiben, wo die Welt so still und langsam geht.
Wie lange aber wird es dauern und ich muß wieder hin. Ich muß, und sollt ich ersticken in diesem rastlosen, unbarmherzig vorwärtstreibenden Strudel. Ich muß. – Die Sehnsucht wird mich treiben. Die Sehnsucht? Wonach?…
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